aus Neue Zürcher Zeitung 24. 6. 06
Der Blick auf die Welt
Francesco Petrarca und Jan van Eyck – die Entstehung der Landschaftsmalerei aus dem Geist des Nominalismus 
Von Karlheinz Stierle
Das Erscheinen der Landschaft in der Malerei des 15. Jahrhunderts markiert eine Schwelle, die sich weder als Bruch mit dem sogenannten Mittelalter noch als Rückkehr zur Antike zureichend erfassen lässt. Die Landschaft als Ausdruck einer neuen Weltzuwendung beruht auf «mittelalterlichen» Voraussetzungen, die die neuen Landschaftsbilder überschreiten, ohne die sie aber auch nicht möglich geworden wären.
In
 seinem vielbeachteten Essay «Landschaft» (1974) hat Joachim Ritter 
versucht, das Wesen der neuzeitlichen Landschaftserfahrung auf den 
Begriff zu bringen. Der zentrale Satz dieser gedankenreichen Bemühung um
 das Wesen der modernen Landschaftsauffassung lautet: «Natur als 
Landschaft ist Frucht und Erzeugnis des theoretischen Geistes.» Darin 
verknüpfen sich zwei Thesen, die sich wechselseitig erläutern: 1. 
Landschaft ist eine Erscheinungsweise von Natur im Gegensatz zu Kultur. 
2. Natur ist als Landschaft nicht einfach gegeben, sie ist ein Produkt, 
und zwar «des theoretischen Geistes».
Einsatzpunkt
 von Ritters Überlegungen ist der berühmte Brief an den Pariser 
Theologen Dionigi di Borgo San Sepolcro am Anfang des 4. Buchs der 
«Familiares». Petrarca berichtet von
 der Besteigung des Mont Ventoux, die er am 26. April 1335 gemeinsam mit
 seinem Bruder unternommen habe. Für Ritter steht Petrarca, auf dem 
Hochplateau des Berges angekommen und das faszinierende Schauspiel 
(«spectaculum») der sich bis zu den fernen Horizonten reichenden 
Landschaft wahrnehmend, in der Tradition der griechischen theoria als
 einer «anschauenden Betrachtung». Petrarca, wie Ritter ihn sieht, 
«ersteigt, alle praktischen Zwecke hinter sich lassend, den Berg, um auf
 dem Gipfel, getrieben allein von dem Verlangen zu schauen, in freier 
Betrachtung und Theorie an der ganzen Natur und an Gott teilzuhaben». 
Die epochale Bedeutung dieses Augenblicks und dieses Akts läge dann darin, dass Petrarca auf der Höhe des Ventoux erstmals Natur als Landschaft erfahren hätte und diese hier erstmals dem theoretischen Geist entgegengetreten wäre. Die Antike machte die Erfahrung der Natur, nicht aber der Landschaft. Deren wahre Stunde scheint Ritter erst gekommen, als die Naturwissenschaft sich der Natur bemächtigt und diese Unterwerfung die Möglichkeit einer interesselosen Naturbetrachtung freisetzt, die sich jetzt als Betrachtung der Landschaft konkretisiert.
Petrarca
 hat zweifellos am frühesten die Erfahrung von so etwas wie Landschaft 
gemacht und vielfältig dargestellt. Er markiert damit den Beginn einer 
Erfahrung, die in der Malerei des 15. Jahrhunderts zu einer triumphal 
ins Bild gesetzten neuen Erschlossenheit der Welt wird. Aber was sind 
die gedanklichen Voraussetzungen dafür, dass überhaupt Welt zur 
Landschaft werden kann? Was musste geschehen, dass Landschaft in den 
Horizont der Sichtbarkeit trat und diese Sichtbarkeit im Medium der 
Sichtbarkeit, der Malerei, zu ihrer Darstellung kommen konnte?
FÜLLE UND VIELFALT DES EINZELNEN 
Die
 Panoramalandschaft, auf die von der Höhe des Mont Ventoux Petrarcas 
Blick fällt, ist nicht, wie Ritter meint, einfach Natur, sondern ein 
unendliches Zusammenspiel von Natur und menschlicher Kultur. Für Ritter 
sucht Petrarca bei seiner Betrachtung der Welt Teilhabe «an der ganzen 
Natur und an Gott». Dies ist Petrarcas Text nicht zu entnehmen. Im 
Gegenteil, statt des grossen, oben und unten, sinnliche und göttliche 
Welt umfassenden Ganzen eines der theoretischen Betrachtung sich 
offenbarenden Kosmos sieht Petrarca vor allem die unendliche Fülle des 
Einzelnen. Das Eine, zu dem Augustinus ihn im imaginären Zwiegespräch 
des «Secretum» führen möchte, zerfällt ihm in unabsehbare Vielfalt.
Es
 scheint, als gebe es eine noch immer nicht zureichend erschlossene 
Affinität zwischen Petrarca und der von Paris ausgehenden neuen 
philosophischen Bewegung des Nominalismus, die in Wilhelm von Ockhams 
philosophischer Legitimierung des Einzelnen und Besonderen ihren 
eigentlichen Zielpunkt hat. Petrarca, der sich lebhaft für die neuesten 
Entwicklungen der Pariser Philosophie und Theologie interessierte, hatte
 wohl keine Mühe, sich mit der neuesten Schulrichtung der Pariser 
Philosophie vertraut zu machen.
Das Wirkliche ist das Einzelne: «Omnis res extra animam est realiter singularis et una numero.»
 ( Jedes Ding ausserhalb der Seele ist in Wirklichkeit einzeln und eins 
an der Zahl.) Der Satz aus Ockhams «Liber sententiarum» ist 
symptomatisch für eine neue Sicht der Welt. Während aber die sich immer 
noch in scholastischen Bahnen bewegende Philosophie des Nominalismus die
 Erfahrung des Einzelnen allgemein postuliert, ist die Signatur von 
Petrarcas vielgestaltigem Werk die Erfahrung des Einzelnen in seiner 
unabsehbaren Vielfalt. Petrarcas Welt ist nicht ein wohlgeordneter 
Kosmos, sondern ein Meer der Kontingenz.
EINZELDINGE IM WIDERSTREIT
Davon
 legt ein Werk das beredteste Zeugnis ab, das Petrarcas frühester 
europäischer Erfolg war und das heute so gut wie vergessen ist, sein «De
 remediis utriusque fortunae» (Über die Heilmittel gegen Fortuna in 
beiderlei Gestalt). Insbesondere die Einleitung des zweiten Teils, die 
unter dem heraklitischen Motto «Omnia secundum litem fiunt» (Alles ist 
im Kampf) steht, ist die grandiose Evokation eines Schauplatzes, auf dem
 alle Einzeldinge in unablässigem Widerstreit begriffen sind. Die 1532 
in Augsburg erschienene deutsche Übersetzung fasst die Essenz von 
Petrarcas Betrachtung des Kampfs aller Dinge gegeneinander zusammen 
unter dem Diktum:
Alls was auff Erden schwebt und lebt, Je eins dem andern widerstrebt. 
Unüberhörbar
 ist in dem «je eins» die zentrale Erfahrung der Singularität 
vernehmbar, die Ockhams Nominalismus zur philosophischen 
Zentralkategorie gemacht hatte und die bei Petrarca in einem neuen 
Diskurs der Singularität und Pluralität ihre Sprache findet. Die 
Freisetzung des Singulären entkleidet die Welt ihrer Bindung an das 
Exemplarische, in dem Einzelnes und Allgemeines sich durchdringen, aber 
auch einer vertikalen Seinsordnung, die sich von den niedersten 
Seinsregionen stufenförmig bis zu der erhabensten Sphäre des dreieinigen
 Gottes erhebt. Die Priorität des Besonderen vor dem Allgemeinen gibt 
Ersterem das Faszinosum der bestürzenden Neuheit, aber auch das 
Bedrängende einer unabsehbar gewordenen Präsenz des Vielfältigen. 
Diese radikal neue, durch keine theoria mehr in Schranken gehaltene Erfahrung scheint der Hintergrund zu sein, auf dem erst die Petrarcasche Entdeckung der Landschaft, wie sie im Ventoux-Brief zur Darstellung kommt, ihren akuten Sinn erhält. Was Petrarca jenseits aller Planung und Erwartung von der Höhe des Mont Ventoux erblickt, ist nicht Natur, schon gar nicht eine kosmische Ordnung, sondern Vielheit des Einzelnen, in die Schwebe gebracht als ein sich bis zum fernen Horizont erstreckender Teppich – und zwar vermöge des Blicks, der subjektiv das Einzelne aus seiner Vereinzelung zu einer Kohärenz neuer Art erlöst. Das Unge-heuerliche dieser neuen Erfahrung lässt Petrarca zur stärksten Formulierung greifen: «obstupui» (ich staunte).
Diese radikal neue, durch keine theoria mehr in Schranken gehaltene Erfahrung scheint der Hintergrund zu sein, auf dem erst die Petrarcasche Entdeckung der Landschaft, wie sie im Ventoux-Brief zur Darstellung kommt, ihren akuten Sinn erhält. Was Petrarca jenseits aller Planung und Erwartung von der Höhe des Mont Ventoux erblickt, ist nicht Natur, schon gar nicht eine kosmische Ordnung, sondern Vielheit des Einzelnen, in die Schwebe gebracht als ein sich bis zum fernen Horizont erstreckender Teppich – und zwar vermöge des Blicks, der subjektiv das Einzelne aus seiner Vereinzelung zu einer Kohärenz neuer Art erlöst. Das Unge-heuerliche dieser neuen Erfahrung lässt Petrarca zur stärksten Formulierung greifen: «obstupui» (ich staunte).
ÄSTHETISCHE ERFAHRUNG
Petrarcas
 Blick auf die Welt ist rein innerweltlich, während er die Erfahrung des
 Überwirklichen, ganz Augustinus folgend, in die Innerlichkeit oder 
Ausserweltlichkeit des Gedächtnisses verlegt. Petrarcas Erfahrung der 
Landschaft geht aber in der blossen Wahrnehmung von Innerweltlichkeit 
nicht auf. Die Verknüpfung des Einzelnen in der Wahrnehmung verdankt 
sich nicht mehr der Faktizität, sondern der weltverwandelnden Kraft des 
subjektiven Blicks. Landschaft ist nie sie selbst, sie ersteht erst in 
ihrem Wahrgenommensein. Erst der Blick setzt Nähe und Ferne, aber auch 
den Ausschnitt der Wahrnehmung. In ihm vereinigen sich die Daten des 
vielfältig Einzelnen zu einer Totalität zweiter Ordnung, die der Macht 
des welterschliessenden Blicks entspringt.
Nur so, in der je einzelnen Blicknahme, kann aber auch die zur Anblickhaftigkeit zusammentretende Landschaft ein Maximum ihrer Selbstbezüglichkeit erreichen und eine innere Pluralität, ja Polyphonie gewinnen, die die Landschaft erst zu einer ästhetischen Erfahrung macht. Nicht zufällig steht die Wahrnehmung landschaftlicher Polyphonie mit der Erfindung polyphoner Musik in einem epochalen Zusammenhang.
Nur so, in der je einzelnen Blicknahme, kann aber auch die zur Anblickhaftigkeit zusammentretende Landschaft ein Maximum ihrer Selbstbezüglichkeit erreichen und eine innere Pluralität, ja Polyphonie gewinnen, die die Landschaft erst zu einer ästhetischen Erfahrung macht. Nicht zufällig steht die Wahrnehmung landschaftlicher Polyphonie mit der Erfindung polyphoner Musik in einem epochalen Zusammenhang.
Landschaft im modernen Sinn, wie sie in Petrarcas Ventoux-Brief erstmals in Erscheinung tritt, setzt die Entbindung der Landschaftselemente aus ihrem funktionalen Zusammenhang und damit die Entdeckung der Landschaft als Erscheinung der Vielfalt der Welt voraus. Es ist die zusammenhangsetzende, raumkonstituierende Macht des Blicks vom erhabenen Standort, die dem Erblickten eine Selbstbezüglichkeit neuer Art verleiht. Was geschieht, wenn die Erfahrung des freigesetzten Vielfältigen Bild wird, lässt sich bei dem Maler erkennen, der die Möglichkeiten der Bildwerdung der Landschaft am tiefsinnigsten durchdacht und am kunstreichsten ins Werk gesetzt hat und ohne den die Entwicklung der Landschaftsmalerei im 15. Jahrhundert nicht denkbar wäre, Jan van Eyck.
An
 Jan van Eycks wohl schon vor 1420 entstandener Miniatur der Taufe 
Christi durch Johannes den Täufer im Turin-Mailänder Stundenbuch (Turin,
 Museo civico) und seinem etwa 1430 gemalten Bildnis des Kanzlers Rolin 
(Louvre) wird die neue Landschaftskonzeption besonders deutlich. Die 
Darstellung der Taufe Christi, eine Bas-de-page-Miniatur von kleinstem 
Format zur Miniatur der Geburt Johannes des Täufers, ist für den 
heutigen Betrachter in ihrer landschaftlichen Tiefenwirkung und ihren im
 Wasser sich spiegelnden, fein abgestuften Lichteffekten von 
erstaunlicher Modernität.
MODELL-MINIATUR
Die Sonne, die als weisse Taube ihre Strahlen auf die Gruppe des Täufers und des im Wasser stehenden Christus richtet, ist zugleich die wirkliche Sonne, deren Licht mit seinen Schatten und Wasserspiegelungen über der ganzen Landschaft liegt. Die Landschaft setzt sich von ihrem Sinnzentrum, der Taufe Christi, frei und gewinnt in Tiefe und Breite ein Eigenleben als Vergegenständlichung eines einheitstiftenden Blicks, der das in mikroskopisch kleinen Einzelheiten sich manifestierende Vielfältige der Landschaft in die Schwebe bringt und das Sinnzentrum wie ein akzidentielles Geschehen inmitten einer dyna-misch bewegten Welt erscheinen lässt. So steht diese Landschaftsminiatur oder Miniaturland-schaft in der unauflösbaren Spannung zwischen einer offenen Landschaft als Schauplatz des Einbruchs des Überwirklichen in die Welt des unendlich Vielfältigen und der Bindung des Vielfältigen an eine Ordnung, deren Evidenz nur noch eine ferne Erinnerung zu sein scheint.
Jan
 van Eycks Modell einer neuen Landschaftskonzeption aus dem Geist des 
Nominalismus findet ihre grandiose Einlösung mit dem Bild des Kanzlers 
Rolin, dem in der intensiven Bibelmeditation die Erscheinung der 
Gottesmutter mit dem Jesuskind zuteil wird. Auch hier ist, durch eine 
geniale Bilderfindung, die Epoche machen sollte, das religiöse 
Sinnzentrum zugleich gesetzt und ausser Kraft gesetzt. Denn wenn der 
Betrachter sich von dem betenden Kanzler im Vordergrund und der ihm 
erscheinenden königlichen Gottesmutter mit dem Jesuskind löst, so fällt 
sein Blick durch drei von zwei freistehenden Säulen abgeteilte 
Säulen-bogen auf eine weit offene Landschaft, deren ferner Horizont von 
der im hellsten Licht liegenden Alpenkette gebildet wird. Im mittleren 
Bogen erscheint ein breiter, von fern her-kommender Fluss, über den eine
 Brücke führt; sie verbindet eine reiche gotische Stadt mit einem 
bescheidenen Dorf oder einer Vorstadt auf der anderen Seite.
 
Hat
 der Betrachter sich einmal diesem Blick überlassen, wird er wie von 
einem Sog erfasst, hinausgezogen in eine offne Landschaft, in der er 
sich in einer unübersehbaren Fülle der Einzelheiten verlieren kann. Er 
kann sich aus diesen lösen und das Ganze der Landschaft erfassen, doch 
muss er sich wiederum auch von dieser lösen, wenn er im Blick des 
betenden Kanzlers die Gottesmutter erblicken will. So macht der 
Betrachter die Erfahrung inkompatibler Blickrichtungen und mit ihnen des
 inkompatiblen Verhältnisses von Hinwendung zur religiösen Innerlichkeit
 und Erfahrung der Erschlossenheit der Welt.
CHRISTUS AUF GOLGATHA
Kaum
 Zweifel dürfte darüber bestehen, dass Jan van Eyck die Bilddarstellung 
des gekreuzigten Christus auf Golgatha inmitten einer Landschaft 
erfunden hat, die sich zur Weltlandschaft weitet. Obwohl das van 
Eycksche Original verloren zu sein scheint, spricht eine ganze Familie 
von Bildern des Kruzifixus mit Blick auf eine weite Landschaft eindeutig
 die Bildsprache van Eycks. Kreuz und Kreuzestod stehen gegen die 
Indifferenz der Welt in ihrer Vereinzelung, die als Einheit der 
Landschaft sich allein dem Betrachter darbietet. Er löst sich aus dem 
Anblick der Vielfalt und vermag dennoch nicht mehr den Kreuzestod als 
alleiniges Sinnzentrum zu erfahren.
Die
 in Vereinzelung zerfallende Welt, die der Blick in die Schwebe eines 
allein noch durch den Blick selbst garantierten Ganzen bringt, wurde von
 Petrarca erstmals aus der Abstraktheit eines 
scholastisch-nominalistischen Theorems in die Sphäre sinnlicher 
Anschaubarkeit gehoben. Aber es ist Jan van Eyck, der als Erster die 
Erschlossenheit der Welt als Landschaft zur Erfahrung des denkenden 
Auges gemacht und damit der Malerei des 15. Jahrhunderts ein 
unerschöpfliches Thema gegeben und aufgegeben hat. Gegenstand dieser 
neuen Malerei ist die Welt, nicht die Natur. In der Geschichte der 
Wahrnehmung und ihrer ästhetischen Steigerung ist damit ein Kapitel 
aufgeschlagen, das über antike theoria weit hinausführt und einen ästhetischen Spielraum eröffnet, dessen Möglichkeiten sich bis heute nicht erschöpft haben.
 
Karlheinz
 Stierle besetzte bis zu seiner Emeritierung den Lehrstuhl für 
Romanische Literaturen an der Universität Konstanz. Zu seinen letzten 
Publikationen gehört «Francesco Petrarca. Ein Intellektueller im Europa 
des 14. Jahrhunderts» (2003).
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