Sonntag, 31. März 2019

Kosmos Kubismus im Kunstmuseum Basel.

Georges Braque: Violon et Broc  | Foto: Kunstmuseum
aus Badische Zeitung, 31. März 2019                                              Georges Braque, Violon et Broc

Kosmos Kubismus im Kunstmuseum Basel
Keine andere Kunstrichtung hat die Malerei je mehr revolutioniert als der Kubismus. Die ganze Strahlkraft dieses künstlerischen Quantensprungs wird jetzt – parallel zur Picasso-Ausstellung in Riehen – im Basler Kunstmuseum spürbar.

Von Annette Mahro 

Mit alten Gewohnheiten wurde in der Kunst immer wieder gebrochen. Waren da eben noch die Impressionisten und der Vater der Moderne, Paul Cézanne, auf den sich auch Pablo Picasso und Georges Braque beriefen, so gingen diese beiden Mittzwanziger ab 1907 einen radikalen Schritt weiter. Die beiden Künstler, die den neuen Stil so intensiv Hand in Hand entwickelten, dass sich viele ihrer Arbeiten kaum auseinanderhalten lassen, warfen alles über Bord, was sie an Traditionellem für verzichtbar hielten, und ebneten einer völlig neuen Kunstauffassung den Weg.

Braque, 1905?

Die Ausstellung "Kosmos Kubismus. Von Picasso bis Léger", eine Kooperation des Basler Kunstmuseums mit dem Pariser Centre Pompidou und zusätzlich maßgeblich unterstützt durch das dortige Musée Picasso, versammelt 130 Werke, die vornehmlich aus der Zeit von 1908 bis 1918 stammen. Sie vollzieht den Weg der beiden Hauptakteure nach und nimmt anhand von Beispielen unter anderem von Fernand Léger, Juan Gris, Francis Picabia, Henri Le Fauconnier oder Sonia und Robert Delaunay zusätzlich diejenigen in den Blick, die den ihnen zugespielten Ball aufgenommen haben.

Braque

Zwar können die Basler aus dem Vollen schöpfen, zählt der Kubismus dank einer bedeutenden Schenkung des Mäzens Raoul La Roche doch seit den 1960er Jahren zu den tragenden Säulen des Kunstmuseums. Gleichwohl ist die Ausstellung, die jetzt im zweiten Stock des Neubaus gezeigt wird, seit Paris von einst 330 Werken merklich geschrumpft. Die Konzentration auf sichtbare Bezüge der Exponate untereinander oder auf Inkunabeln, zu denen etwa die erste Collage der Kunstgeschichte, Picassos "Stillleben mit Rohrstuhlgeflecht" von 1912 zählt, gerät ihr aber nicht zum Nachteil.

Braque

Die Basler Kuratorin Eva Reifert kann denn auch ihre Begeisterung vor einer ganzen Reihe von richtungsweisenden Werken kaum zügeln. Da wären neben der schon erwähnten Collage und der ersten kubistischen Skulptur "Frauenkopf (Fernande)", die Picasso 1909 in Paris modellierte, auch seine Bronzegüsse von Absinthgläsern mit echtem Löffel von 1914. Wird hier doch ein Alltagsgegenstand zum Kunstobjekt, dieser gleichzeitig aber noch einmal spielerisch neu geformt, in Bronze gegossen, bemalt und schließlich durch eine echte Zutat, den Blechlöffel, ergänzt. Da hatte einer ganz offensichtlich gar keine Ehrfurcht mehr vor dem traditionellen Kunstbegriff – und viele sind ihm gefolgt.


Braque, 1931

Die Ausstellung ist teils chronologisch, teils thematisch aufgebaut. Sie beginnt mit dem Einfluss der iberischen und afrikanischen Skulptur, der etwa 1907 bei Picassos "Les Demoiselles d’Avignon" sichtbar wird, aber auch schon 1906 bei seinem Bildnis der Gertrude Stein. Das Werk, das das New Yorker Metropolitan Museum of Art erstmals seit 40 Jahren wieder ausgeliehen hat, ist ein weiteres Highlight. Hier zeichnet sich bereits ab, dass nicht mehr die objektive Darstellung im Vordergrund steht, sondern das tiefe Eintauchen in den Bildgegenstand. Die Schriftstellerin wirkt ohne typisches Attribut, dafür aber versehen mit dem typischen "Picasso-Auge" sinnierend für sich selbst.

Braque, 1942

Später werden die Figuren und Motive zerlegt, verschiedene Ansichten zu einem Ganzen kombiniert. Daniel-Henry Kahnweiler, der legendäre Galerist der Kubisten, hat die Begriffe des analytischen (ab etwa 1910) und synthetischen Kubismus (ab 1912/1913) geprägt. Hatten Picasso und Braque damit begonnen, die Fläche zu facettieren, begannen sie bald, die geschlossene Form der Figur aufzubrechen, was an den Rand der Abstraktion rührte. Ab 1911 wurden unter anderem Zahlen und Buchstaben eingefügt, die für den Betrachter ein "Entziffern" zuließen.

Picasso, Les Demoiselles d'Avignon, (Entwurf) 1907

Auch neue Materialien kamen hinzu und damit neue Anekdoten. Da wäre etwa Georges Braques Entdeckung einer Tapete mit Holzmuster, die er zerschnitt, um Teile daraus in seine Werke einzukleben – eine Idee, die Picasso umgehend kopierte. Bald kamen Zeitungsausschnitte und schließlich ganze Seiten zum Einsatz, Musikinstrumente holten, etwa mit dem stilisierten Klangloch einer Gitarre, den Klang ins Bild. Verschmitzt drehten die Kubisten das Rad aber auch wieder zurück, indem sie das vorher Eingeklebte, wie etwa die Holzimitation, in doppelter Täuschung wieder in Öl ins Bild hineinmalten.

Picasso, Femme assise, 1909

Es war dennoch nicht allein die Kunst, die das neue Zeitalter einläutete. Umgekehrt brach der technische Fortschritt auch in die Bildwelt ein, was die Ausstellung jetzt exemplarisch etwa an zwei Arbeiten der beiden Delaunays zeigt. So greift etwa Sonia in ihren Prismenbildern die Einführung der elektrischen Straßenbeleuchtung auf. Robert malt eine Hommage an den Luftfahrtpionier Louis Blériot, der 1909 als Erster den Ärmelkanal überflog. Für Fernand Léger, der als Franzose anders als der Spanier Picasso in den Krieg ziehen musste, spiegelte sich im Kubismus aber auch die neue zerstörerische Fragmentierung der Welt. Hätte sich das nicht Vorstellbare, etwa ein auf dem Schlachtfeld in vier Teile zerrissener Mensch, ansonsten doch jeder Darstellbarkeit entzogen.

 
Picasso, Mädchen mit Reifen, 1919
 
Nota. - Geburtsstunde einer Moderne der abwegigen Art: Zum erstenmal in der Geschichte wurde ein neuer Malstil buchstäblich an der Haaren herbei gezogen. Dass ihn viele neugierig ausprobierten, als er einmal in der Welt war, ist verständlich und waren die Künstler sich schuldig. Das entschuldigt nicht die, die ihn vom Zaun gebrochen haben. Braque kam von den Fauves her, für den waren die Kuben eine disziplinierende Übung, und die war fällig. Aber der geschäftstüchtige Picasso war schon ständig auf der Sucher nach einer neuen Masche, ästhetische Maßstäbe hatte er nicht, und während seine blauen und rosa Nettigkeiten ihm das Wohlwollen der Pariser Käufer eingetragen hatte, konnte er sich mit diesem letzten Schrei auch noch den Ruf eines künstlerischren Neuerers erwerben.

Natürlich hat die Masche nicht lang gehalten. Während Braque zur Farbe und zur Linie zurückkehrt und und vor einer dekorativen, malerischen Darstellungweise nicht zurückschreckt, setzt Picasso seine lukrative Manierenzockerei aufs Erfolgreichste fort und macht sich zum Genie der Moderne.
JE


Picasso, Frau mit Hut 1939

PS. Ein Tipp an Frau Mahro: Quantensprung bedeutet nicht, was sie meint.
JE

Samstag, 30. März 2019

Joaquín Sorolla in London.

aus Tagesspiegel.de, 29. 3. 2019                                                                                Rückkehr vom Fischfang 1894

Meister des Lichts

Die National Gallery London widmet dem erfolgreichen spanischen Salonmaler Joaquín Sorolla eine Ausstellung. Sie gerät so kulinarisch wie die Malerei um 1900. 


Im Jahr 1908 pries die Londoner Kunsthandlung Grafton eine Ausstellung unter der Schirmherrschaft des spanischen Königspaares als eine des „größten lebenden Malers der Welt“ an. Mag das bloße Reklame gewesen sei, so bestand doch Einigkeit darüber, dass der Spanier Joaquin Sorolla (1863-1923) zu den führenden zeitgenössischen Künstlern zählte. Als Sorolla im Jahr darauf in New York gastierte, zählte seine Ausstellung 160 000 Besucher, und sage und schreibe 195 Werke wurden verkauft.

  
110 Jahre später muss man den Namen buchstabieren. In Spanien kennt man ihn, doch auch dort als historische Größe, nicht mehr als ästhetischer Maßstab. Sorolla malte in jenem opulenten Stil, der sich aus Impressionismus und Akademie gleichermaßen speiste und um und nach 1900 in vielerlei Abstufungen in allen westlichen Ländern gepflegt wurde. Deutscherseits könnte man an Max Liebermann denken; näher noch stehen Sorolla der amerikanische, in Europa lebende Gesellschaftsmaler John Singer Sargent sowie dessen enger Freund, der Schwede Anders Zorn. Zorn malte seinerseits amerikanische Größen wie den 27. US-Präsidenten Howard Taft – der wiederum auch Sorolla Modell saß.


Um in diese gehobene Sphäre vorzudringen und mit seiner Malerei regelrecht reich zu werden, bedurfte es einer sehr zielgerichteten Karriere. Es bedurfte einer ganzen Reihe von Gemälden, die Sensation machten und den Namen des Künstlers in die Welt hinaustrugen. Davon kündet die Retrospektive, die die Londoner National Gallery dem Spanier jetzt unter dem Titel „Der spanische Meister des Lichts“ ausrichtet – der ersten Ausstellung in London seit 1908.


Großformate zu gesellschaftlichen Themen

Man kann es einerseits mutig nennen, dass ein auf die Spitzenleistungen der abendländischen Malerei abonniertes Haus wie die National Gallery einen in die Geschichtsbücher abgesunkenen Künstler so herausstellt. Man kann andererseits darauf hinweisen, dass der Museumsdirektor, der ungeachtet seines italienischen Namens gebürtige Brite Gabriele Finaldi, seit jeher ein Bewunderer alles Spanischen ist und einige Jahre am Madrider Prado gewirkt hat, bevor er 2015 den Londoner Chefposten übernahm. Jedenfalls reiste die spanische Königin Letizia eigens zur Eröffnung an, bei welcher Gelegenheit sich auch Prinz Charles zeigte, der als Schirmherr der National Gallery eine Position einnimmt wie weiland Kaiser Friedrich über die Berliner Museen.

 

Das war natürlich allerbeste Reklame für eine Ausstellung, von der die englischen Massenmedien sonst nicht gleichermaßen Notiz genommen hätten. Doch was bleibt nach dem königlichen Auftritt? Nun, Sorolla steht stellvertretend für jene breite Strömung der Kunst um 1900, die ein bürgerliches Publikum sowohl mit gekonnter Malerei als auch mit teils gefälligen, teils anstößigen Themen versorgte. Sorolla wurde mit Großformaten zu gesellschaftlichen Themen berühmt. Seine umfangreiche spätere Produktion bestand dann vorwiegend in heiteren Szenen mit weißgekleideten Damen am Strand oder in üppiger Natur. Sorolla malte anfangs eine Kindesmörderin auf dem Weg zum Gericht; eine Gruppe körperbehinderter Jungen, die von den Anstaltspatres zum Baden im Meer begleitet werden; die harte Arbeit der Fischer seiner Heimatstadt Valencia.


 
Inspiriert von Velázquez

Zumal diese „Rückkehr vom Fischfang“ [s. o.] ist eine kompositorische Meisterleistung, zudem von malerischer Delikatesse in der Wiedergabe von Licht und Reflexen – etwas, wofür Sorolla zeitlebens berühmt war. Das drei auf vier Meter messende Bild wurde beim Pariser Salon von 1895 mit einer Goldmedaille bedacht und daraufhin vom französischen Staat angekauft.


Das eher heitere Großformat der „Segelmacherinnen“ hingegen, eine Etude von Weiß in Weiß, wurde anfangs gerade wegen seiner Problemlosigkeit kritisiert, machte dann aber bei der Biennale von Venedig 1905 Eindruck und wurde von der Stadt für ihr Museum der Moderne im Ca’Pesaro erworben.

Fortan war Sorolla als Portraitist gesucht. So malte er unter Bezugnahme auf Velázquez den ersten spanischen Nobelpreisträger von 1904, José Echegaray. Seine drei Kinder stellte er in einem Großformat dar, das von vorneherein für Ausstellungstourneen gedacht war und dem Künstler die gewünschte Anerkennung wie die entsprechenden Aufträge eintrug.


In diesem Kinderbildnis kommt er dem gleichaltrigen Sargent malerisch ganz nahe, und das Londoner Publikum versteht einen entsprechenden Hinweis, bewahrt doch die Tate Gallery ein vergleichbares Gemälde des amerikanischen Ex-Pats. Sodann malte Sorolla immer wieder Strandszenen; manche, wie „Der junge Fischer“ von 1904, mit leisem sozialkritischen Touch: Denn während der Fischerjunge seinen Fang an den Strand trägt, baden im Hintergrund die Abkömmlinge eben jener leisure class, die doch Sorollas Bilder so sehr schätzte.


Eine gute Gelegenheit, über den Wechsel von Ästhetik nachzudenken

Es ist schwer zu sagen, warum genau der Stern dieser Malerei sank. Der Verweis auf Sorollas Landsmann Picasso hilft nicht weiter, auch wenn der Siegeszug des Kubismus ab 1910 mit dem Niedergang der Bravura-Malerei von Sorolla & Co. einhergeht. Denn natürlich gingen die Sammler des älteren Spaniers nicht mit fliegenden Fahnen zum jüngeren über.


Eher muss man den (Ersten) Weltkrieg nennen, der die Welt der Bourgeoisie, in der Sorolla in jeder Hinsicht angekommen war, so nachhaltig erschütterte, dass sie danach an Opulenz und deren Zurschaustellung keine rechte Freude mehr fand. Insofern ist die Londoner Ausstellung, über deren Erfolg man sich in Anbetracht der Beliebtheit des Hauses keine Gedanken machen muss, eine gute Gelegenheit, um über den Wechsel ästhetischer Vorlieben, den Wechsel des Geschmacks nachzudenken. Wäre dies jedoch die Absicht des hispanophilen Direktors gewesen, es hätte eine ganz andere und womöglich spannendere als diese denn doch eher kulinarische Ausstellung ergeben können – und müssen.

London, National Gallery, Trafalgar Square, bis 7. Juli. Katalog 25 GBP. – Mehr unter www.nationalgallery.org.uk


Nota. - Ein Kunstkritiker hat seine eigenen Gründe, eine Ausstellung zu besuchen, und wärs nicht sein Beruf, unterließe er es manchmal vielleicht. Unter den Ausstellungsbesuchern gibt es sicher manche, die nur hingehen, um schöne Bilder zu sehen. Das ist ja kein schlechter Grund. Will der Rezensent andeuten, in London habe man zu sehr an letztere gedacht und zu wenig an ihn?

Wenn alle gezeigten Bilder von der Art waren, die Bernhard Schulz erwähnt, dann hat er wohl recht. Die bei den Zeitgenossen erfolgreichsten werden wohl die gefälligsten gewesen sein, und denen sieht man seine akademische Herkunft an. Seinen ästhetischen Übertritt zu den Impressionisten hätten sie etwas deutlicher zeigen können, wenn sie, wie ich, mehr auf die Landschaften geschaut hätten. Sehen Sie selbst:










 JE

Donnerstag, 28. März 2019

The 2019 Jackson-Chase.

David LaChapelle, St. Michael

...ich müsse doch endlich auch was sagen zur Jackson-Hype dieser Tage!

Muss ich nicht. Das ist nur ein lauer Aufguss, kein Vergleich mit der Monsterkampagne von 1992/93. Ich habe damals ein ganzes Buch geschrieben, da steht alles drin. Ich werd mich nicht wiederholen.

Das war doch klar, dass die Sache immer wieder mal aufgewärmt werden würde, man kann ja Geld damit verdienen. Übrigens auch SONY und der Jackson Family Trust. Als monstre sacré bleibt er ewig frisch und Größter Star Aller Zeiten.







Oha.

Giovanni Boldini, Rosa Landschaft, 1911

Auf meiner Festplatte habe ich einen Folder namens Kitsch. Darauf gibt es eine Extraabteilung für Giovanni Boldini.

Das war ein schrecklicher Mann. Gemalt hat er im Stil der Impressionisten, die waren hochmodern. Doch was er gemalt hat, waren Porträts, und die sollten der zahlenden Kundschaft gefallen, gefallen; etwa so wie William Bouguereau. Befreundet war er mit James Abbot McNeill Whistler, der war etwas dekadent und auch äußerste Mode, aber jenseits des Ärmelkanals. Heraus kam die gefälligste Fin-de-siècle-Pinselei, sie man sich ausmalen kann.



Giovannio Boldini, Le Comte Robert de Montesquiou,1897

Doch siehe da (nämlich ganz oben) - er konnt' auch anders. 

Dazu war allerdings die... Landschaft nötig.







Mittwoch, 27. März 2019

Disegno vs. colore.

Tizian, Raub der Europa
aus Tizian und die Renaissance in Venedig
 
Der disegno (ital., Zeichnung) umfasst nicht nur die reine Zeichnung, er beinhaltet vielmehr das Konzept eines Kunstwerks. Dieses ist – so die damalige Auffassung – von Gott gegeben und entsteht im Kopf des Künstlers. Die Linien der Zeichnung verleihen demnach der außergewöhnlichen Begabung des Künstlers sichtbaren Ausdruck. Laut Giorgio Vasari, dem Florentiner Kunsttheoretiker, ist Michelangelo der unangefochtene Meister des disegno. Vasari spricht dem colorito (ital., Farbigkeit) hingegen eine geringere Bedeutung zu. Er erklärt, die Farbe sei nur oberflächliche Zutat zu einem Kunstwerk. Vasari behauptet, die Figuren in Tizians Gemälden seien schlecht gezeichnet. Und geht sogar noch einen Schritt weiter: Mit dem Einsatz von Farbe wolle Tizian über diesen Mangel hinwegtäuschen. In Venedig bezieht Tizians Freund Lodovico Dolce Position in der Debatte. Der Schriftsteller und Theoretiker erwidert, dass Tizian meisterhaft zeichne. Außerdem hauche er Gemälden mit seinen Farben Lebendigkeit ein! 

Ludovico Dolce, Dialogo della pittura di M. Lodovico Dolce, intitolato l'Aretino, 1557


Nota. - Ganz so Unrecht hatte Vasari nicht. Insbesondere heißt Zeichnung Umriss.Und ohne den keine Per- spektive. Beide zusammen machen die Körperlichkeit, eigentlich: die Gegenständlichkeit der Gegenstände aus. Das war die große Errungenschaft der Renaissance gewesen. Bei Tizian weicht sie auf. Die Umrisse ver- schwimmen (seit Raffael) und die Perspektive verliert sich im Ungefähr. Das ist das Charakteristikum des Manierismus, dem Tizian ein Bresche geschlagen hat. Doch Vasari war selber ein Wegbereiter des Manieris- mus. Er hat sich bloß nicht soviel getraut wie Tizian; von Tintoretto ganz zu schweigen.
JE

 Vasari, Perseus und Andromeda


Dienstag, 26. März 2019

Beruht die gegenwärtige Renaissance-Begeisterung auf einem Missverständnis?

Andacht im Museum. Blick in die Renaissance-Ausstellung im Frankfurter Städel, die noch bis zum 26. Mai zu sehen ist.
aus Tagesspiegel.de, 25.03.2019                                       Renaissance-Ausstellung im Frankfurter Städel; noch bis zum 26. Ma

Publikumsmagnet Renaissancekunst
Verweilen in der Sturmzeit
Ob in Berlin, Frankfurt, London oder Mailand: Die Renaissancekunst ist gerade mächtig en vogue. Doch ihre Beliebtheit beruht auf einem Missverständnis.

von

Stolz steht der Mann am Fenster, im dunklen Gewand der Wohlhabenden und Mächtigen, eine Persönlichkeit von Rang. Alvise Gradignan della Scala war Farbenhändler, Besitzer eines Geschäfts für Künstlerbedarf – ein in Venedig damals hoch geachteter Beruf. Tizian hat seinen Lieferanten 1561/62 großformatig porträtiert; Hommage an eine Branche, der die venezianische Malerei viel verdankt.

Das internationale Handelszentrum in der Lagune war ein Umschlagplatz für Pigmente. Venedig hatte die besten Farben, sie wurden eingesetzt in der Glasindustrie und bei den Textilien. Venedig produzierte Luxusgüter, und davon profitierten seine Maler. Sie saßen an der Quelle. Tizians Bild des Alvise Gradignan mit dem Pigmentengefäß auf dem Fenstersims, sonst in der Galerie der Alten Meister in Dresden zuhause, hängt derzeit im Frankfurter Städel – als bedeutendes Beweisstück für die Ausstellung „Tizian und die Renaissance in Venedig“.

Tizian, Bildnis des Farbenhändlers Alvise Gradignan dalla Scala, um 1561-62 

Ein Gütesiegel wie kein zweites 

Die Renaissance verleitet zu Rekorden, macht Museumsdirektoren und Besucher glücklich. Über zwanzig Werke von Tizian sind in Frankfurt jetzt zu sehen, so viele wie noch nie zuvor in Deutschland, betont das Museum. Und natürlich auch Bilder von Tintoretto, Veronese, Sebastiano del Piombo, Jacopo Bassano und Lorenzo Lotto, darunter seine radikal-freche, in hellem Blau und Weiß strahlenden „Judith mit dem Haupt des Holofernes“ aus der Sammlung einer römischen Bank.

Lorenzo Lotto, Judith mit dem Haupt des Holofernes 

Mitte Februar hat die Schau im Städel eröffnet, kurz zuvor ging in der Alten Pinakothek in München die Präsentation „Florenz und seine Maler. Von Giotto bis Leonardo da Vinci“ zu Ende. Lorenzo Lotto widmeten der Prado in Madrid und die National Gallery London im vergangenen Jahr eine wunderbare Porträt-Ausstellung. Die Berliner Gemäldegalerie erfreut sich an „Mantegna und Bellini“, wiederum in Zusammenarbeit mit London. Die Liste lässt sich fortsetzen. 2018 war Tintorettos 500. Geburtstag, Venedig ehrte seinen Maler vor allem mit einer großen Ausstellung im Dogenpalast. 2019 wird das Leonardo-Jahr, mit da Vincis 500. Todestag. Großer Auftritt für Mailand. Renaissance geht immer.

Unbekannter Kopist, Mona Lisa nach Leonardo

Gern erinnert man sich an die fabelhafte Versammlung der „Gesichter der Renaissance“ 2009 im Berliner Bode-Museum. Auch die jüngsten Ausstellungen, ob Frankfurt, München oder Berlin, zeichnen sich durch hohe und höchste Qualität aus. Die italienische Renaissancemalerei ist ein Gütesiegel wie kein zweites auf dem Marktplatz der Museen, ein Publikumsmagnet wie das überlaufene Venedig, das neuerdings von Tagestouristen Eintritt nimmt.

Das Kunsterlebnis bietet Teilhabe an

Erleben wir eine Renaissance der Renaissance? Das mag übertrieben sein, und es dreht sich auch um einen sehr großen Zeitraum, grob um das 14. bis 16. Jahrhundert, von einem einheitlichen Stil kann da gar nicht die Rede sein. Aber die Beliebtheit der „Wiedergeburt“, die eigentlich ein kompletter Neustart in die Moderne ist, keine Wiederholung der Antike, fällt auf. Drei Gründe könnte es dafür geben. Es sind Phänomene und Probleme einer permanent expandierenden, heiß- und leerlaufenden Kunstwelt.

 Giotto, Aus d. Franziskus-Zyklus

Das erste ist die mit die Zunahme der Biennalen verbundene Politisierung des Ausstellungsbetriebs. Biennale-Kunst ist in der Regel für oder gegen etwas engagiert, demnächst wohl wieder in Venedig. Kunst bietet freien und geschützten öffentlichen Raum, als Plattform sozialen Austauschs angesichts multipler Bedrohungsszenarien. Dann aber auch häufig: als platte Form.

Nach all den ästhetischen Umwälzungen des 20. Jahrhunderts wenden sich viele Künstler direkt einer gesellschaftspolitischen Agenda zu, meist den Erscheinungsformen der Globalisierung. Die Arbeiten bekommen dadurch etwas Journalistisches, im besten Fall zupackend Aktuelles. Nicht anders im Theater: Bildende Kunst und darstellende Kunst praktizieren das Ein- und auch Übergriffige, das Kunsterlebnis bietet Teilhabe an, mit dem Gestus angewandter Soziologie.

Damien Hirst «Hydra und Kali» aus «Treasures from the Wreck of the Unbelievable», 2017

Eine große Lust auf das Schöne

Da wirkt ein Saal mit Renaissancegemälden wie eine Befreiung, ja Erlösung. Das Martyrium eines Heiligen Sebastian ist schmerzfrei spektakulär. Für uns heute steht das exzellente Handwerk, die venezianische Farbe, der florentiner Disegno, das malerische Genie im Vordergrund, die religiösen Sujets treten dahinter zurück. Man kann sich satt sehen, es tut gut, das Prachtkostüm eines Veronese-Porträts mit den Augen abzutasten. Es gibt wieder – wenn sie denn je abhandengekommen war – eine große Lust auf das Schöne, das in der zeitgenössisch-installativen Kunst kaum Platz hat. Die Renaissance feiert den Menschen als Individuum, zelebriert die Intimität der Körper, betont Intelligenz und Autonomie. Die Kirchenmotive wandern in die Mythologie. Und es zählt strahlend sichtbar der Einzelne, nicht der Schwarm.

Botticelli, Selbst

Nur: Wie oft haben diese Maler das Schreckliche dargestellt, die Vergewaltigung der Lukrezia zum Beispiel. An ihrer Geschichte, ihrem Selbstmord aus Scham und Schande ist nichts Schönes. Und wurde sie nicht auch deshalb so oft gemalt, weil Künstler wie Betrachter sich an ihrem Anblick erregen können? Oder Tizians Doge Francesco Venier: todkrank der alte Mann, im Hintergrund stehen venezianische Besitztümer in Flammen, es herrscht Krieg.

Tizian, Bildnis des Dogen Francesco Venier, 1554–56

Man kann das alles sehen und wissen, man muss aber nicht darauf eingehen. Darin liegt der Vorteil, die Ambivalenz der Alten Meister. Sie dürfen unverständlich sein im Detail. Um einen Tintoretto zu bewundern, muss man die Zusammenhänge nicht kennen. Natürlich war auch die Malerei der Renaissance in Venedig, Florenz oder Rom ein Politikum, ein riesengroßes Geschäft. Und Tintoretto ein harter Geschäftsmann. In der zeitlichen Distanz aber wird das zu Künstleradel.

Der zweite Grund der häufigen und gerade wieder sehr großen Renaissance-Begeisterung liegt in der Natur der Materie. Mantegna und Bellini in Berlin, Tizian in Frankfurt, das sind Museen auf Zeit, vorübergehend umsortierte, ergänzte ständige Sammlungen, die frische Neugier wecken. Das Vorhandene wird neu gesehen und wiederentdeckt. Glanzpunkt- Ausstellungen wie „Mantegna und Bellini“ sind immer auch nur Ausschnitte eines kaum zu überblickenden Gesamtgeschehens. Und in diesem Fall auch eine Familienzusammenführung – die beiden Maler waren verschwägert.

Bellini (nach Mantegna), Darbietung Christi im Tempel

Die Renaissance war von technischen Umwälzungen geprägt

Man glaubt ja nur, diese Maler und ihre Bilder zu kennen. Doch selbst in der Renaissance (oder gerade dort) trifft das nicht zu. Lorenzo Lotto war lange unterschätzt, gehört immer noch nicht zu den ganz „Großen“, wieso auch immer. Im Städel ist Jacopo Bassano kennenzulernen, ein mit dunklen Farben experimentierender Maler der Spätrenaissance. In der Berliner Gemäldegalerie hängen jetzt drei riesige Mantegnas aus dem Zyklus von Cäsars Triumphzug, die man sonst nicht so leicht sieht.

Geschicktes Labeling hilft auch. „Utrecht, Caravaggio und Europa“: In der niederländischen Stadt geht an diesem Sonntag eine Ausstellung zu Ende, die diverse Reizbegriffe vereint. Es ist eher die Zeit der Nach-Renaissance, aber auch hier gilt: Das Vergangene hat eine magische Leuchtkraft, wenn sich eine der heutigen Kunst anscheinend überlegene Meisterschaft mit Mythos verbindet.

Jacopo Bassano, Pastorale Szene, um 1560

Und drittens schließlich war die Renaissance stark von technischen Umwälzungen geprägt, von universellen Entdeckungen. Kolumbus ist soeben aus Amerika zurück. Die Portugiesen tauchen in Brasilien auf und gründeten ein – kurzlebiges – Weltreich. Laut Wikipedia erscheint im Jahr 1500 die erste europäische Straßenkarte (nach Rom), zum ersten Mal wird eine Frau per Kaiserschnitt entbunden. Da Vinci hat in Mailand da gerade das „Abendmahl“ geschaffen und davor Flugapparate skizziert. 1453 erobern die Türken Konstantinopel, 1512 stellt Kopernikus das Weltbild klar: Die Sonne steht im Zentrum.

Die Werke des rinascimento künden nicht von Chaos

Wenn man bei diesen Daten ein angenehmes Schaudern empfindet, dann hat es mit einer vielleicht auch nur eingebildeten zeitlichen Verwandtschaft zu tun. Im Wunderreich der Renaissance findet sich ungeheuer viel, das an das Heute erinnert, an Aufbruch, Weltfindung, exemplarischen technischen Fortschritt.

Botticelli, Die Versuchung Christi, 1482

Der Unterschied ist: Die Werke des rinascimento künden nicht von Chaos, sie atmen Ordnung und Symmetrie. Die Werke der Renaissancemaler zeigen, im wörtlichen Sinn, Perspektive. Sie verheißen einen guten Ausgang – in unseren Augen. Sie wirken optimistisch und kraftvoll angesichts der revolutionären Neuerungen, die sie abbilden und von denen sie ein Teil sind. Auch damals raste die Geschichte, doch in den digitalen Bildertornados des 21. Jahrhunderts laden diese Zeugnisse einer früheren Sturmzeit zum erholsamen Verweilen ein.

Die Welt anno 2019 fürchtet sich vor wissenschaftlichem Fortschritt, vor KI und Genmanipulation und weiteren radikalen Entdeckungen. Die Renaissancekunst, Produkt einer extrem unruhigen, ungeduldigen Epoche, übt jetzt merkwürdigerweise eine beruhigende Wirkung aus, zumal im Schutzraum der öffentlichen Museen, die in der Renaissance so noch nicht erfunden waren. Ein brodelnder Vulkan, der uns wie ein Anleitung zur Meditation erscheint, fast die perfekte organisierte Welt: Darin liegt ein grandioses Missverständnis.

Giorgione - Tizian, Concerto campestre

Nota. - Renaissance geht immer? Vor hundert Jahren war sie in Europa unpopulär, da schätzte mn mehr das Unebene, Krasse und Expressive. Die hatten eine wahre Krise noch nicht ganz hinter sich - und keine gefühlte noch vor sich.

Doch gehen die Kunstfreunde aus historischem Interesse in die Ausstellung - ich meine die Zehntausende, auf die heutzutage gerechnet wird?

Ich glaube, das Interesse hat doch mehr ästhetische Gründe, und zwar recht elementare. Mir selber war in jungen Jahren alles, was aus der Renaissance stammte, zu rund und zu glatt; zu positiv, würde ich heute sagen: zu eindeutig in der Aussage. Im Lauf der Zeit habe ich wachsenden Gefallen an der Landschaftsmalerei gefunden: die war ohne Aussage. Über Turner und Corot zog es mich zur Abstraktion, schließlich habe ich mich auch gerne unter den Modernen umgetan.

Und was soll ich sagen - seit gut zehn Jahren sehe ich mit zunehmenden Interess Renaissance-Malerei an. Wie das große Publikum. Vielleicht nicht wie das ganz große Publikum, aber ein bisschen schon.

Seit einem Jahrhundert belästigt einen Jeden, der sich mit der Kunst seiner Zeit abgibt, die heimliche, aber stichelnde Frage: Ist das denn noch Kunst? Je gebildeter er ist, um so überlegener schiebt er sie beiseite und behält doch das Gefühl, immer irgendwas rechtfertigen zu sollen. Das ist gut so, sage ich mir, damit hat die Schöne Kunst endlich zu ihrer Bestimmung gefunden. Aber ich sage mir auch: Auf die Dauer ist das hohl. Es dreht sich im Kreis. Es kommt zu keinem Ergebnis. Denn wohlgemerkt: Wenn die Kunst endgültig den Punkt errreichte, an den sie gehört und der ihre Berechtigung ausmacht - und wenn folglich alle so malten: Dann wäre die Kunst zu Ende.

Allerdings: Wenn die Kunst schließlich nur noch sich selbst zum Thema hat, weil sie alle anderen erschöpft hat, dann - ist sie auch zu Ende. Ästhetisch ist sie jedenfalls unproduktiv geworden.

Es ist ganz in der Ordnung, wenn das Interesse sich wieder den Anfängen zuwendet. Den Anfängen nämlich, als Kunst zur Kunst geworden ist: nicht länger ein Medium der Propaganda fide, sondern eine Tätigkeit aus eigenem Recht. Positiv, dass die Schwarte kracht. Bar jeden Zweifels an der eigenen Bestimmung: Schönheit und Natürlichkeit! Damit fing es an. Dem darf man sich vorbehaltlos hingeben, das wirft nach allem Augenschein keine Fragen auf, da kann man Ruhe finden.

Natürlich ist das auch eine höhere Form von Kitsch. (In jungen Jahren kam mir die Renaissance überhaupt kitschig vor, kitschiger als das krassere Barock.) Aber eben eine höhere: Sie hat die Ermattung und Erschöpfung DER KUNST hinter sich und kann es nicht vergessen, auch wenn sie es wollte, dass sich das Ganze schließlich doch in Selbstgefallen auflösen wird.
JE

  Jeff Koons


Mittwoch, 20. März 2019

Vor hundert Jahren wurde Lenny Tristano geboren.


aus derStandard.at,19. März 2019

Vor 100 Jahren wurde Jazz-Erneuerer Lennie Tristano geboren
Der blinde Virtuose beschenkte den Jazz mit der kühlen Schönheit der Abstraktion und führte ihn so in die Zukunft

von Ronald Pohl

Wenn Lennie Tristano hinter seinen Klaviertasten jemals gelächelt haben sollte, so hat sich dieses Wunder leider nicht überliefert. Der Miterfinder des US-Cool-Jazz, ein Kind italienischer Einwanderer in Chicago, das mit zehn Jahren erblindete, war allem Anschein nach recht humorlos. Dabei erlernte Klein-Lennie auf der Blindenschule nicht nur das Klavierspiel, er versuchte sich obendrein an Saxofon, Klarinette und Cello.

Als klassischer Musikstudent fand Tristano immerhin Muße, zu vorgerückter Stunde Dixieland zu blasen. Damit nicht genug, bewegte er als Rumbaspieler die Tanzbären in Cocktailbars. Er beherrschte auf Nachfrage sogar den Trick, zwei Klarinetten und drei Saxofone (oder war es umgekehrt?) gleichzeitig zu blasen.

Lust an Mätzchen

Hübsche Anekdoten. Sie beweisen, dass dieser so verkniffen dreinblickende Mann doch auch Lust an Mätzchen besaß. Berühmt wie berüchtigt wurde Lennie Tristano (1919–1978) später dafür, der amerikanischen Unterhaltungsmusik des Jazz das Verschwitzte ausgetrieben zu haben. Mithin alles Kulturindustrielle, das Käufliche, das noch Theodor W. Adorno zur Weißglut trieb. Von nun an meinte, wer Jazz sagte, Kunstmusik. Cool-Jazz hingegen bedeutete ab 1950, ausdrucksvolle Linien (häufig in kleinen und großen Sekunden) zu spielen, manchmal auch mehrstimmig und gegeneinander, sie jedoch ohne Überdruck zu intonieren.


317east32nd Lennie Tristano 1965

"Kühl" war Lennie Tristanos Musik nicht bis ans Herz. Sie strahlte nur kristalline Unnahbarkeit aus. Sie verweigerte Unterbrechungen: Zäsuren in der Kadenz, um Improvisationen nicht mutwillig zu unterbrechen.

Halb sehnsüchtig, halb hochmütig

Die "neue" Kunst sollte ein zerebrales Vergnügen sein. Dabei durften gerne auch Harmonieschemata vernachlässigt werden. Der Jazz pflanzte sich – sinnbildlich – an der US-Küste auf und blickte, halb sehnsüchtig, halb hochmütig, hinüber zur zeitgenössischen Neuen Musik. Wie es auch kein Zufall ist, dass Dave Brubeck Schüler von Darius Milhaud war. Und der Zahnarztsohn Miles Davis als Student mit glühenden Ohren Partituren von Debussy zu Tode analysiert hatte.

Etwa zur Mitte der 1940er-Jahre war die Bebop-Revolution losgebrochen. Und unter den Genies dieser Tage, Charlie Parker, Dizzy Gillespie, Bud Powell, Fats Navarro, sah man auch diesen auffallend bleichen Klavierspieler, für den es keine Off-Beat-Phrasierung zu geben schien. Der seine Tonketten mit der Präzision eines Schülers von Johann Sebastian Bach nacheinander auffädelte.

Freuden der Pädagogik

Legionen junger Wilder (im Anzug), die meisten von ihnen Afroamerikaner, schleuderten den verdutzten Jazzfans Myriaden von Tönen an die Köpfe. Lennie Tristano tat das auch. Er frönte dabei jedoch der Abstraktion. Er sammelte zum Ende des Jahrzehnts wie ein Zen-Meister Schüler um sich. Den Altsaxofonisten Lee Konitz, den Tenoristen Warne Marsh und manche andere.


tadeus jazz Tristanos Requiem aus 1955.

Die Herrschaften mussten Tristanos Phrasen nachspielen. Mehrere solcher Phrasen wurden zu Linien zusammengesetzt und schließlich aufgeschrieben. Jeder Solist bekam zum Beispiel nur zwei Chorusse. Es oblag seinem instrumentalen Geschick, in der vorhandenen Zeit alle Töne unterzubringen. Gelegentlich meint man noch heute bei Genuss dieser Aufnahmen von 1949 oder 1951 Fünfer- oder Sechsergruppen von Außerirdischen beim (instrumentalen) Morgengebet zu lauschen.

Faszinierende Zukunft

Tristano selbst war viel zu introvertiert als Intellektueller, um als Kassenknüller Karriere zu machen. Er gründete eine Schule in der 32nd Street in Manhattan und unterrichtete spätere Größen wie Art Pepper oder Mary Lou Williams. Der Blinde nahm im eigenen Aufnahmestudio über einer Garage einige der verblüffendsten Pianoplatten der Jazz-Geschichte auf. Nummern wie den Turkish Mambo, in dem er unterschiedliche Ostinato-Figuren im 3er-, 5er- und 7er-Metrum übereinanderlegte. Das hört sich noch heute an wie Musik aus einer faszinierenden Zukunft.

Dieser Howard Hughes des Jazz plädierte in der Musik für eine "Befreiung des Gefühls". Seiner eigenen hielt er zugute, dass der Hörer sich in der entkrampfenden Situation befinde, nicht zu wissen, was als Nächstes kommt. Nur der Nostalgiker rechne fest mit dem Erwarteten. Nostalgiker, so Tristano, seien Neurotiker. Noch heute verbreiten Jünger wie Lee Konitz und Lenny Popkin (Saxofon) die strenge Frohbotschaft dieses seltsamen Heiligen.