Nervöse Vorgänge  
Über kreative Prozesse, über Schreiben und Lesen sowie andere Hirnaktivitäten
Über kreative Prozesse, über Schreiben und Lesen sowie andere Hirnaktivitäten
von Arnaldo Benini  
Die kognitiven Neurowissenschaften haben Grenzen, aber sie versuchen sich auf ihre Weise der Frage zu nähern, wie Denken und Sprechen, wie Dichtung und Musik im Lichte von neuronalen Aktivitäten zu begreifen wären.
Die kognitiven Neurowissenschaften haben Grenzen, aber sie versuchen sich auf ihre Weise der Frage zu nähern, wie Denken und Sprechen, wie Dichtung und Musik im Lichte von neuronalen Aktivitäten zu begreifen wären.
Schreiben und Lesen sind nervöse Vorgänge, die einen grossen Teil der Hirnrinde beanspruchen. Vor etwa zwei Millionen Jahren sind Primaten durch die Evolution der präfrontalen Hirnrinde und der zerebralen Sprachzentren selbstbewusst geworden. Aus dem «wilden und staunenden Ungeheuer», von dem der Philosoph Giambattista Vico gesprochen hat, hat sich die menschliche Spezies entwickelt. Dank dem präfrontalen Gehirn denkt das menschliche Bewusstsein über sich selbst und die Welt mittels der «inneren» Sprache nach. Seither gibt es die kulturelle Evolution, zu der auch die Dichtung gehört. Die Reflexion ist ein linguistischer Vorgang, der sich in Arealen der präfrontalen Hirnrinde abspielt.
Schönheit und Schrecken
Die Sprachzentren verleihen nicht 
nur dem Denken eine Stimme, sondern auch den Gefühlen und den 
Phantasien. Das emotionale Leben in all seinen Ausprägungen ist beiden 
limbischen Systemen, die sich in der Mitte des Gehirns auf der Höhe der 
Schläfen befinden, zugeordnet. Sie sind mit den Zentren der Erinnerung, 
der Rationalität, der Sprache, des Zeitsinnes und der Raumwahrnehmung 
verbunden. Was diese Zentren «ausarbeiten», wird zur bewussten 
Erfahrung, wenn es in Form von elektrochemischen Informationen zur 
präfrontalen Hirnrinde gelangt. Die Informationen, welche die 
präfrontale Hirnrinde nicht erreichen, beeinflussen den Gemütszustand 
und die Reflexion, selbst wenn sie unbewusst bleiben. Die Mechanismen 
der Emotivität im limbischen System sind für den Sinn des Lebens und für
 das Verhalten ebenso wichtig wie jene der Rationalität, mit denen sie 
verknüpft sind.
Indem es sich zum Objekt des 
eigenen Nachdenkens macht, nimmt das Selbstbewusstsein die Komplexität, 
die Ambiguität, die Widersprüche, die Unsicherheiten, Schönheiten und 
Schrecken der Existenz wahr. Die Wechselfälle der Existenz wurden zuerst
 mündlich, dann, vor etwa viertausend Jahren, auch schriftlich erzählt. 
Aus den nervösen Mechanismen des Selbstbewusstseins entstanden Literatur
 und Poesie. Das Erschaffen und Erzählen von Geschichten und das 
Vergnügen, sie als Märchen, Erzählungen, Gedichte, Tragödien oder 
Dialoge zu hören oder zu lesen, entsprechen einer fundamentalen 
menschlichen Neigung. Literatur und Poesie oder auch die Musik sind 
nicht der Wahrheit verpflichtet. Das Gefühl, das die Kunst vermittelt, 
ist eine von der Rationalität und Moral ihres Inhalts unabhängige 
Erfahrung. Elegische und tragische Komponisten, witzelte Descartes, 
hatten desto mehr Erfolg, je mehr Tränen sie uns entlockten. Gelesene 
oder gehörte Gedanken können eine Biografie ändern. Ein Gedicht oder ein
 Musikstück kann ausdrücken, was man auf andere Weise nicht vermitteln 
kann. Eine Novelle oder ein Roman können mehr über das Leben sagen als 
ein Tatsachenbericht. 
Affektivität und Plastizität
Affektivität und Plastizität
Die Sprachzentren in der linken 
Hirnhälfte nehmen bis zum Alter von vierzehn Jahren mühelos Sprachen und
 Dialekte der Umgebung, in der man aufwächst, auf. Später benötigt das 
Erlernen einer Sprache Fleiss und Disziplin, und man beherrscht sie 
weniger gut als die Muttersprache. Eine Zweitsprache wird von 
Hirnzentren erworben, die hinter jenen für die Muttersprache liegen. 
Mehrsprachige Schriftsteller verwenden normalerweise nur eine Sprache 
für ihr literarisches Werk. Die nervösen Mechanismen der bevorzugten 
Sprache sind wahrscheinlich enger mit den Zentren der Affektivität und 
der Vernunft verknüpft als diejenigen anderer Sprachen, selbst wenn man 
diese perfekt spricht. Elias Canetti, der von den von ihm beherrschten 
Sprachen sowohl für die Belletristik als auch für die Essayistik Deutsch
 bevorzugte, erläutert die Gründe für seine Wahl in «Die gerettete 
Zunge», dem ersten Band seiner Autobiografie.
   
Beethoven, 1823. 
Claudio Magris lässt die Figur 
einer seiner Erzählungen («Das andere Meer») sagen, Griechisch und 
Deutsch seien «die beiden unverzichtbaren Sprachen, vielleicht die 
einzigen, in denen sich fragen lässt, wie die Dinge entstehen und wie 
sie vergehen». Die Umstände des Lebens können eine Sprache zur Qual 
werden lassen. Georg Steiner bezeugt, wie verzweifelt Paul Celan darüber
 war, dass er nur mit Deutsch, seiner Muttersprache, in die Tiefe seiner
 Seele vorzudringen vermochte, mit der Sprache jener, die seine Familie 
vernichtet hatten.
Der Stimulus des Zuhörens, Lesens 
und Schreibens schafft Verbindungen zwischen den Gehirnregionen des 
Sehens, des Gehörs, der Bedeutungserkennung, des Inhalts und des 
emotionalen Beiklangs der Wörter und beim Schreiben auch zwischen den 
motorischen Zentren der Hand- und Armmuskulatur. Es ist nicht 
verwunderlich, dass sich Handschriften voneinander unterscheiden und es 
äusserst schwierig ist, sie zu fälschen, denn es gibt kein Hirn, das 
gleich ist wie ein anderes. Die Verbindungen zwischen den verschiedenen 
Regionen der Hirnrinde sind desto schneller und effizienter, je 
plastischer das Gehirn ist. Die Plastizität des Gehirns besteht in der 
Fähigkeit, sich aufgrund von Erfahrungen, Gedanken und Vorstellungen zu 
ändern. Wörter und Sätze, Bilder, Gestalten, Beziehungen, Gedanken und 
Emotionen werden elektrochemisch verarbeitet und die Impulse an die 
zuständigen Regionen der Hirnrinde weitergeleitet.
«Die Sprache ist bedeutungsvoll, 
weil sie Gedanken ausdrückt, die sich auf etwas beziehen», sagt der 
Philosoph Wilfrid Sellars. Mit der gesprochenen und geschriebenen 
Sprache besitzt das Selbstbewusstsein nach einer Entwicklung, die 
Jahrtausende gedauert hat, die Instrumente, um sich selbst zu 
erforschen. Literatur und Poesie sind eine modulierbare Vermittlung des 
Bewusstseins, von der wir mehr lernen, als was uns Psychologie und 
Soziologie vermitteln. Die Schrecken des Krieges in den Schützengräben 
drangen dank Werken wie «Im Westen nichts Neues» von Erich Maria 
Remarque oder «Heldenangst» von Gabriel Chevallier stärker ins 
Bewusstsein als durch jede historische oder militärmedizinische 
Abhandlung. Dickens, Balzac, Zola, De Roberto, Thomas Mann und andere 
Autoren haben die gesellschaftlichen Veränderungen, mit denen sich die 
Menschheit des 19.  Jahrhunderts konfrontiert sah, auf eine Weise 
ausgeleuchtet, die sich dem kollektiven Bewusstsein deutlicher einprägte
 als historische oder soziologische Werke. Die Literatur erzählt die 
Odyssee des menschlichen Gehirns. 
Der Körper liest mit
Der Körper liest mit
Literatur beeinflusst den 
Gemütszustand und auch den Körper des Lesers. Die körperlichen 
Auswirkungen der Lektüre werfen ein neues Licht auf die Mechanismen, die
 dem Bewusstsein die von den Wörtern geschaffenen Stimuli übermitteln. 
Die Lektüre von Substantiven, Verben und Adjektiven mit negativem Inhalt
 (Krieg, Nazismus, foltern, zerstören, infam, tot  .  .  .) und 
diejenige von Wörtern mit positivem Inhalt (Liebe, Freiheit, lachen, 
küssen, grossartig  .  .  .) bewirken unterschiedliche Veränderungen der
 Pupillen, der Pulsfrequenz und der Färbung der Haut. Wörter mit starkem
 emotionalem Inhalt (die «Tabuwörter») verlangsamen die Lektüre, weil 
die nervösen Mechanismen ihre Wahrnehmung bremsen. Wenn man den Satz 
liest: «Der Dichter schrieb die Gedichte mit Tinte» ist die 
Gehirnaktivität anders als beim ähnlichen, aber sinnlosen Satz: «Der 
Dichter schrieb mit Butter.» 
Wenn wir in einem Sportbericht lesen, ein Fussballer habe mit dem rechten Fuss ein Tor erzielt, werden im Gehirn nicht nur die Sprachregionen, sondern auch die für den rechten Fuss zuständigen motorischen Zentren aktiviert, obwohl sich der Fuss nicht bewegt. Wenn wir nach mehrmaliger Lektüre des Fussballberichtes mit dem rechten Fuss einen Ball treten, tun wir es genauer als vorher. Lesen und Zuhören vermitteln den Hirnzentren visuelle oder akustische Signale, die das Bewusstsein als Wörter mit Bedeutung, Sinn, Ton, Rhythmus, Bild und Emotion erreichen. Ein Text ist nur ein Gekritzel, solange er von einem Gehirn nicht gelesen und verstanden wird.
Wenn wir in einem Sportbericht lesen, ein Fussballer habe mit dem rechten Fuss ein Tor erzielt, werden im Gehirn nicht nur die Sprachregionen, sondern auch die für den rechten Fuss zuständigen motorischen Zentren aktiviert, obwohl sich der Fuss nicht bewegt. Wenn wir nach mehrmaliger Lektüre des Fussballberichtes mit dem rechten Fuss einen Ball treten, tun wir es genauer als vorher. Lesen und Zuhören vermitteln den Hirnzentren visuelle oder akustische Signale, die das Bewusstsein als Wörter mit Bedeutung, Sinn, Ton, Rhythmus, Bild und Emotion erreichen. Ein Text ist nur ein Gekritzel, solange er von einem Gehirn nicht gelesen und verstanden wird.
Undurchdringliches Rätsel
Das Selbstbewusstsein erforscht 
durch die Poesie jene verborgenen und geheimen Winkel der Seele, die es 
in der Sprache der Prosa nicht beschreiben könnte. Das Rätsel der Poesie
 ist nicht nur für Ästhetikforscher und Literaturwissenschafter, sondern
 auch für Naturwissenschafter nahezu undurchdringlich. Warum stimulieren
 Wörter, die in einer bestimmten Reihenfolge stehen, das limbische 
System und einen Teil der vorderen Hirnrinde bis zu jenem Punkt, an dem 
die unaussprechliche Schönheit der poetischen Kunst erfasst wird, 
während dieselben Wörter nichts anderes als Bedeutungsträger sind, wenn 
sie in einer anderen Reihenfolge angeordnet sind? Warum wurde die Poesie
 erschaffen? Ist sie lediglich eine Zier des Lebens, oder hat sie eine 
existenzielle Bedeutung? Warum bestehen Verse aus kurzen Textzeilen, und
 warum bedient sich die Poesie oft des Reims?
Das sind alte Fragen, denen sich 
die kognitiven Neurowissenschaften vorsichtig nähern, wie stets, wenn es
 um die Tiefe des Geistes geht. Der Poet, Essayist und Übersetzer Raoul 
Schrott und der Neuropsychologe Arthur Jacobs erforschen die Poesie als 
Gehirnmechanismus. Dank den Methoden der kognitiven Neurowissenschaften 
ist es möglich, die Regionen des Gehirns auszumachen, die beim 
Erschaffen, Hören und Lesen von Poesie aktiv sind. Die Grenze der 
Methode liegt darin, dass man nicht weiss, was in den aktivierten 
Zentren geschieht. Raoul Schrott und Arthur Jacobs gemäss entstand die 
Poesie als Begleiterin der Musik, um das Gedächtnis zu stärken, in einer
 Zeit bis vor etwa 5000 Jahren, als es noch keine geschriebene Sprache 
gab. 
Die Verslänge und der Augenblick
Die Verslänge und der Augenblick
Die Verbindung zwischen Poesie und
 Musik wird von den Analogien bestätigt, durch die sie Melodien, Töne 
und Rhythmen zu einem Ganzen vereinen. Störungen nach Hirnschädigungen 
weisen indes auf Unterschiede hin. Obwohl Maurice Ravel wegen eines 
Hirnschlages die Fähigkeit zu sprechen verloren hatte, hörte und liebte 
er weiterhin die Musik. Wissarion Schebalin brachte nach mehreren 
Hirnschlägen kaum mehr ein Wort heraus, komponierte jedoch Sonaten, 
Quartette und eine Symphonie, die Dmitri Schostakowitsch als wunderbar 
rühmte. Dass Musik das Gedächtnis verbessert, bestätigen 
neuropsychologische Experimente, wonach lange und komplizierte 
Wortfolgen mit einer dezenten Hintergrundmusik besser und dauerhafter 
gelernt werden.
Man erinnert sich länger an Verse 
als an Sätze. Ein Gedicht erkennt man auf den ersten Blick an der 
Verslänge, die in sämtlichen Sprachen normalerweise bei höchstens zehn 
Silben liegt. Gelesen werden sie in ungefähr drei Sekunden, was der Zeit
 entspricht, welche die Mechanismen des Bewusstseins brauchen, um zwei 
unterschiedliche Wahrnehmungen zu tätigen. Im Zeitintervall, den das 
Lesen eines Verses benötigt, kann sich das Gehirn also nur auf ein 
Ereignis konzentrieren - was es ermöglicht, bei der Lektüre eines 
Gedichts die Mechanismen der Affektivität stärker einzubeziehen als bei 
anderen kognitiven Erfahrungen. Der Reim wurde vermutlich im 2.  
Jahrhundert n.  Chr. vom Kirchenvater Tertullian aus Karthago in die 
europäische Kultur eingeführt. Die akustische Ähnlichkeit zwischen zwei 
Reimen unterstreicht deren semantische Verbindung, die dem letzten Wort 
der Verse eine fast magische Kraft verleiht. In Analogie zur Musik 
drückt das Gehirn durch die Poesie aus, was sich der Sprache der 
Rationalität entzieht. Die überprüfbare Intensität der Auswirkung auf 
die Zentren der Affektivität liefert den Beweis.
Solche Betrachtungen und 
Forschungen helfen nicht, die Poesie zu verstehen oder zu lieben. Nach 
Kant führt uns die Kunst (und damit auch die Poesie) in das Spiel der 
verwandelten Realität ein. Die kognitiven Neurowissenschaften bestätigen
 die These, wonach dies durch die nervösen Netzwerke der Affektivität 
und Rationalität geschieht, die im Verlaufe der Evolution entstanden 
sind. 
Ist die Liebe zur Literatur angeboren?
Ist die Liebe zur Literatur angeboren?
Alle Kulturen pflegen und lieben 
künstlerische Ausdrucksformen der Sprache. Sind Literatur und Poesie an 
nervöse Strukturen und Mechanismen gebunden, die auf genetischem Weg von
 einer Generation zur nächsten vererbt werden? Die These von der 
angeborenen Liebe zur Literatur müsste man bekräftigen können, indem man
 den evolutionären Antrieb identifiziert, der ihre Mechanismen 
selektioniert hätte. Dieses Indiz fehlt. Der Neurowissenschafter V.  S. 
Ramachandran erwidert auf die These, wonach die Literatur ein 
evolutionärer Faktor sei, weil es sie in sämtlichen Kulturen gibt: 
Dasselbe gilt auch für Gastronomie, ohne dass es deshalb im Gehirn ein 
angeborenes und genetisch vererbtes Modul gibt, das uns kochen lässt.
Wie Mathematik, Geometrie, Musik 
und das Schachspiel sind auch Literatur und Poesie Produkte bestimmter 
Hirnrindenregionen, also des Bewusstseins, auf die keine Kultur 
verzichtet. Das Gehirn schafft Literatur, Poesie und Musik wegen des 
Genusses, den sie bewirken, und nicht, weil sie die Fähigkeit zu 
überleben erhöhen würden. Mario Vargas Llosa hat behauptet, die «von 
guter Literatur imprägnierten» Gesellschaften seien weniger 
manipulierbar. Leider stimmt das nicht. Die Literatur ist kein Mittel 
gegen die Übel der Welt. Von guter Literatur «imprägnierte» 
Gesellschaften wie die deutsche, russische, italienische, französische, 
spanische und englische haben sich schrecklicher sozialer Perversionen 
fähig gezeigt.
Es fällt schwer, Literatur und 
Poesie als Produkte der Mechanismen von bestimmten Regionen der 
Hirnrinde anzusehen. Wie oft wird gefragt, ob ein literarisches Wunder 
wie die «Göttliche Komödie» tatsächlich das Erzeugnis von neuronalen 
Aktivitäten sein kann. Wovon denn sonst? Die naturalistische Konzeption 
des Geistes mindert den Genuss künstlerischer Werke keineswegs. Vielmehr
 versucht sie zu verstehen, wie das Gehirn Kunst erschafft, wie es sie 
geniesst und schätzt.
Prof. Dr. med. Arnaldo Benini arbeitete als Neurochirurg in St. Gallen und in Zürich.

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