Die Welt in ihrer ganzen Vielfalt  
Mit Joachim Patinir am Rheinfall - der enzyklopädische Anspruch seiner «Taufe Christi»
Mit Joachim Patinir am Rheinfall - der enzyklopädische Anspruch seiner «Taufe Christi»
von Felix Thürlemann
Patinirs Landschaftsgemälde, aus zahllosen, präzise beobachteten Details zusammengefügt, simulieren die Welt als Ganzes. Die um 1515-20 entstandene «Taufe Christi» birgt ein bisher unbeachtetes Motiv: die erste bildliche Darstellung des Rheinfalls.
Joachim Patinirs «Taufe Christi» im Kunsthistorischen Museum in Wien gilt als Hauptwerk des grossen niederländischen Landschaftsmalers. Das Thema ist nach der damals im Norden gültigen Formel dargestellt: Christus steht bis auf den weissen Lendenschurz nackt im Wasser; Johannes kniet am Ufer und giesst Christus aus der blossen Hand Wasser über das Haupt. Oberhalb des Täuflings erscheint in einer dunklen Wolke Gottvater, der die Geisttaube zu seinem Sohn sendet. Johannes erkennt man ein zweites Mal am linken Bildrand, wie er als Prediger dem jüdischen Volk das Kommen des Erlösers ankündigt. Auch Christus ist bereits vor der Taufe dargestellt. Er steht ganz allein in der Bildtiefe hinter dem Propheten und seinen Zuhörern und wartet auf sein Erlösungswerk. Etwa so lassen sich die handelnden Figuren beschreiben. Doch diese machen nur einen Teil des Werkes aus.
Wer vor der gemalten Tafel steht, erkennt als Bühne für die dargestellte biblische Episode eine weit ausladende, ungewöhnlich fein gegliederte Landschaft. Mit seinem einzigartigen Reichtum an prägnanten Details bietet das Gemälde den Betrachtern ein beinahe unerschöpfliches Sehvergnügen. Alles in dieser Landschaft wirkt echt und gleichzeitig bizarr übersteigert. Inmitten von sattgrünen Wiesen und dichten Büschen ragen mächtige grau-braune Felstürme auf, die mit ihren komplexen Schichtungen und den darin versteckten Gesichtern nicht nur Geologen zu faszinieren vermögen. Hinter dem riesigen Felsen, der die Hauptfigur zu verdoppeln scheint, dehnt sich ein unermesslich weites Plateau mit Hügeln und Bergen aus, das sich im blauen Dunst der weiten Ferne verliert. Getrieben vom Drang, möglichst viel von dem zu zeigen, was die sichtbare Welt ausmacht, schuf Patinir eine malerische Summe der Natur.
Rast auf der Flucht nach Ägypten
Man pflegt das von Joachim Patinir entwickelte Bildkonzept mit «Weltlandschaft» zu bezeichnen. Die besondere Leistung gerade dieses Malers bestand darin, zwei widersprüchlichen Aufgaben gerecht zu werden. Es gelang ihm, innerhalb eines beschränkten Bildgevierts einen kohärenten Blick auf die Welt zu simulieren und gleichzeitig diese in ihrer ganzen Vielfalt, als Bild des Ganzen, erfahrbar zu machen. Auch im Nahblick wird der enzyklopädische Zugriff deutlich: etwa am Beispiel der minuziös gemalten Tiere, die die Erde neben zahlreichen Menschen, die ihrer Arbeit nachgehen, bevölkern: durch die Echsen und Lurche, die sich um die Wurzeln des abgestorbenen Baumes links unten tummeln, den Hasen, der darüber aus der Höhle hoppelt, den Hirsch in der Bildmitte neben Christus oder den Fischreiher, der rechts am Ufer steht und dabei genauso ins Wasser starrt wie der Angler, der ihm gegenüber am Ufer sitzt.
Überhaupt zeigt das Gemälde - wie 
es die dargestellte Geschichte verlangt - viel Wasser. Ja, man könnte 
sagen, der eigentliche Akteur des Bildes ist nicht Christus, sondern der
 Fluss Jordan. Als schäumender Wasserfall stürzt er ins Bild hinein, um 
sich aber sogleich zu beruhigen. Glatt wie ein Spiegel breitet er sich 
in einem grossen weiten Bogen hinter dem Felsmassiv aus und bildet 
schliesslich am unteren Bildrand, vom Rahmen abgeschnitten, wie von ihm 
gestaut, eine Furt. Hier, dem Betrachter am nächsten, steht Christus im 
Wasser und empfängt vom Täufer das Sakrament.
Wiedererkennen 
Der Blick springt zurück auf das 
Motiv des Falls, mit dem der Jordan ins Bild hineinbricht. Diese beiden 
charakteristischen Felsbrocken inmitten des schäumenden Wassers 
erscheinen einem vertraut. Natürlich, es muss der Rheinfall sein. Die 
Bildformel hat sich eingeprägt, wurde sie doch von frühester Jugend an 
immer wieder aufgefrischt, wenn man mit den Eltern zusammen den 
regelmässigen Ausflug nach Neuhausen bei Schaffhausen machte, möglichst 
nach einer längeren Regenperiode, damit das Wasser auch kräftig schäumte
 und mächtig donnerte.
Landschaft mit der Flucht nach Ägypten
Landschaft mit der Flucht nach Ägypten
Genau so wie in der schönsten 
Jugenderinnerung schäumt das Wasser auch in Patinirs Gemälde rund um die
 beiden eng beieinanderstehenden Felsen. Hinter dem Katarakt erhebt sich
 wie in der Wirklichkeit der grosse Hügel mit dem Schloss Laufen, das 
freilich seine jetzige Form erst später, nach der Übernahme durch die 
Zürcher im Jahre 1544, gefunden hat. Die Darstellung des Rheinfalls im 
Wiener Gemälde von Joachim Patinir ist eine Premiere. Sie entstand mehr 
als zwanzig Jahre vor der ältesten bisher bekannten Wiedergabe, dem 
Holzschnitt in Sebastian Münsters ebenfalls 1544 erschienener 
«Cosmographia». Man könnte sich mit dieser Feststellung begnügen. 
Triptychon mit dem Hl. Hieronymus; lks. Taufe Christi
Doch mit der Benennung der Entdeckung ist es nicht getan. Die Darstellung ist als überraschend präzises visuelles Protokoll eines Naturphänomens für das frühe 16. Jahrhundert höchst ungewöhnlich, gerade auch wenn man sie mit dem später entstandenen, ornamental aufgefassten Holzschnitt vergleicht. Die Entdeckung des Rheinfall-Motivs in Patinirs Gemälde mit der Taufe Christi führt zu neuen Fragen. Ihre Beantwortung kann Auskunft darüber geben, wie der Antwerpener Maler die Welt gesehen hat.
Triptychon mit dem Hl. Hieronymus; lks. Taufe Christi
Doch mit der Benennung der Entdeckung ist es nicht getan. Die Darstellung ist als überraschend präzises visuelles Protokoll eines Naturphänomens für das frühe 16. Jahrhundert höchst ungewöhnlich, gerade auch wenn man sie mit dem später entstandenen, ornamental aufgefassten Holzschnitt vergleicht. Die Entdeckung des Rheinfall-Motivs in Patinirs Gemälde mit der Taufe Christi führt zu neuen Fragen. Ihre Beantwortung kann Auskunft darüber geben, wie der Antwerpener Maler die Welt gesehen hat.
Ausschneiden - wieder einfügen 
Wer die visuelle Formel 
«Rheinfall» gespeichert hat, schneidet, wenn er vor das Gemälde tritt, 
das Motiv des Wasserfalls vor der Folie des Schlosshügels als eine 
prägnante Bildkonfiguration aus ihm heraus, um es mit einer erinnerten 
Bildvorstellung oder mit anderen seither entstandenen Bildern zu 
vergleichen - seien diese gemalt, in Holz geschnitten, in Kupfer 
gestochen oder fotografiert. Der Maler aber ist den umgekehrten Weg 
gegangen. Er hat das Motiv in der Natur entdeckt, es zeichnerisch 
festgehalten und schliesslich in eine malerische Darstellung der Welt 
eingebaut.
Hieronymus in der Einöde 
Man kann sich vorstellen, wie 
Patinir in seinem Atelier, als er sich vornahm, eine grosse Landschaft 
mit dem Thema Wasser zu schaffen, sich an das Blatt erinnerte, das er 
während einer Reise in den Süden vielleicht schon etliche Jahre zuvor 
gezeichnet hatte. Er öffnete sein Skizzenbuch und entschied sich, die 
Erscheinung des Jordan in seinem Gemälde mit einem besonderen Ereignis 
zu verbinden: als Wasser, das in das Bild hineinstürzt. Das Motiv 
malerisch umzusetzen, um den Eindruck des Zischens und des Glänzens in 
der Sonne zu geben, war zweifellos nicht einfach. Es musste als Teil der
 grossen Welt mit dieser verbunden werden, und der rückwärtige Hügel mit
 dem Schloss musste in den Bildgrund, der sich bis zum fernen Horizont 
hin ausdehnte, integriert werden. Um dies zu bewerkstelligen, bediente 
der Maler sich eines raffinierten Tricks. Er machte aus dem einen Hügel,
 den er auf seiner Zeichnung festgehalten hatte, zwei: Vor die hohe, von
 der Burg bekrönte Kuppe, die sich mit ihrer klaren Silhouette vom 
Himmel abhob, setzte er zusätzlich einen kleineren Hügel, den er mit 
einem frei erfundenen Kirchenbau ausstattete. So war das von ihm zuvor 
isolierte Motiv wieder Teil der Welt, der von ihm erfundenen gemalten 
Welt.
Malerpilger und Naturforscher 
Patinirs Wasserfall hat keinen 
Namen. Er ist, anders als der Holzschnitt in Münsters Kosmografie, keine
 Illustration für einen bekannten, im Text beschriebenen geografischen 
Ort. Patinirs Darstellung des Rheinfalls ist das Zeugnis einer 
Entdeckung, die der Maler während einer Reise gemacht hatte - und Reisen
 gehörte offenbar zu seinem Leben. - Geboren wurde Joachim Patinir um 
1480 bei Dinant in Wallonien, der befestigten Stadt an der Maas mit 
ihren seltsam isolierten, hoch aufragenden Felsen direkt am Ufer des 
träg dahinfliessenden Stroms. Dieser Akkord aus ruhigem Wasser, flachem 
Land und steilen Bergen sollte Patinir prägen, und er prägt auch das 
Wiener Gemälde mit der Taufe Christi. 1515 gründete Patinir, der zuvor 
vermutlich in der Werkstatt von Gerard David in Brügge gearbeitet hatte,
 in der blühenden Handelsmetropole Antwerpen eine eigene Werkstatt und 
wurde Mitglied der Malergilde. Bald war er als Feinmaler und Spezialist 
für ungewöhnliche Landschaftsbilder bei reichen Sammlern so begehrt, 
dass er seine Werke immer grösser und thematisch immer anspruchsvoller 
anlegen konnte. Selbst vor dem mythologischen Thema mit Charon, der die 
Seele über den breiten Acheron übersetzt, schreckte er nicht zurück. 
  
Überfahrt ins Totenreich
Doch Patinir hat nicht nur gemalt und gelesen. Er muss Antwerpen und zuvor Brügge auch regelmässig verlassen haben, um die Welt in ausgedehnten Wanderungen zu erkunden. Nur weil sie selbst das Kondensat von Reisen sind, können Patinirs Bilder den Betrachter dazu einladen, sich in ihnen - wie in der wirklichen Welt - sehend zu bewegen.
Überfahrt ins Totenreich
Doch Patinir hat nicht nur gemalt und gelesen. Er muss Antwerpen und zuvor Brügge auch regelmässig verlassen haben, um die Welt in ausgedehnten Wanderungen zu erkunden. Nur weil sie selbst das Kondensat von Reisen sind, können Patinirs Bilder den Betrachter dazu einladen, sich in ihnen - wie in der wirklichen Welt - sehend zu bewegen.
Als Beleg für eine solche Reise 
galt bisher ein kleines Täfelchen der Sammlung Ruzicka im Kunsthaus 
Zürich aus Patinirs Hand, das die Entrückung der Maria Magdalena 
darstellt. Die Landschaft, in der das Wunder stattfindet, entspricht der
 Felsarena von La Sainte-Baume in der Provence mit der Grotte, in der 
die Büsserin dreissig Jahre verbracht haben soll, in einzelnen Details 
so genau, dass die Darstellung auf Autopsie zurückgehen muss. Die Grotte
 war ein beliebtes Pilgerziel, dies vor allem nachdem Franz I. 1516, ein
 Jahr nach dem Sieg bei Marignano, eine Dankwallfahrt dorthin gemacht 
hatte. - Es ist eher unwahrscheinlich, dass es die gleiche Reise war, 
die Patinir in den provenzalischen Pilgerort und nach Schaffhausen 
führte. Vermutlich hat Patinir den Rheinfall auf der Rückkehr aus 
Italien kennengelernt, vielleicht anlässlich einer Pilgerfahrt nach Rom,
 wie sie damals viele - unter ihnen auch viele Maler - einmal im Leben 
unternahmen. Bei der Rückreise in den Norden, nach dem beschwerlichen 
Gang über die Alpen, bot sich neben dem Landweg als Alternative die 
Schifffahrt über den Bodensee und den Rhein nach Basel und weiter nach 
Köln an. Auch der Florentiner Humanist Poggio Bracciolini hatte den 
Wasserweg gewählt, als er im Jahre 1417, während des Konstanzer Konzils,
 die heissen Quellen von Baden besuchte, um seine Arthritis zu kurieren.
 Poggios berühmter Brief mit der Schilderung der damaligen Schweizer 
Badesitten enthält auch die erste Beschreibung des Rheinfalls, die uns 
überliefert ist. Und er zeigt, was der Fall für die Schiffsreisenden 
damals bedeutete: Er war Anlass für eine Unterbrechung und für einen 
kurzen, aber ziemlich beschwerlichen Fussweg, der direkt am 
Naturschauspiel vorbeiführte.
Die Versuchung des Hl. Antonius
Die Versuchung des Hl. Antonius
Gesamtschau 
Offenbar nutzte Patinir die Zeit, 
bis die Fässer und Ballen alle auf das neue Boot verladen waren. Er 
setzte sich mit seinem Skizzenbuch in den Hang über dem Becken gegenüber
 dem Rheinfall und hielt das Naturschauspiel vor dem Hintergrund von 
Schloss Laufen in einer detaillierten Zeichnung fest. Die von Patinir 
daraufhin in sein Gemälde integrierte Ansicht sollte einzigartig 
bleiben. Denn bereits im 17.  Jahrhundert war der Blick auf den 
Rheinfall von dieser Position aus durch die Häuser, die man unterhalb 
der alten Mühlen zusätzlich auf die Felsen gesetzt hatte, verbaut. Wer 
sich heute dort niederlässt, wo der Maler sass, kann zwischen den 
Gebäuden bloss einen der beiden Felsen erspähen. Den Rheinfall aus der 
Perspektive, wie ihn Patinir gesehen hat, zeigt uns nur noch sein 
Gemälde mit der Taufe Christi im Kunsthistorischen Museum in Wien. Er 
ist integriert in eine Gesamtschau der Welt, die ihrerseits als Rahmen 
für die christliche Heilsgeschichte dient. Es sollte noch lange dauern, 
bis der Rheinfall zum ausschliesslichen Gegenstand zuerst von bildmässig
 aufgefassten grafischen Blättern und dann von malerischen Veduten 
werden konnte.
Prof. Felix Thürlemann lehrt Kunstgeschichte an der Uni Konstanz.
Der Untergang von Sodom und Gomorrha 
 Nota.
Natürlich ist Joachim Patinir der erst große Landschaftsmaler. Ihm dient die Landschaft aber nicht dazu, das Thema der Darstellung in den Hintergrund zu setzen und die ästhetische Seite des Gemäldes hervorzukehren; er erfindet seine Landschaften so, dass sie das Thema der Erzählung vertiefen und charakterisieren (und nicht nur illustrieren). Bei Claude Lorrain erscheinen die Menschen und was sie tun immer mehr bloß als Vorwand für ein Landschaftsstück, und da kann er ohne weiteres auch reale Landschaften porträtieren. Da ist Patinir Jahrhunderte von entfernt. Doch dass er die Landschaft beim Thema mitreden ließ, war ziemlich einzig.
JE


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