Samstag, 14. Juni 2014

Alexander Gottlieb Baumgartens "Aesthetica".

Das Titelblatt des 1750 erschienenen ersten Bandes von Baumgartens «Ästhetik».
aus nzz.ch, 13. Juni 2014, 13:58


Alexander Gottlieb Baumgarten und die philosophische Ästhetik
«Eine philosophische und oft dichterische Fackel»


Auf ihn geht «Ästhetik» als philosophische Disziplin zurück: Alexander Gottlieb Baumgarten war wirkungsreich, auch wenn er selten zu den «Grossen» der Geistesgeschichte gezählt wird. – Eine Erinnerung aus Anlass seines dreihundertsten Geburtstags.

Die Dunkelheit der Philosophie zu beklagen, ist weit verbreitet und stellt eine Übung dar, die so alt sein dürfte wie die Philosophie selbst. Auch Alexander Gottlieb Baumgarten sah sich, wie er schrieb, dem Vorwurf ausgesetzt, dass «durch den ganzen Kram der Gelehrsamkeit, insonderheit der Philosophie, die Wahrheit mehr verdunkelt, als erfunden werde». Dieser Vorwurf richtete sich nicht zuletzt deshalb gegen ihn, weil er einer neuen philosophischen Disziplin den Namen gab, die eine angenehme Lektüre zu versprechen scheint: Wenn «Ästhetik» von der Kunst oder vom Schönen handelt, dann sollte ein Buch dieses Titels doch auch schön zu lesen sein . . . Baumgarten hat ihr jedoch, so bemängelt selbst Johann Gottfried Herder, einer der produktivsten und bewundernden Leser Baumgartens im 18. Jahrhundert, eine Gestalt gegeben, die «überall mit lateinischer Schulsprache umhüllet» ist und in das «Gegitter des Paragraphenstils» gepresst wird.

«Felix aestheticus»

Baumgartens Denken konnte sich jedoch nur in der Philosophie seiner Zeit entfalten. Am 17. Juni 1714 in Berlin geboren, wird Baumgarten von einer frommen, pietistischen Erziehung geprägt und studiert nach dem Willen seines früh verstorbenen Vaters Theologie in Halle. In dieser Hochburg des Pietismus macht er sich mit der Philosophie Christian Wolffs vertraut, obwohl Wolff wegen angeblichen Atheismus 1723 seine Professur in Halle verlor und aus der Stadt vertrieben wurde. Baumgarten übernimmt nichtsdestoweniger Wolffs strenge Massstäbe der philosophischen Begründung und führt religiöse Dogmen niemals als philosophische Argumente an. Er gibt seinen pietistischen Glauben aber keineswegs auf. Sein Denken fügt sich nicht den herrschenden Polemiken, weshalb er sich auch nur wundern konnte, «in wie manchen Bedeutungen man mich schon zum Wolffianer gemacht».

Dieses Bild des «Wolffianers» sollte die Wahrnehmung von Baumgarten jedoch für lange Zeit bestimmen. Die «Metaphysica» von 1739 galt als Standardwerk und brachte Baumgarten endgültig in den Ruf, der bedeutendste Philosoph seiner Generation zu sein. Seine noch einflussreichere «Aesthetica» verfasst er nach Antritt einer Professur in Frankfurt an der Oder 1740 und veröffentlicht sie in zwei Bänden 1750 und 1758. Es ist die schulphilosophische Begrifflichkeit und Systematik des Werks, die ihm Herder ankreidet: «Und so stand auch für die Aesthetik die Form bereit, ehe der Einguss da war: die Lieblingsworte der Wolffischen Schule, ihre Einteilungen und Zauberformeln, waren schon wie Grundfäden im Weberstuhl gespannet, und nun wurden die Begriffe des Schönen hindurchgeschlagen: Gessner's thesaurus gab Blumen dazu her: und hiemit war das Gewebe fertig.» Aber Herder schätzte zugleich die Fruchtbarkeit von Baumgartens «Ästhetik»: «immer barbarisch, aber auch immer so schwanger von Gedanken, dass ich kurz kein ander Wort, keine Umschreibung dagegen mag.»

Die «Ästhetik» macht die Künste und insbesondere die Literatur, die Baumgarten seit jungen Jahren fasziniert, erstmals zum Gegenstand einer eigenen Disziplin der modernen Philosophie. Ihre Sprengkraft besteht darin, dass sie die Kunst auf die Erkenntnisvermögen des Menschen bezieht, die wie die Wahrnehmung oder die Phantasie unterhalb von Verstand und Vernunft angesiedelt wurden und kaum der Aufmerksamkeit würdig schienen. Baumgarten begreift die Künste als das Feld, in dem sich diese «niederen» Erkenntniskräfte üben und vervollkommnen können, und schildert den «glücklichen Ästhetiker (felix aestheticus)» als einen Menschen, der imstande ist, Wahrnehmung und Phantasie, künstlerische Gestaltung und vernünftige Einsicht in ein ausgewogenes Verhältnis zueinander zu bringen.

Der Grund der Seele

Die Ästhetik ist bei Baumgarten daher nicht nur eine Philosophie der schönen Künste, sondern zugleich eine Lehre von den sinnlichen Erkenntniskräften und dem undurchsichtigen «Grund der Seele». Er befördert damit wesentlich die Psychologie seiner Zeit, die sich zunehmend der Wirklichkeit des menschlichen Seelenlebens zuwandte. Baumgarten war, so Herder, einer der «ersten Philosophen neuerer Zeit [. . .], der in diese Gegenden der Seele eine helle philosophische und oft dichterische Fackel getragen» habe.

Baumgarten ging es um eine Erweiterung des tradierten Wolffischen Systems, doch er brachte die Fundamente dieses Systems ins Schwimmen. Er stellt nämlich die traditionelle Hierarchie der Erkenntniskräfte zwangsläufig infrage, indem er den sinnlichen Vermögen eine eigene Form der Erkenntnis zuspricht und für sie eine besondere «ästhetische Wahrheit» in Anspruch nimmt. Diese Wahrheit fasst, anders als die Vernunft, nicht alle Dinge unter möglichst allgemeine Begriffe. Vielmehr zielt sie auf die einzelnen Dinge und deren konkrete wie vielfältige Bestimmungen ab. Baumgarten weist damit zum einen auf die Verluste hin, die alle allgemeinen Wahrheiten in Kauf nehmen müssen: «Denn was ist die Abstraktion, wenn nicht ein Verlust? Ebenso brächtest du aus einem Marmor von unregelmässiger Form keine Marmorkugel heraus, wenn nicht durch wenigstens so viel Einbusse an Material, in welchem Masse sie der höhere Wert der Rundheit verlangen wird.»

Zum anderen eröffnet die ästhetische Wahrheit eine Alternative zur traditionellen «logischen Wahrheit»: Sie misst nicht nur unsere Vorstellungen am Einzelnen und am «Reichtum» seiner konkreten Bestimmungen, sondern bringt auch die eigenen Ansprüche und die «Lebendigkeit» der künstlerischen Darstellung in den Blick. Der glückliche Ästhetiker ist durchaus ein Freund der logischen Wahrheit, er ist aber nicht ihr Sklave und bewahrt ihr gegenüber seine «poetische Freiheit». In den Künsten hat eine mit den Sinnen verbundene Gestalt der Wahrheit ihr eigenes Refugium. – 

Baumgartens Denken entfaltete grosse Wirkung, seine «Aesthetica» ging dennoch bald vergessen. Dieses Werk blieb nicht nur unvollständig, da Baumgarten bereits 1762, knapp achtundvierzig Jahre alt, starb. Es war auch einer breiteren Leserschaft beraubt: Baumgarten hatte am Lateinischen festgehalten, als die Nationalsprachen mehr und mehr Einzug in die Philosophie hielten, und verwob seinen eigenen Text mit einer Fülle von Zitaten lateinischer Klassiker, was einige Jahrzehnte später bereits ausser Mode war. Die unmittelbare Wirkung Baumgartens verdankte sich daher in erster Linie seinem Schüler Georg Friedrich Meier, der noch vor dem Erscheinen der «Aesthetica» Baumgartens Gedanken in den «Anfangsgründen aller schönen Wissenschaften» (1748–1750) popularisierte. In Vergessenheit geriet Baumgartens Werk schliesslich durch Immanuel Kant, der die Philosophie in der Tradition Wolffs grundlegend kritisierte und ihrer Dominanz damit ein Ende bereitete.

Abschwung und Wiederaufschwung

Als die Ästhetik als philosophische Disziplin um 1800 eine erste Konjunktur erlebte, stand sie bereits unter anderen Prämissen – daher wirkte die «Aesthetica» ihres Namensgebers überholt. A. W. Schlegel, F. W. J. Schelling und G. W. F. Hegel lösten die Kunst aus dem anthropologischen und vermögenspsychologischen Zusammenhang heraus, in dem sie Baumgarten und noch Kant gesehen hatten. Stattdessen betrachteten die Ästhetiker um 1800 die Kunst wie die Religion oder die Philosophie als eine kulturelle und historische Form des Welt- und Selbstverständnisses des Menschen. 

Die Ästhetik widmete sich von da an ausschliesslich den Künsten und ihrer Geschichte, sie war zur Philosophie der Kunst geworden. Diese Auffassung der Ästhetik wird jedoch seit den 1980er Jahren zunehmend als zu eng befunden. Die Kunst und die Kunstwerke werden erneut auf ihren Zusammenhang mit den Bedingungen des Menschseins befragt. Nicht nur fordert die Kunst dazu heraus, die sinnlichen Vermögen zu vervollkommnen und damit die Potenziale unserer reflektierten Wahrnehmung anzuerkennen. Mit Verweis auf Baumgartens dunklen «Grund der Seele» wird die Kunst zugleich als ein Ort gesehen, an dem sich eine Kraft des Sinnlichen entfaltet, die sich unserer Beherrschung entzieht, uns als Menschen aber doch auch ausmacht. Das Kunstwerk lässt uns, wo es uns erfasst und wir es nicht auf eine «Message» reduzieren, eine Bedingung des Menschlichen anerkennen, die wir allzu leicht ausblenden, wenn wir – wie meist im Alltag – eigene oder uns gesetzte Ziele zu erreichen versuchen.

Baumgartens Ästhetik stösst so wieder auf grosses Interesse und erfährt geradezu eine Renaissance. Über zweihundertfünfzig Jahre nach dem lateinischen Original erschien 2007 (bei Felix Meiner) eine erste vollständige Übersetzung der «Aesthetica» ins Deutsche. Sie findet neue Leser und wird neue Fragen hervorbringen. Eine solche verspätete und «umwegige» Wirkung ist in der Philosophie nicht selten. Für Baumgartens «Ästhetik» ist sie aber geradezu charakteristisch. Sie verflüssigte ein philosophisches System, das schon bald überholt schien, und verblieb selbst meist ungelesen in den Regalen, als die durch sie begründete philosophische Disziplin ihre erste Hochzeit hatte. Als diese Ästhetik selbst an ihre Grenzen stiess und sich mit neuen Fragen verband, stand Baumgartens «Aesthetica» nach wie vor in den Bibliotheken. Sie musste nur etwas entstaubt werden, um ihre Aktualität erneut unter Beweis zu stellen.

Prof. Dr. Arno Schubbach lehrt Philosophie an der Universität Basel. Im Winter 2014/15 erscheint seine Monografie zur Entstehung von Ernst Cassirers Kulturphilosophie im Meiner-Verlag.


Nota.

Baumgarten hat sein neugeschaffenes 'Fach' gleich selber mit den Fußangeln versehen, die es dann lange Zeit gefangen hielten. 

Die Beschränkung des Ästhetischen auf die Kunstwerke hat zwar schon bei Kant die Einsicht befördert, dass historisch die Wahrnehmung des Naturschönen ein Abkömmling des Kunstschönen war; hat das Phänomen, dass die Kunst (seit der Renaissance) nur dann als schön erkannt wurde, wenn sie... die Natur nachahmte, aber leider gedanklich unfruchtbar bleiben lassen. Noch lange sollte "das Schöne" an sich Gegenstand ästhetischer Betrachtung bleiben, statt als eine kultur- und mentalitätsgeschichtlich spezifische Gestalt dessen verstanden zu werden, was dem (pp.) ästhetischen  Empfinden je als das Erhebliche ins Auge springt. - Die Verengung 'des Ästhetischen' auf das Schöne ist eine Aporie, weil sie die Bestimmung des Schönen außerhalb der ästhetischen Anschauung im Begriff vermuten und suchen lässt; wo sie freilich nicht zu finden ist. Vielmehr ist das Verständnis des ästhetischen Phänomens zirkulär, weil 'das Ästhetische' nur als Gegensatz zum haushälterisch-Nützlichen, d. h. uno acto mit ihm zusammen 'gefasst', d. h. angeschaut werden kann.

Die zweite große Fußangel ist sie Auffasung der ästhetischen Wahrnehmung als das "niedere Erkenntnisver- mögen". Damit wird einerseits Erkenntnis als eigentliche Bestimmung des Menschen unterschoben und andererseits das Ästhetische dem "dunklen Grund der Seele" zugewiesen. Beides hat sich seither in der ästhetischen Literatur als stetes Schwanken zwischen geistreichem Wortgeklingel hier und mystifizierendem Schwulst dort niedergeschlagen.
JE 

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