aus NZZ, 26. 10. 2013
Was uns der Schatten lehrt 
Eine Begegnung mit der in London tätigen Architekturfotografin Hélène Binet
Eine Begegnung mit der in London tätigen Architekturfotografin Hélène Binet
Der Architekturfotografin Hélène Binet kommt es
 nicht in erster Linie darauf an, ein Gebäude vollständig zu erfassen. 
Sie interpretiert es, wie eine Musikerin eine Komposition. Ihren Fotos 
wird gelegentlich eine Nähe zu Traumbildern nachgesagt. Und natürlich, 
sagt sie, sei sie selbst in jeder ihrer Aufnahmen enthalten. 
von Marion Löhndorf
Auch wenn darin fast nie Menschen 
zu sehen sind, sind ihre Aufnahmen doch nicht menschenleer: Der 
Betrachter ist eingeladen, die von Hélène Binet wiedergegebene 
Architekturlandschaft zu betreten und selbst zu erleben: «Aber ich mache
 keine absolute Aussage über das Bauwerk.» Binet glaubt, dass die 
Wiedergabe auch nur einer einzigen Figur in einer Foto das Bauwerk 
bestätige, und das möchte sie vermeiden. Manche Fotografen, wie etwa 
Lucien Hervé, den sie verehrt, seien «fast Reporter» gewesen. Sie aber 
arbeitet anders: «Ich bin mehr am ursprünglichen Konzept interessiert, 
am Traum des Architekten - etwas Immateriellem, als er das Gebäude zum 
ersten Mal imaginierte und es noch unscharf war. Das versuche ich in 
meiner Arbeit zu vermitteln.»
 
 
Theatralische Elemente 
Geboren wurde Hélène Binet 1959 in
 Sorengo im Tessin als Tochter französisch-schweizerischer Eltern. 
Aufgewachsen ist sie in Rom, geprägt von der klassischen Architektur. 
Sie war von früh auf umgeben von Künstlern wie Jean Petit, der mehrere 
Bücher über Le Corbusier schrieb. Ihre Eltern waren Musiker, ihr 
Grossvater der Komponist Jean Binet. Sie studierte Fotografie am 
Instituto Europeo di Design in Rom. Ihre Zwischenstation als 
Theaterfotografin am Grand Théâtre de Genève mag Spuren in ihrem Sinn 
für theatralische Elemente in der Architektur hinterlassen haben. Dann 
kam sie nach London, begann Architektur zu fotografieren, angeregt durch
 ihren Mann, den Architekten Raoul Bunschoten. Dieser stellte sie Daniel
 Libeskind und John Hejduk vor, der ihr Mentor werden sollte. An der 
einflussreichen Architectural Association School of Architecture (AA) 
traf sie viel später andere gefeierte Architekten, darunter Zaha Hadid 
und David Chipperfield.
 Atmosphärisch profitierte sie von der investigativen Neugier und Aufbruchstimmung in der Architekturszene der 1980er Jahre. Der grosse Architekturlehrer der AA, Alvin Boyarsky, gab Hélène Binet die Gelegenheit, die Werke von Sigurd Lewerentz und Dimitris Pikionis zu fotografieren: Diese Arbeiten sollte Peter Zumthor eines Tages sehen. Sie führten dazu, dass er Binet, die Zumthor vorher nicht kannte, als Fotografin seines Werks verpflichtete. Dabei entstanden Fotografien, die der Liebe zum Schatten in Peter Zumthors Werk nachspüren, seiner eher introvertierten, sich nicht auf den ersten Blick erschliessenden Anmutung und der Belebung des Materials durch die Betonung des Sensorischen, die in Zumthors Werk eine so grosse Rolle spielt.
 Bei aller Investigations- und Interpretationslust ist das Gebäude der Stoff, von dem Hélène Binet ausgeht: «Ich arbeite wie ein Musiker. Die Noten gehören zum Komponisten einer bestimmten Zeit. Ich würde die Musik einer anderen Zeit nicht spielen wie zeitgenössische Musik. Ich möchte der Welt und dem Werk des Architekten nahe sein. Und ich benutze die Architektur nicht nur, um meine eigenen Gedanken auszudrücken. Ich spiele die Idee des Architekten, gebe ihr einen Klang und fühle dabei zugleich, dass es mein eigener ist. Ich interpretiere Zumthor und Zaha nicht auf dieselbe Weise.» Man könnte sagen, dass sie Zaha Hadids kühnen Linien leisere Noten abgewinnt und den asketischeren Entwürfen Peter Zumthors dramatische Akzente hinzufügt. In den vergangenen 25 Jahren fotografierte sie sowohl zeitgenössische Bauten von Raoul Bunschoten, David Chipperfield, Peter Eisenman oder Caruso St John als auch moderne und historische Architektur von Sverre Fehn, John Hejduk, Geoffrey Bawa, Dimitris Pikionis, Alvar Aalto, Sigurd Lewerentz, Le Corbusier oder Andrea Palladio. Libeskind sagte über ihren sensiblen, unsentimentalen Blick: «Jedes Mal, wenn Hélène Binet eine Foto macht, legt sie die Leistung, die Stärke, das Pathos und die Zerbrechlichkeit der Architektur bloss.»
 
Unterschiedliche Annäherungen 
Hélène Binet vertieft sich in das 
Werk der Architekten, mit denen sie sich befasst, nicht zuletzt mithilfe
 von Literatur und - weil sie seit mehr als zwanzig Jahren in dem Metier
 tätig und selbst mit einem Architekten verheiratet ist - wohl auch 
durch Osmose. Es geht ihr in ihrer Arbeit um die Berührung verwandter 
künstlerischer Sensibilitäten: «Die Annäherung ist jedes Mal eine 
andere. Manchmal bin ich als Erstes mit dem Gebäude konfrontiert, manche
 Architekten zeigen mir ihr Werk, und andere ziehen es vor, mit mir 
essen zu gehen. Einige begleite ich in ihr Studio, sehe, was ihn oder 
sie umgibt, die Bücher, die Farben, die Musik - man betritt dann eine 
Welt. Es ist nicht immer etwas Präzises, das sich da mitteilt, aber man 
erspürt etwas und baut darauf auf. Auch die Entwürfe anzusehen, ist 
schön.»
Hélène Binets eigene Werkstatt liegt im Norden Londons, in einem versteckten Hinterhaus in Kentish Town. Man betritt ihr Studio durch einen grün überwachsenen Innenhof, und die Grossstadt, die um die nächste Ecke noch dröhnt und schubst, kommt dort zum Stillstand. So, wie die Fotografin sich im Wesentlichen auf Schwarz-Weiss-Fotografie konzentriert, ist auch ihr Studio eine Welt in Sepiafarben, Grau, Braun und Schwarz.
Poesie der Nüchternheit 
Jeder Gegenstand - Arbeitstische, 
Regale voller Bücher und Fotos - ist auf die Arbeit bezogen, zeigt 
Spuren des Benutztwerdens und ist eben nicht zum Vorzeigen gedacht. Kein
 Objekt steht wie zufällig dort, keines, vom Holzstuhl bis zum Schemel, 
sieht schwerfällig aus: Es ist eine Poesie der Nüchternheit, wie sie 
sich auch auf manchen ihrer Fotos andeutet. Etwa in ihren Arbeiten über 
die Londoner Kirchen von Nicholas Hawksmoor (zirka 1661-1736), in denen 
sich Einflüsse vieler Kulturen spiegeln. An ihnen entdeckte sie 
geheimnisvolle, oft unbeachtete Winkel und betonte das Drama, die 
Strenge und die Ungewöhnlichkeit ihrer Strukturen. Da der Architekt, ein
 Freimaurer mit Vorliebe für heidnische Symbole, sich mit ungewöhnlichen
 Türmen - ein Erkennungsmerkmal seiner Arbeit - auf die Stadt beziehen 
wollte, begab sich Binet auf ihre Höhe und fotografierte sie von 
umliegenden Gebäuden aus. So machte sie die Dimensionen der 
Hawksmoor-Kirchen im Verhältnis zu ihrer Umgebung erfahrbar. «Christ 
Church in Spitalfields zum Beispiel hat verrückte Grössenverhältnisse. 
Und Nicholas Hawksmoor selbst war ein sonderbarer Charakter - auch damit
 wollte ich ein bisschen spielen», sagt Hélène Binet. Ihre 
fotografischen Befragungen seines Werks waren 2012 an der 
Architekturbiennale in Venedig und in einer Ausstellung des Somerset 
House in London zu sehen - in kühnen Grossformaten.
Konzentration, Vertiefung und Zuspitzung gehören zu den Merkmalen von Binets Arbeit. Ihren Aufnahmen ist nicht nur die Kunst des genauen Hinsehens eingeschrieben, sondern auch das Nachdenken über die Motive, über Architektur und Fotografie. Man hat ihren Fotos, den Ergebnissen nahezu meditativer Vertiefung, gelegentlich die Nähe zu Traumbildern nachgesagt. Je länger sie ein Gebäude, das sie fotografiert, in sich aufnehmen könne, desto besser, findet sie. So hielt sie sich im Kunstmuseum Kolumba, das Peter Zumthor für das Erzbistum Köln schuf, fast zwei Wochen auf, um den Bau in unterschiedlichen Licht- und Schattenverhältnissen an verschiedenen Tageszeiten zu erleben und kleine Dinge wie das Zusammenspiel zweier Materialien zu entdecken.
Zu dieser Arbeitsweise passt Binets Ablehnung praktischer und schneller Digitalfotografie: «Mit Film zu arbeiten, ist eine ganz andere geistige Erfahrung. Es ist teuer, es ist schwer - daher muss man vorbereitet sein. Es ist kostbar, und so muss man bei jeder Foto sagen können: Das ist der Moment! Jetzt! Ich glaube wirklich daran, dass die Seele der Fotografie ihre Beziehung zu einem einzelnen Moment ist. Und die Konzentration ist eine ganz andere. Das Licht verändert und bewegt sich ständig. Es ist wie eine Performance, besitzt Eigendynamik.»
 
Dass die Architekturfotografie 
sich mit dem in den vergangenen Jahren enorm gestiegenen Interesse an 
der Architektur verändert hat, begrüsst Hélène Binet: «Heute ist das 
Interesse an und das Wissen über Architektur sehr gewachsen. Das ist 
gut, denn die Architektur ist ein so wichtiger Teil unseres Lebens. Sie 
ist zugänglicher geworden. Ikonische Gebäude sind Reiseziele geworden, 
das Reisen selbst wurde einfacher, es gibt mehr Bücher zum Thema, mehr 
Fotografen. Viele arbeiten in hoher Qualität. Zugleich macht jeder 
Architekturinteressierte seine eigenen Fotos mit dem Smartphone. Kaum 
erhebt sich ein Gebäude nur ein paar Meter über den Boden - noch als 
Baustelle -, gibt es die ersten Fotos. Visuelle Information ist 
allgegenwärtig.» Beunruhigend findet Hélène Binet das nicht: «Früher 
wurde die Architekturfotografie fast als Teil der Arbeit betrachtet, 
Architekten wie Le Corbusier investierten viel in die Fotografie, die 
ihre Arbeit repräsentieren sollte. Sie mussten sich stärker darauf 
verlassen. Heute habe ich diese Verantwortung nicht mehr, denn eine Foto
 braucht nicht mehr alles über ein Bauwerk mitzuteilen. Das empfinde ich
 als befreiend. Ich kann mich auf meine Arbeit konzentrieren. Ich 
glaube, dass die Architekturfotografie unabhängiger wurde.»
Zu den Fotografen, die ihre Arbeit beeinflussten, gehören Lucien Hervé, László Moholy-Nagy und Judith Turner. Deren Werk lehrte sie in ihren Anfangsjahren, dass Architekturfotografie sehr reich sein kann. Denn natürlich will Binet mit ihrer Arbeit Aussagen treffen, die über die Architektur hinausgehen. «Ich mag die Stille und die Reduktion als Weg der Verbindung zu etwas Grösserem. Wenn zu viel Lärm um uns herum ist, wenn zu viel passiert, findet das nicht statt. Ich bin zwar nicht von der Reduktion um ihrer selbst willen fasziniert - aber sie erlaubt uns, eine einzelne Sache ganz genau wahrzunehmen.» Sie spricht von einem Observatorium in Jaipur - «nur ein kleiner Schatten kann uns mit dem Rest des Universums verbinden» -, von Peter Zumthors Therme Vals, einem Bau aus «Stein, Wasser und Licht», und seiner Bruder-Klaus-Kapelle auf einem Feld in Deutschland. Die Grösse eines Gebäudes rufe die erste und stärkste emotionale Reaktion hervor: «Wenn ein Objekt kleiner ist, gibt es fast eine physische Verbindung. Wenn es gross ist, habe ich immer das Gefühl, an einer anderen Stelle darin sein zu müssen.»
Schatten als Thema 
Der aufwendig gestaltete Bildband 
«Composing Space» (erschienen 2012 bei Phaidon in London) lädt zu einem 
Spaziergang durch das Werk der Fotografin und durch ein Stück 
Architekturgeschichte zugleich ein. Hélène Binet hat die 
Zusammenstellung und Auswahl selbst übernommen und damit das Buch 
gewissermassen kuratiert. Zwischentitel wie «Memory», «Materiality» und 
«Ground» lassen dem Betrachter Spielraum für die eigene Imagination - so
 wie ja auch ihr Werk eine subtile Balance zwischen formaler 
Geschlossenheit und Offenheit hält. Die vielen Schwarz-Weiss-Aufnahmen 
werden nur gelegentlich von Farbabbildungen unterbrochen: «Man 
betrachtet ein Gebäude und sieht, was es im Laufe eines Tages oder der 
Zeit tut; all diese kleinen Phänomene, die ein Bauwerk erzeugen kann. 
Eine Art, ein Gebäude zu sehen, ist die Farbe. Manchmal mag ich Farbe. 
Ich habe nicht die Absicht, etwas Obskures zu erschaffen. Aber wenn man 
reduziert, dann ist es, wie Aristoteles sagt: Man hört besser im 
Dunkeln.» Natürlich seien da auch die Schatten - ein grosses Thema in 
ihrer Kunst -, die sie als Abwesenheit von Energie mit der Stille 
vergleicht. Schatten könnten einen aber auch in die Irre führen, sagt 
sie, «weil man das Gefühl haben kann, dass man da noch etwas anderes 
sieht. In anderen Kulturen aber hat es diese Interpretation des 
Schattens schon immer gegeben: Schatten führten immer zu etwas anderem.»
Nota.
Das ist ja alles schrecklich maniriert. Sie fotografiert, als solle man nicht erkennen können, dass es sich um Häuser handelt. Sie hat ja auch eine Vorliebe für ArchitektInnen, die so bauen, als dürfte man nicht erkennen, dass es sich um Häuser handelt; und das ist des Schönen etwas viel. Wie konnte das der Rezensentin nicht auffallen?
JE
Nota.
Das ist ja alles schrecklich maniriert. Sie fotografiert, als solle man nicht erkennen können, dass es sich um Häuser handelt. Sie hat ja auch eine Vorliebe für ArchitektInnen, die so bauen, als dürfte man nicht erkennen, dass es sich um Häuser handelt; und das ist des Schönen etwas viel. Wie konnte das der Rezensentin nicht auffallen?
JE




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