Mittwoch, 27. November 2013

Rafael Moneo in A Coruña.

aus NZZ, 27. 11. 2013                                                                                                                    "Kursaal" in San Sebastián

Nur keine Fremdkörper produzieren
Die nordwestspanische Stadt A Coruña widmet dem Architekten Rafael Moneo eine grosse Werkschau 

von Brigitte Kramer · Vergilbtes Pauspapier, dicke Bleistiftlinien, Beschriftungen mit schablonierten Buchstaben, immer wieder dieselbe handschriftliche Signatur, Licht- und Schattenspiele, Fotos aus der Vogelperspektive, städtische Landschaften mit Menschen in altmodischer Kleidung, Blicke in Gänge und Höfe - die Exponate der grossen, dem 1937 in Tudela geborenen Architekten Rafael Moneo gewidmeten Ausstellung in den Räumen der Fundación Barrié im nordwestspanischen A Coruña betören. Insgesamt 46 Bauten und Projekte aus 52 Jahren werden mit 98 Skizzen, 18 Modellen und 142 Fotos dokumentiert. Das Material stammt aus dem Studio in Madrid, wo seit 1973 Hunderte von Architekten gearbeitet haben. Viele davon sind heute herausragende Vertreter ihrer Zunft. Der Kurator Francisco González de Canales und die Ausstellungsmacherin María Fraile - beide Architekten und Schüler von Moneo - haben mit ihrer «Rafael Moneo - una reflexión teórica desde la profesión» betitelten Schau dem grossen spanischen Architekten ein Denkmal gesetzt.


 gottlob nicht realisiert: Entwurf 1962

Streben nach Harmonie

Der Ausstellungsrundgang vermittelt Eindrücke einer Laufbahn, die 1961 mit dem Studienabschluss in Madrid begann und bis heute währt. Diese Schau und der Katalog würden ihm helfen, wenn er sich wieder einmal frage, wer er eigentlich sei, sagte Moneo bei der Eröffnung. Dabei hat er sich bis anhin schwergetan mit der Präsentation seines Schaffens. Die letzte Ausstellung fand im Frühjahr 2002 in der Fundació Miró und dem Col.legi d'Arquitectes in Palma de Mallorca statt und beleuchtete sein Schaffen der 1990er Jahre. Jene Dekade steht für Spaniens wirtschaftlichen Boom und gilt auch als eine der wichtigsten in Moneos Werk. Damals entstand der neue Atocha-Bahnhof in Madrid. Das Museum der Miró-Stiftung in Palma de Mallorca und der Flughafen von Sevilla wurden 1992 eröffnet. 1999 kam der Kursaal von San Sebastián dazu. Gleichzeitig begann Moneo mit der langwierigen, erst 2007 vollendeten Erweiterung des Prados in Madrid, stellte ein Museum in Houston und das neue Moderna Museet in Stockholm fertig und errichtete eine Kathedrale in Los Angeles, um nur einige herausragende Werke zu nennen. Im Jahr 1996 erhielt er zudem den Pritzkerpreis.


 Museum der Miró-Stiftung in Palma de Mallorca

Der Architekt hat während Spaniens Boomjahren sehr viel gebaut. Dennoch hat er nirgendwo «einen Moneo» hinterlassen. «Mich interessiert es nicht, dass meine Bauwerke meine Handschrift tragen», sagt er, «mich reizt es, Antworten auf die Vielfalt der Städte zu geben, ihre Heterogenität begeistert mich immer wieder.» Moneo benutzt häufig die Verben einpassen, ausgleichen, zusammenfinden, ergänzen. Gleichwohl fügen sich seine Gebäude nicht immer ins Umfeld ein, wie etwa das Madrider Krankenhaus (2003) oder die Universitätsbibliothek von Bilbao (2009) beweisen.


Biblithek der Universität Deusto/Bilbao

Schon am Anfang seiner Karriere strebte Moneo nach Harmonie. Einen Leitgedanken seiner Arbeit formuliert er beim Rundgang durch die Ausstellung mehrmals: «Hier stellte ich mir wieder die Frage: Wenn ich da etwas Zeitgenössisches hineinsetze, wird man das in fünfzig Jahren für einen Fremdkörper halten?» Eines seiner ersten wichtigen Gebäude war das kleine «Bankinter»-Scheibenhochhaus von 1976 an Madrids Paseo de la Castellana. Die Strasse wandelte sich in den 1970er Jahren von einer Adresse alteingesessener Familien zur Finanz- und Verwaltungsmeile. Schon damals, in einer Zeit, die nicht viel für Altbauten übrig hatte, beschloss Moneo, ein verspieltes Palais auf dem Eckgrundstück nicht abzureissen, sondern seinen Neubau dahinterzusetzen. Den Eingang zur Bank verlegte er kurzerhand in die Seitenstrasse. Das Hochhaus hat, wie das Haus aus dem 19. Jahrhundert vor ihm, eine rote Ziegelfassade und wirkt damit wie dessen entfernter Verwandter.


 «Bankinter»-Scheibenhochhaus von 1976

Das wohl schönste Beispiel für Moneos Bedürfnis nach gedanklicher Einheit und baulicher Verschmelzung mit dem Kontext ist das Museo de Arte Romano im südwestspanischen Mérida (1980 bis 86). Die Skizzen zeigen, wie tief sich der Architekt in die Lage und das Umfeld des Gebäudes hineingedacht hat. Neben den Plänen hängt eine Zeichnung, bei der Moneo im Stil von M. C. Escher Bogengänge, Etagen und Gänge offen legt. Das Ergebnis ist ein Haus, das der Architekt als «beinahe geologischen Zeugen der Stadt» empfindet. Die gesamte Geometrie des Gebäudes ist an der Lage der Ruinen und dem Verlauf der Römerstrasse orientiert. «Die archäologischen Reste sind hier keine Museumsstücke, sondern Teile eines Gebäudes, das als Ganzes auf das lange vergessene Erbe der Stadt verweist», sagt er. Das Museum erregte nach seiner Eröffnung weltweites Aufsehen. Es hat Moneo und die Architekten Spaniens international bekannt gemacht und vielen zu prestigeträchtigen Aufträgen verholfen. 


 Römisches Museum, Mérida

Gelungene Ausstellung

Auch in Sevilla, wo der unvollendete Hochhausturm des Argentiniers César Pelli seit ein paar Jahren für Diskussion sorgt, hat Moneo gezeigt, wie eng zeitgenössische Architektur und Baudenkmäler zusammenleben können. Zwischen den Giralda-Turm und die Torre del Oro, beides Sinnbilder der maurischen Vergangenheit Sevillas, hat er in den 1980er Jahren das Verwaltungsgebäude einer Versicherung errichtet. Anstatt in Konkurrenz mit der Stadt zu treten, suchte Moneo mit einem extrem flach gehaltenen Gebäude den Ausgleich mit der Umgebung. Der horizontale Bau mit tiefem Schieferdach und durchbrochener Ziegelfassade erinnert an ein andalusisches Landgut. Eine glücklichere Lösung lässt sich kaum denken.
 
Sevilla, Versicherungsgebäude

Viele bauliche und gedankliche Verflechtungen gibt es in Moneos Zeichnungen zu entschlüsseln. Seine Skizzen sind wahre Meisterwerke. Sie belegen, wie wichtig die langsame Annäherung an ein Projekt ist. Und sie vermitteln Studioatmosphäre, fast riecht man Bleistift und Papier. In Zeiten der Arbeit am Bildschirm wirken die Zeichnungen fast schon wie Antiquitäten. Moneo hält abschliessend fest, Gebäude könne man nicht ausstellen, wohl aber Gedanken und Eindrücke. Man kann ihm angesichts der gelungenen Schau nur beipflichten.

Bis 30. März 2014. Katalog: Rafael Moneo. Una reflexión teórica desde la profesión. Materiales de archivo (1961-2013). Fundación Barrié, A Coruña 2013. 249 S., € 25.- (www.fundacionbarrie.org/).


Nota.

Mir hat es besonders der Kursaal (ein deutsches Fremdwort im Spanischen - das gibt's) in San Sebastián angetan, den Sie schon im Kopfbild gesehen haben. Nicht, dass ich ihn an sich schön fände. Aber dort, wo er steht, passt er so vollkommen hin wie die Faust aufs Auge. (Das gilt übrigens auch für die Bibliothek in Bilbao; und aus denselben Gründen, weshalb es dort für das Gehry-Museum gilt.) Und so klotzig und plump, wie er, für sich genommen, wirken müsste, so abwechslungsreich erscheint er in seiner Umgebung.


Unter diesem Gesichtspunkt könnte sich noch der schrillste skulpturale Solitär rechtfertigen - wenn er nur an der richtigen Stelle steht. (Das ist aber in den meisten über Jahrhunderte gewachsenen Städten selten der Fall; doch dort können eben Ausnahmen die Regel bestätigen.)
JE 

Dienstag, 26. November 2013

Peter Schlör - 'Light Shift' in Linz.

aus derStandard.at, 26. November 2013, 17:36

Eine Empfindung für Licht
Die Landesgalerie in Linz widmet dem deutschen Fotografen Peter Schlör unter dem Titel "Light Shift" eine getragene Einzelausstellung 

von Wiltrud Hackl
 
Linz - Eine Landschaft, in hartes Licht getaucht, die Belichtung hält sich an einer reflektierenden Fläche - einer Hauswand etwa - fest, die Umgebung wird in Dämmerlicht gehüllt, ohne an Kontur zu verlieren: unwirklich, irreal, irritierend sind Peter Schlörs Fotografien, die er meist auf den Kanarischen Inseln, manchmal in der Türkei oder in Island aufnimmt.


 
Er warte, so Schlör, oft sehr lange. Darauf, dass der Sonneneinfall sich verändert oder dass plötzlich Stellen beleuchtet werden, die kurz davor noch im Dunkeln lagen. Schlör verändert seinen Blickwinkel auf das gleiche Motiv oft nur minimal und macht durch Serien deutlich, wie viel diese minimale Orts- und dadurch Lichtverschiebung bewirkt, wie sehr sich dadurch eine Szenerie in ihrer Atmosphäre verändert.



Es ist ausschließlich natürliches Licht, das für viele zeitgenössische Fotografen zu wenig weich, zu gleichmäßig, zu wenig sachlich sei. Schlör hingegen sucht genau dieses nicht neutrale, nicht gleichmäßige Licht, sondern fotografiert bei gleißend hellem Sonnenschein - in bewusster Abgrenzung zur fotografischen Praxis etwa der Düsseldorfer Schule (Bernd und Hilla Becher) und einer Neuen Sachlichkeit, wie sie Andreas Gursky oder Thomas Ruff pflegen.



Unser Empfinden für Licht nehme ohnehin beständig ab, konstatiert Schlör. Auch erkennt der Künstler eine gegenwärtige Anhaftung am Objekt, von der unsere Wahrnehmung betroffen sei: Je mehr man am Gegenständlichen hänge, desto weniger sehe man eigentlich, ist er überzeugt. Auch wenn ihn Häuser und Gebäude, auf die er sich in früheren, noch nicht abgeschlossenen Zyklen konzentrierte, weiterhin interessieren - wenngleich ausschließlich in ihrer Dimension als Archetypen. Bezieht der Künstler Siedlungen mit ein, dann wirken sie oft hermetisch und isoliert, ein Eindruck, den Schlör teilweise mit überdimensionalen Passepartouts verstärkt. 


 

Gegenständliches, sofern überhaupt vorhanden, fügt sich in den Arbeiten, die nun in der oberösterreichischen Landesgalerie zu sehen sind, jedenfalls in eine Textur aus Landschaftslinien, Wolken- oder Gesteinsflächen. 

Bis 12. 1. 2014
Link
www.landesgalerie.at


Nota.

Das ist ja nicht jeden Tag so, dass ich mit einem Künstler, von dem ich berichten kann, rundum zufrieden bin. Darum hier gleich noch ein paar Bilder:
 
Würden die Fotos entfernt denselben Eindruck machen, wenn sie in Farbe wären? Ist das Schwarz-Weiß-Format also nur ein manierierter Trick? Führt es nicht bloß dazu, dass man mehrmals hinsehen muss, um zu erkennen, was es darstellt? Aber 'das, was es darstellt' ist ja eben nicht der Gegenstand der Fotos. Ihr Gegenstand ist: wie es aussieht. Bernd und Hilla Becher haben das auch gemacht - aber da sie Menschenwerk und obendrein noch Fabriken abgelichtet haben, haben sie ihren Gegenstand ästhetizistisch vergewaltigt; denn er 'hatte was zu bedeuten'. Schlör bringt Landschaften, und die bringt er auf diese Art ästhetisch zur Geltung; an sich selber haben sie nämlich nichts 'zu bedeuten'. 
JE

Montag, 25. November 2013

Die Geburt der Stadtvedute.

aus Neue Zürcher Zeitung, 19. 12. 09                                                                                                            Il Sassetta, Siena, Anf. 15. Jhdt.

Die Entdeckung der «schönen Stadt» 
Über die Geburt der Stadtvedute

Die Stadt ins Bild zu rücken, ist nicht seit je selbstverständlich. Schließlich ist der ummauerte Freiraum nicht selten chaotisch, schmutzig und auch übelriechend. Wie kommt es dazu, dass die Stadt für bildwürdig gehalten wird? – Ein kulturhistorischer Rückblick.

Von Bernd Roeck

Im letzten Drittel des 15. Jahrhunderts machte sich ein bis heute unbekannter Holzschneider daran, das Bild von Florenz anzufertigen. Man kann die grossen Kirchen erkennen, Santa Croce etwa und den Dom. Der Palazzo Vecchio ist auszumachen, das Baptisterium; dazu die mächtigen Stadtmauern und der Arno, der Florenz durchquert. Merkwürdigerweise umwindet er sein Bild mit einer Kette. Daher hat der Holzschnitt seinen Namen: «Plan mit der Kette». Es ist die erste bildliche Darstellung, die eine identifizierbare Stadt zum Thema hat und nur sie. Wie für so vieles – die Zentralperspektive, die doppelte Buchführung, die Wiederentdeckung der Antike in der Architektur – ist Florenz der Ort, an dem die neuzeitliche Stadtvedute ihr Début gibt.
 
Plan mit der Kette

Physik und Metaphysik

Anfangs hatten Zeichner und Siegelschneider die Stadt allein durch Symbole dargestellt. Manchmal wurden einzelne Gebäude, etwa ein Stadttor, als Zeichen des Ganzen genommen. «Stadt», das war im Mittelalter ja einfach ein ummauerter Raum gewesen, eine Festung, die vor irdischen Feinden und dämonischen Mächten schützte. Die Schönheit dieses Gebildes war nicht ganz von dieser Welt gewesen. Die Ansammlungen von wehrhaften Mauern, von Toren und Türmen erschienen als Abbilder heiliger Städte, Jerusalems und Roms. Ihre Form verwies auf Gott und Heilige, unter deren Schutz ihre Einwohnerschaft sich wusste. Die Darstellungen, die sich auf Siegeln und anderswo von ihnen finden, hatten mit gemauerter Wirklichkeit wenig, mit Metaphysik viel zu tun.

Bilder, die mehr sein wollten als Symbole, dringen, nach bemerkenswerten Vorläufern in der Kunst Sienas um 1350, im 15. Jahrhundert vor. Sie sind aber zunächst allein Staffage für Themen, die auf anderes fokussieren, etwa biblische Erzählungen. Viele der frühen Ansichten hatten den Zweck, durch die Erinnerung an heiliges Geschehen wie das Martyrium eines Stadtheiligen fromme Gefühle hervorzurufen. Eine in Venedig gedruckte Gebetsanleitung aus der Mitte des 15. Jahrhunderts, der «Zardino de Orazion», empfahl, man solle sich gut bekannte Örtlichkeiten denken und Szenen der Passion darin spielen lassen; den Akteuren – Christus, Heilige, Maria -, so der Text weiter, seien die Physiognomien vertrauter Personen zu verleihen. So konnte das Leiden des Herrn besser nachempfunden werden. Piero della Francesca zum Beispiel zeigte im Hintergrund einer Szene des Freskenzyklus, der die Kreuzeslegende darstellte, nicht Jerusalem, sondern das toskanische Arezzo. 

Piero dell Francesca, Kreuzfindung, Arezzo, Ausschnitt

Die mehr oder weniger «naturgetreuen» Stadtansichten der «Chroniques de France» und in Schweizer Bilderchroniken stehen im Kontext der Berichterstattung über historische Ereignisse. Auch die exzeptionelle Neapel-Ansicht Francesco Rosellis, entstanden um 1470, ist nur Kulisse für die Darstellung eines Ereignisses, nämlich der Rückkehr der aragonesischen Flotte von einer Schlacht. Bilder wie dieses zeigen, dass die technischen Verfahren, deren es zur Herstellung naturgetreuer Stadtansichten bedurfte, vorhanden waren. Die Heiligen und andere Akteure mussten eigentlich nur die Bühne verlassen und den Blick auf die Stadt freigeben.

Tavola Strozzi, Francesco Roselli zugeschrieben
 
Der «Plan mit der Kette» bleibt nicht lange ein Solitär. Hartmann Schedels «Weltchronik», 1493 in Nürnberg gedruckt, ein verlegerisches Grossprojekt, enthält über 1800 Holzschnitte, unter denen viele Stadtdarstellungen sind. Exakt im Jahr 1500 folgt Jacopo de’ Barbaris monumentale Vogelschauansicht Venedigs, ein aufwendiger, detailreicher Holzschnitt, der Einblicke in gefrorenes Alltagsleben am Morgen der Moderne gewährt. Ein nördliches Gegenstück liegt zwei Jahrzehnte später vor, in Gestalt der 1521 fertiggestellten Augsburg-Vedute des Goldschmieds Jörg Seld. Sie ist vom venezianischen Vorbild inspiriert. Ebenfalls seit dem 16. Jahrhundert bemächtigen sich auch die Maler des Themas «Stadt». Rätselhafte Vorläuferin ist eine kleine, im 14. Jahrhundert in Siena entstandene Holztafel [s. Kopfbild].

Augsburg, Stadtplan von Jörg Seld, Ausschnitt


Frühe Höhepunkte
 
Die Zahl der gemalten und gedruckten Stadtveduten geht schon im 16. Jahrhundert in die Tausende. Höhepunkte markieren Sebastian Münsters «Cosmographia», Johann Stumpfs «Eidgenössische Chronik» und die «Städte des Erdkreises», die Georg Braun herausgab und der Stecher Frans Hogenberg mit Illustrationen versah (seit 1572). Alle Vorläufer stellt das Stichwerk Matthäus Merians in den Schatten. Mit seiner Sammlung prächtiger Veduten, die 1642 ihren Siegeszug auf dem europäischen Buchmarkt begann, erhielt praktisch jede europäische Stadt von Bedeutung ein Dokument ihres Aussehens.

Basel
 
Die Entstehung der autonomen Stadtvedute ist ein faszinierender Vorgang. Es ist ja keineswegs selbstverständlich, dass die Stadt – ein bei genauerer Betrachtung oft nicht mehr als chaotisches, manchmal übelriechendes Unternehmen prosaischer Daseinsvorsorge – für bildwürdig gehalten, mithin als «schön» angesehen wird.

 
Den Bildern ging ein lang anhaltender Urbanisierungsprozess voraus. Begünstigt durch eine vorteilhafte Klimaentwicklung, die mittelalterliche Warmzeit, war es zu einem wirtschaftlichen und demografischen Aufschwung gekommen. Er gewann um die Mitte des 11. Jahrhunderts an Dynamik; die Leute rodeten das Land, gründeten Siedlungen, von denen sich viele zu Städten aufschwangen. Um 1150 gab es in Mitteleuropa etwa zweihundert Städte und stadtähnliche Gebilde; zweihundert Jahre später hatte sich diese Zahl mehr als versiebenfacht. Während dieser Zeit waren Rechner und Vermesser gefragt. Die Vorstellung, die mittelalterliche Stadt sei, einem Lebewesen gleich, gewissermassen aus sich selbst gewachsen, ist ein romantischer Mythos. Vielmehr wurde nun geplant und abgesteckt; man spannte Schnüre, Kreise wurden in den Boden geritzt und Geraden gezogen.
 

Matthäus Merian, Darmstadt

Man muss diese Vorgänge aber aus den Grundrissen lesen. Schriftlichen Niederschlag hat die Planungsarbeit nämlich meist nicht gefunden. Eine immer mehr Einzelheiten regelnde Baugesetzgebung begegnet zuerst in Gestalt der Statuten italienischer Städte. Spätestens im 12. Jahrhundert geht es darin nicht mehr nur um Hygiene, Feuerschutz und andere praktische Fragen, sondern auch um Schönheit, um die «bellezza» der Stadt. Die eindrucksvollsten Beispiele dafür finden sich in den Statuten von Siena und Florenz.
 
Die Gesetze flankierten hier und anderswo ausserordentliche städtebauliche Projekte. Die Kommunen nutzten die Architektur, um Reichtum und Grösse zu demonstrieren, aber auch, um ihren eigentlichen Stadtherren – Gott und den Heiligen – Ehre zu erweisen. Man wollte die grösseren Paläste, die höheren Türme, die schöneren Strassen als der jeweilige Nachbar besitzen. Macht hat ja immer Architektur genutzt, um von sich ein Bild zu geben. So entstand im Italien des Mittelalters und der Renaissance eine der eindrucksvollsten Städtelandschaften der Welt.
 
Ihre frühesten Spiegelungen fand diese Entwicklung in der Literatur, im «Städtelob». Den Auftakt neuzeitlicher Stadtpanegyrik macht Leonardo Brunis «Lob von Florenz»; der Florentiner Kanzler und Humanist schrieb es 1403/04 nieder. Seine Stadt tritt damit in direkte Beziehung zu einer anderen Weltstadt der Kultur, nämlich zu Athen. Der Text hat die Athen-Lobrede des Aelius Aristeides (117-187 n. Chr.) zum Muster. Brunelleschis Domkuppel, die nun emporwuchs und, nach den Worten eines Chronisten, ihren Schatten über die Völker der Toskana warf, wurde zum machtvollen Manifest kommunalen Selbstbewusstseins und Ausdruck bürgerlicher Frömmigkeit.
 

 
Erst um die Mitte des 15. Jahrhunderts wurden die Stadt und die Ästhetik ihrer Architektur zum Gegenstand theoretischer Reflexion. Den Anfang machten Leon Battista Albertis «Zehn Bücher über die Baukunst», mit denen die nachantike Architekturtheorie ihren Anfang nimmt. Es folgten die Traktate des Florentiners Antonio Averlino und Francesco di Giorgio Martinis, der vor allem als Festungsbaumeister des Herzogs von Urbino hervortrat. Im Umkreis des urbinatischen Hofes entstanden auch drei ebenso berühmte wie rätselhafte Bilder, von denen sich eines noch immer in Urbino, die beiden anderen in Baltimore und Berlin befinden. Sie zeigen merkwürdige, nahezu unbelebte städtische Szenerien, imaginäre Traumgebilde, die an Giorgio De Chiricos metaphysische Städte denken lassen. Sie illustrieren die nun immer lebhafter werdenden Diskussionen um die ideale Stadt, die sich im Traktat Francesco di Giorgios als kristallines, nach den Gesetzen der Geometrie geformtes Gebilde zeigt, das bereits die Schrecken moderner Urbanistik vorausahnen lässt.

Die ideale Stadt (u.a. Leon Batista Alberti zugeschrieben)
 
Die Karriere der Stadtdarstellung gehört aber in einen noch weiteren, umfassenderen Zusammenhang. Ihre Etablierung als eigene Gattung hat ja Parallelen: Etwas früher dringen «naturnahe» Porträts vor, Reflexionen über das Subjektive also; dazu kommt eine wachsende Zahl mythologischer Darstellungen. Stillleben, autonome Landschaft und Genrebild folgen. Das 16. Jahrhundert erlebt überhaupt eine beträchtliche Zunahme von Bildern mit weltlichen Themen. Die allmähliche Säkularisierung der Kunst, zu der die Etablierung der Stadtvedute gehört, ist ein bedeutender Aspekt der kulturellen Revolution, die sich hinter dem Schlagwort «Renaissance» verbirgt.

Idealstadt, um 1480
 
Die Entzauberung der Bilder verläuft weder kontinuierlich noch linear; sie wird aber nicht aufgehalten, nicht einmal durch die Glaubenskontroversen und Religionskriege des 16. und 17. Jahrhunderts. Italienische Kunstschriftsteller machen sich daran, die Räume der Kunst präziser zu umgrenzen. In Kirchenräumen wird reglementiert und zensiert; jenseits der sakralen Zonen haben die Bilder bald alle Freiheit, die Dinge der Welt abzubilden, selbst Überspanntes und Obszönes. Was die Stadtveduten betrifft, so entspricht der Entfaltung der Gattung ein Wandel ihrer Funktionen. In Schlössern und Kommunalpalästen begegnen immer häufiger Darstellungen, mit denen die Hausherren ihre Herrschaft demonstrieren. Und die prächtigen Stadtbücher waren Vorläufer des Fernsehgeräts. Sie dienten als Vehikel für geistige Reisen.
 

Canaletto, Die Themse und die Londoner City von Richmond House gesehen

Wie humanistische Lobredner ihre Städte ansehnlicher machten, als sie in Wirklichkeit waren, wie sie stinkenden Unrat, Misthaufen und Schlamm auf den Strassen verschweigen, so sind auch die Veduten geschönte Bilder. Wird doch einmal ein Galgen samt baumelndem Missetäter ins Bild gerückt, unterstreicht das unschöne Detail nur, dass die jeweilige Stadt über die Hochgerichtsbarkeit verfügt, Macht hat über Leben und Tod. Selbst das Bild der Richtstätte wird so zum Accessoire patriotischen Stolzes. Dazu werden wichtige Gebäude übergross abgebildet und in «reale» Topografien placiert; aber die Künstler retuschieren, polieren, arrangieren. Sie wählen imaginäre, erhöhte Standpunkte und kombinieren unterschiedliche Perspektiven, so dass alles Wichtige ins Bild kommt; sie verbreitern Strassen und verbergen Bretterbuden, den Schindanger oder Ruinen.

Caspar van Wittel-Vitellio, Trevi-Brunnen, Rom
 
Für solche Abweichungen von der Wirklichkeit lassen sich theoretische Begründungen finden. Die Theoretiker der Renaissance forderten zwar unverdrossen, es komme darauf an, die Natur nachzuahmen, also die Welt so zu zeigen, wie sie ist. Doch brachten sie zugleich das Kriterium des «decorum» ins Spiel: Die Maler hatten Schicklichkeit zu wahren, Hässliches – auf Porträts etwa körperliche Mängel – zu verschweigen. Sie sollten die Dinge zurechtrücken, die Realität organisieren, Poesie, nicht Prosa geben.
 
Autonomie der Stadt – und der Bilder
 
So geht mit der Entdeckung der Stadt als Thema der Kunst ihre Idealisierung einher. Die Bilder pflanzen ästhetische Muster ins kollektive Gedächtnis, die die Vorstellungen von dem, was eine «schöne Stadt» ausmacht, von nun an nachhaltig bestimmen. Fotografische Aufnahmen von Städten folgen noch bis zu Ansichtspostkarten der Gegenwart häufig der Bildregie, die von den Künstlern der Renaissance und des Barock entwickelt worden ist. 

El Greco, Toledo, 1610/14

Eine neue, veränderte Qualität erreicht das neuzeitliche Stadtbild mit der Toledo-Vedute El Grecos (1610/14) und mit Vermeers Ansicht von Delft (um 1660/61). Es sind Bilder, für die das Thema «Stadt» nur noch Vorwand ist, um eigene ästhetische Strukturen zu entwickeln. Das geschieht bezeichnenderweise zur selben Zeit, als die Verfahren zu einer fast fotorealistischen Wiedergabe von Stadtbildern perfektioniert werden. Im 17. Jahrhundert hat eine Tradition ihre Anfänge, die bis zu den Stadtbildern der Impressionisten, zu den «Schnappschüssen» Caillebottes, schliesslich zur Avantgarde des 20. Jahrhunderts reicht und in den Stadtinterpretationen Légers, Klees, Kokoschkas kulminiert. Ihre Gemälde und Grafiken wollen die «wirkliche» Stadt, die längst über Fotografien und Filme reproduzierbar ist, nicht mehr einfach spiegeln. Sie nehmen sie als Anregung zur Schöpfung von Kunstwerken, bei denen es nur noch um Farben und Formen geht.
  
Caillebotte, Straße in Paris, an einem Regentag, 1877
Prof. Dr. Bernd Roeck lehrt und forscht als Historiker an der Universität Zürich. Er leitet ein Projekt des Schweizerischen Nationalfonds zur Entwicklung des Bildes der Schweizer Stadt. 


Nota.

Er hätte die städtische Vedutenmalerei in einen Zusammenhang mit der Landschaftsmalerei stellen sollen. Um dann die Stadtvedute in einem spezifischen Gegensatz zur Landschaftsvedute darzustellen; nämlich als Gegensatz von (vernünftig konstruiertem) Menschenwerk und (blind wuchernder) 'Natur'! Da wäre eine Menge herauszuholen.
JE 

Samstag, 23. November 2013

Balthus im Metropolitan.

aus NZZ, 23. 11. 2013                                                                                                                    Thérèse rêvant

Der gelenkte Blick
«Cats and Girls. Paintings and Provocations» - Balthus im New Yorker Metropolitan Museum
 

Balthus' Bilder, in denen träumende kleine Mädchen auf der Schwelle zur Pubertät in anzüglichen erotischen Posen dar-, oder besser: ausgestellt werden, machen uns zu Komplizen des voyeuristischen Blicks.

von Andrea Köhler

Der charmanteste Teil der mit dem kitschverdächtigen Titel «Cats and Girls» versehenen Balthus-Ausstellung im New Yorker Metropolitan Museum stammt von dem elfjährigen Balthasar, der den Verlust seiner Katze in einer hinreissenden Bildergeschichte verarbeitet hat: In vierzig schwarz-weissen Tuschzeichnungen erzählt er von der vergeblichen Suche nach der geliebten «Mitsou». In ihrer freien rhythmischen Komposition und expressiven Lebendigkeit zeugen diese - hier erstmals gezeigten - Zeichnungen von dem enormen Talent des Knaben, einem Talent, das Rainer Maria Rilke, der eine Zeitlang der Geliebte von Balthus' Mutter war, zu seinem Mentor und Förderer werden liess. Rilke schrieb zu der 1921 als Buch erschienenen Bilderserie ein Vorwort. In Zeiten, in denen Katzenvideos der Hit des Internets sind, fragt man sich, warum bisher noch niemand auf die Idee kam, diesen bezaubernden Vorläufer wieder aufzulegen.

 Gitarrenstunde

Als Balthasar Klossowski, der damals auf Anraten Rilkes den Namen «Baltusz» auf den Buchumschlag schreiben liess, den Verlust seiner ersten Liebe in Bilder umsetzte, war er in dem Alter der jungen Mädchen, die später sein Hauptsujet werden sollten. «Cats and Girls» waren die Obsession des 2001 verstorbenen Malers, der sich in einem Selbstporträt als «Roi des chats» bezeichnete; das Bild, auf dem sich ein mächtiger Kater an die Hosenbeine eines melancholisch blickenden Dandys mit Löwenbändiger-Peitsche schmiegt, stammt aus dem Jahr 1935. Es hängt am Beginn der chronologisch gehängten Schau, die Bilder aus den ersten Jahrzehnten von Balthus' Karriere zeigt.

 Selbstporträt 1935

Aus der Zeit gefallen

Balthus wurde 1909 in Paris in einen deutsch-polnischen Künstlerhaushalt geboren und hat sich - nebst vielen anderen Manierismen - eine adlige Herkunft ersonnen, die er zuletzt in seinem Grand Chalet in Rossinière ziemlich exzentrisch ausagierte. «Le Comte de Rola», wie er sich nannte, war ein Autodidakt, der seine frappante Kunstfertigkeit beim Kopieren alter Meister gelernt hatte - allem voran der Fresken Piero de la Francescas. Gustave Courbet war der andere grosse Maler, an dem Balthus seinen «zeitlosen Realismus» schulte - eine Formulierung, mit der der dezidierte Antimodernist, den mit herausragenden Vertretern der Moderne wie Picasso oder Matisse eine enge Freundschaft verband, seinen aus der Zeit gefallenen, altmeisterlichen Stil zu bezeichnen liebte. 


Balthus malte Bühnenbilder für Albert Camus, exquisite Porträts, Landschaften und Illustrationen, doch das Hauptsujet seiner Gemälde war die erotische Anziehungskraft der frühen Adoleszenz.

«Paintings and Provocations» - der nachgeschobene Zusatz im Titel soll wohl als Warnung gelten; eine Vorsichtsmassnahme, die, wie die Balthus-Spezialistin und Kuratorin der Ausstellung Sabine Rewald in einem begleitenden Vortrag anmerkte, von der besorgten Museumsleitung erzwungen wurde; man hatte Angst, der niedliche Titel allein könnte Grosseltern mit ihren Enkeln anlocken. 

 Mitsou, 1919 

Der Wandtext bereitet uns darauf vor, dass «einige Bilder auf manche Betrachter erotisch suggestiv wirken mögen». Das ist, mit Verlaub, stark untertrieben. Und es ist bezeichnend für den Eiertanz, der diese Retrospektive in Zeiten von Missbrauchsskandalen begleitet. Balthus' Mädchenbilder sind keineswegs so subtil, wie diese Beschreibung behauptet - und schon gar nicht so «rein», wie der Maler, die vermeintlich schmutzige Phantasie der Betrachter anklagend, gerne behauptete. Um es klar zu sagen: Diese Gemälde von sich räkelnden Nymphen, die sich im intimen Setting eines Wohn- oder Schlafzimmers scheinbar unbeobachtet wähnen, lenken den Blick direkt zwischen deren Beine.

 

Man hat die träumerische Versunkenheit der jungen Modelle auf diesen Bildern gerne als deren Unantastbarkeit interpretiert. Weil sie sich um den Betrachter - und das Betrachtetwerden - nicht im Geringsten zu kümmern scheinen, geht ihnen alles Gefällige, Unterwürfige ab. Sie wirken abwesend, gelangweilt oder auch trotzig, sie lächeln nicht und sind sich doch ihrer Wirkung bewusst. Diese zwischen Langeweile, Unglück und Rebellion schwankende Disposition auf der Schwelle zur Pubertät wird besonders sichtbar in den berühmten Porträts von Thérèse Blanchard, dem ersten Kinder-Modell, das Balthus in seiner Pariser Zeit zu malen begann. Die zwischen 1936 und 1939 entstandenen, psychologisch komplexen Studien, die die eigenwillige Thérèse im Alter von 11 bis 14 Jahren darstellen, sind die stärksten Bilder in dieser Schau; die grundstürzende, schmerzhafte Ambivalenz des Erwachsenwerdens ist in ihnen präsent. Und doch, allen träumerischen Distanzen und somnambulen Arrangements zum Trotz, lauert in Balthus' hermetischen Kammerspielen eine potenzielle Gewalt.

The Cat of La Méditerranée, 1949

In dem - für ein Fischrestaurant entstandenen - Gemälde «The Cat of La Méditerranée» hat Balthus sich selbst als einen gefrässigen, teuflisch grinsenden Kater gemalt, dem die Fische wie gebratene Tauben ins Maul fliegen; ein barbrüstiges Mädchen schaukelt verloren in einem Boot auf stürmischer See. Es ist ein scheussliches Bild und ein deutlicher Kommentar zu dem erotischen Paarlauf von Katze und Kind. In einigen Bildern von Mädchen und Katzen hat Balthus die Katze später entfernt. Man denkt unwillkürlich an Vermeers im Bildersaal nebenan hängende «Maid Asleep», deren liebliche Rötung der Wangen das erotische Gastspiel erahnen lässt, das Vermeer, wie die Bildlegende erklärt, später übermalte. Wie Vermeer die Intimität durch die Entfernung des Mannes erhöhte, so hat auch Balthus die sexuelle Wirkung der Mädchenporträts durch die Eliminierung der Katze deutlich verschärft. Allein, Vermeers Blick auf die schlummernde junge Frau ist von grosser Zärtlichkeit, der von Balthus inspizierend und ambivalent.

Thérèse auf der Sitzbank, 1939.

Es ist interessant, wie die Verteidiger der «Unschuld» von Balthus' Mädchenporträts - darin dem Maler selbst folgend - um die explizite Erotik dieser Bilder herumreden. Unter anderem ist gerne von der «blütenweissen Wäsche» der Mädchen die Rede, als sei diese eine Garantie moralischer Sauberkeit. Man muss ja nur genau hinschauen: In dem Bild «Thérèse rêvant» [s. Kopfbild] hat Balthus auf dem weissen Höschen zwischen den Beinen des Mädchens einen rosa Akzent gesetzt, als hätte er die sich unter dem Stoff abzeichnenden Schamlippen betont (oder die Kleine gerade ihre erste Periode bekommen). Es sind solche Details, die Balthus' Bilder faszinierend und anstössig machen. So oder so aber fällt der voyeuristische Blick auf uns selbst zurück: Balthus macht uns zu Komplizen der Indiskretion.

Thérèse, 1938

Girls and Polaroids

Die heikle Natur dieser Porträts und ihrer Entstehung kann man übrigens in der Gagosian Gallery an der Madison Avenue in Augenschein nehmen, wo derzeit an die hundert Polaroids ausgestellt sind, die Balthus in den neunziger Jahren von der Tochter seines Arztes, Anna Wahli, gemacht hat. Anna kam erstmals mit acht Jahren in die Gemächer des Grand Chalet und liess sich dort acht Jahre lang jeden Mittwoch zeichnen und fotografieren; die Polaroids, die hier erstmals zu sehen sind, sollten als Studien für Balthus' Gemälde dienen. An der Wand hängt ein Bericht des Modells, in dem es erzählt, wie der Greis, auf seinen Stock gestützt, immer wieder aufstand, um die lasziven Posen des teilweise nahezu nackten Mädchens selber zu arrangieren - die ständige Wiederholung dieser Aktionen damit rechtfertigend, dass er mit der Technik des Apparats nicht zurechtkam.

Polaroid von Balthus

Die Bilder, von denen einige auf die Website des «New Yorker» gestellt wurden, haben, wie man hört, in der Redaktion einen Proteststurm entfacht und wurden schnellstens wieder entfernt. Allein, mit Empörung kommt man Balthus' Gemälden zumindest nicht bei. Der Grund dafür mag in der ambivalenten Rolle des Malers zu suchen sein, in seiner doppelten Identifikation mit dem Gegenstand seiner Betrachtung und dem kompositorisch perfekt inszenierten Blick. Balthus malt keine Opfer, er taxiert die Beute. Wie kurz der Schritt vom einen zum andern sein kann, zeigt das Bild «La Victime», auf dem der makellose Körper eines jungen Mädchens nackt auf einem Leintuch ausgestreckt liegt, dem Blick des Betrachters wehrlos ausgesetzt; nur der bläuliche Schatten der Haut und der Titel des Bildes weisen auf ein Vergehen hin. Wenn es denn stimmt, dass der König der Katzen sich an seiner Beute niemals vergriffen hat, so hat er zumindest genüsslich mit ihr gespielt.

Bis 12. Januar 2014. Der Katalog kostet 45 Dollar.


Nota.

Natürlich sind die aufreizenden jungen Mädchen das Auffälligste an Balthus' Malerei, wer wollte das bestreiten. Aber eigentlich ähneln sie sich alle ein bisschen. Und jedenfalls ist der Maler selber am Sujet mehr interessiert als am Ästhetischen. Aber man muss ihm nicht den Gefallen tun und sich von seiner Vorliebe vereinnahmen lassen. Er hat auch anderes gemalt, das thematisch weniger ins Auge springt, aber künstlerisch vielleicht mehr:




 JE