Mittwoch, 20. November 2013

Art déco - eine Ausstellung in Paris.

aus NZZ, 20. 11. 2013

Verführerisch und elegant
Im Palais de Chaillot in Paris wird Frankreich als Hochburg des Art déco gefeiert


von Roman Hollenstein 

Als ebenso frivol-verspielte wie gediegen-vornehme Antwort auf den nüchternen Rationalismus der klassischen Moderne hat das Art déco die politisch, wirtschaftlich und sozial unruhigen Jahre zwischen den Weltkriegen belebt. Nun widmet ihm die Cité de l'architecture in Paris eine etwas einseitig geratene Schau. 

Angelockt vom jazzig-beschwingten Biba-Look pilgerten Designfans, die sich nach den Roaring Twenties sehnten, in den frühen 1970er Jahren an die Kensington High Street in London. Nicht nur das gestylte Retro-Angebot des Biba-Warenhauses lockte. Zu beeindrucken vermochte auch der Einkaufstempel, der schnell das Interesse auf weitere im Stil der dreissiger Jahre dekorierte Bauten lenkte. Man schwärmte von den skulpturalen Formen der Battersea Power Station, die kurz darauf das Pink-Floyd-Album «Animals» schmückte, oder vom Sitz des Royal Institute of Architecture am Portland Place, dessen frei zugängliche Interieurs einen in die Welt von Jack Claytons «Great Gatsby»-Verfilmung entführten. So war für die Entdeckungsfreudigen von damals das Art déco zunächst einmal ein englischer Stil, und doch erinnerte er die Schweizer unter ihnen auch an das Geschäftshaus «Oceanic» in St. Gallen, an das Musée des Beaux-Arts in La Chaux-de-Fonds, an die Gare de Cornavin und das Palais des Nations in Genf, das Bel-Air-Métropole-Hochhaus in Lausanne, an das Cinema Teatro in Chiasso oder an die Alte Börse und die Synagoge Freigutstrasse in Zürich.


Alte Börse Zürich, 1930 

Der Hang zum Gesamtkunstwerk 

Doch dann wiesen die erotisch unterkühlten Gemälde von Tamara de Lempicka nach Paris, wo sich die malende Femme fatale von Robert Mallet-Stevens ein chromglänzendes Atelier hatte einrichten lassen. Bald begriffen wir, dass an der Exposition internationale des Arts décoratifs et industriels modernes von 1925, die als Schaufenster von Kunsthandwerk, Design und Architektur der Grande Nation für die Verbreitung des Art déco so entscheidend war, nicht wie von der Architekturgeschichte suggeriert Le Corbusiers puristischer «Pavillon de l'Esprit Nouveau» im Zentrum stand. Vielmehr waren es jene phantasievoll konzipierten Ausstellungsbauten, die zusammen mit dem darin gezeigten Kunsthandwerk zu einer grossen künstlerischen Einheit verschmolzen, was der Architekt aus Le Chaux-de-Fonds geringschätzig als «Art déco» abtat. Seine Wortschöpfung setzte sich nicht durch, und man klassifizierte die bald schon als oberflächlich und kitschig kritisierten Bauten und Interieurs der Zwischenkriegszeit behelfsmässig als Jazz-, Zickzack- oder Stromlinien-Stil.


Exposition internationale des Arts décoratifs et industriels modernes 1925 

Erst die 1966 im Musée des Arts Décoratifs in Paris veranstaltete Ausstellung «Les Années 25 - Art déco, Bauhaus, Stijl, Esprit Nouveau» und mehr noch die zwei Jahre später erschienene, grundlegende Publikation von Bevis Hillier verhalfen dem Terminus Art déco zum internationalen Durchbruch. Dank der von Hillier 1971 im Minneapolis Institute of Arts veranstalteten Art-déco-Schau wurden in Europa schliesslich auch die überreichen Schätze des amerikanischen Art déco bekannt. Das mag erstaunen, verbinden wir doch heute eher die Wolkenkratzer New Yorks und die bonbonfarbenen Häuser von Miami Beach mit Art déco als die grossbürgerlich vornehmen Möbel eines Jacques-Emile Ruhlmann.


 Korbbett von Jacques Émile Ruhlmann,1928 

Anders als die klassische Moderne kennt das gleichzeitige, zum sinnlich-opulenten Gesamtkunstwerk tendierende Art déco weder einen theoretischen Überbau noch einen verbindlichen Formenkanon. Deshalb konnte und kann man alles, was dynamisch geschwungen oder kubistisch bewegt, mit handwerklicher Perfektion aus edlen, traditionellen oder neuartigen Materialien wie Ebenholz, Porzellan und Seide, Chromstahl, Aluminium und Bakelit gefertigt, reich verziert und modern stilisiert ist, dem Art déco zuschlagen. Seine dekorative Noblesse nahmen schon in der Spätphase des Jugendstils das von Josef Hoffmann zusammen mit Gustav Klimt und Koloman Moser gestaltete Palais Stoclet in Brüssel, das Théâtre des Champs-Elysées von Auguste Perret und Antoine Bourdelle, Karl Mosers Zürcher Kunsthaus oder die Kostüme und Bühnenbilder vorweg, die Léon Bakst für die Ballets russes schuf.
 
Outfits by Léon Bakst from Daphnis et Chloe 

Wenn man auch nicht sagen kann, wann genau das Art déco einsetzte, so lässt sich doch festhalten, dass die Pariser Exposition von 1925 den ersten Höhepunkt der Bewegung markierte, die daraufhin weltweit Triumphe feierte. Aber schon zuvor waren selbst fernab der Metropole Art-déco-Kunstwerke entstanden, wie etwa Karl Knells 1923 eröffnetes Zürcher Geschäftshaus Sihlporte mit dem für zwinglianische Verhältnisse geradezu spektakulären Treppenhaus beweist. Der unbeschwerte, dem Kostbaren zugeneigte Stil überstand die Weltwirtschaftskrise, wurde aber unter dem Einfluss totalitärer Systeme zusehends starrer und schwerer. Der Zweite Weltkrieg setzte ihm dann ein Ende. Die Art-déco-Renaissance der 1970er Jahre und der Postmoderne dauerte nur kurz. Danach verloren die klobigen Vasen, aalglatten Seehunde und frivolen Tänzerinnen, die plötzlich in ungezählten Galerien erhältlich waren, ihren Reiz. Um eine Neubewertung des Art déco bemühte sich dann 2003 das Victoria & Albert Museum in London mit einer die Internationalität dieser Stilrichtung betonenden Riesenschau.



Nun widmet sich erstmals seit 1966 auch Paris wieder dem gesamtkünstlerischen Phänomen, das wie kein anderes die Condition humaine der politisch, wirtschaftlich und sozial unruhigen Zwischenkriegszeit spiegelt. Die in der Cité de l'architecture im Ostflügel des Palais de Chaillot, einem 1937 vollendeten Spätwerk des Art déco, präsentierte Schau steht unter dem Titel «1925 - quand l'Art déco séduit le monde». Dieser weckt die Erwartung, dass man hier, ausgehend von der Exposition internationale des Arts décoratifs, den Siegeszug des Art déco rund um die Welt - von Los Angeles und Las Palmas über Mailand und Mumbai bis ins neuseeländische Napier - verfolgen könnte. Doch wird schnell klar, dass sich die Ausstellungsmacher mit Pariser Überheblichkeit nur um das französische Art déco und das internationale Engagement einiger seiner Exponenten kümmern. So sucht man in der Schau vergeblich nach Entwürfen von William Van Alens New Yorker Chrysler Building, nach Interieurs von Gio Ponti oder nach Zeugnissen dafür, wie sich das Londoner Art déco in den britischen Kolonien manifestierte.


 Chrysler Building, New York 

Die Bedeutung der Expo von 1925 

Dafür wartet die suggestive Inszenierung, die zum Schluss hin leider etwas an Dichte verliert, mit einer Vielzahl französischer Werke auf - darunter Möbel von Louis Süe oder Paul Follot, schmiedeisernes Gitterwerk von Edgar Brandt, Glaskreationen von René Lalique oder eine amüsante Sammlung von Kühlerfiguren. Als malerisches Highlight der Schau wirbt Jean Dupas' gigantisches, aus dem Pavillon von Bordeaux stammendes Wandbild «Le vin et la vigne» schon in der Eingangshalle für die Ausstellung. Diese beginnt mit einer etwas allzu plakativen Gegenüberstellung von Jugendstil und Art déco. Anschliessend erhellt sie die Bedeutung von Architekten wie Perret, Mallet-Stevens, Roger-Henri Expert oder Pierre Patout, unter deren Ägide eine Vielzahl von Malern, Bildhauern, Innenarchitekten, Kunsthandwerkern und Ebenisten Grossartiges schufen. Frühe Arbeiten von Ensembliers wie Süe et Mare oder Ruhlmann kommen ebenso zu ihrem Recht wie die Entwürfe der Couturiers Paul Poiret und Jean Patou. Dann werden die moderne Frau - mit einem Gemälde der Lempicka und mit Skulpturen von Chana Orloff -, das Auto, das Flugzeug und das für die Popularisierung des Art-déco-Stils so wichtige Kino thematisiert (das mit dem Eckturm des Grand Rex einen Hauch Amerika nach Paris brachte). Der Einfluss Afrikas wird mit Hinweisen auf Joséphine Baker und die Stammeskunst hervorgehoben. Hingegen wird der Einfluss des 1922 entdeckten Grabs von Tutenchamun ebenso ignoriert wie die Maya- und Azteken-Mode, die von Amerika nach Europa überschwappte.



Portrait of Romana de la Salle, Tamara de Lempicka

Nach diesen Eingangskapiteln, die mit selten gezeigten, oft aus Privatbesitz stammenden Exponaten reich illustriert sind, wird die Expo von 1925 ins Licht gerückt. Die Pavillons der Warenhäuser und der Manufakturen, die beim Grand Palais auf Besucher warteten, werden mit Postkarten, Skizzen und Fotos, vor allem aber mit Möbeln, Vasen und Nippes heraufbeschworen. Während das Tourismus-Haus von Mallet-Stevens zwischen klassischer Moderne und Art déco zu vermitteln suchte, spielte sich der «Pavillon de l'ambassade française» als Vermittler konservativer französischer Kultur im Ausland auf. Dem von Patout erbauten und von Ruhlmann, dem «Papst des Art déco», zusammen mit Künstlerfreunden eingerichteten «Hôtel du Collectionneur» kommt als einem Höhepunkt der Expo von 1925 besonderes Gewicht zu. Nur knapp erwähnt werden hingegen die Länderpavillons und Le Corbusiers puristischer Ausstellungsbau.



 
Statt nach dieser Expo-Sequenz die wichtigsten Vertreter des französischen Art déco mit einigen ihrer Hauptwerke einzeln zu würdigen, verzettelt sich die Schau mit einem Überblick über «L'Art déco en France», in welchem anhand von schönen Architekturentwürfen und neuen Modellen Ladengeschäfte, Tourismusarchitekturen, Wohnhäuser, öffentliche Gebäude und Industrieanlagen vorgestellt werden. Aus dieser Bilderflut heraus ragt eine Koje, in der am Beispiel der «Normandie» mit prachtvollen Objekten auf die Bedeutung der Luxusdampfer für das Lebensgefühl des Art déco hingewiesen wird. Der dekadent-elegante Stil der Salons klingt hier allmählich aus. Denn nach der Weltwirtschaftskrise tritt das Art déco auch in Frankreich immer mehr in den Dienst des Staates, der mit dem Bau von Schul- und Rathäusern, Bibliotheken und Bahnhöfen, aber auch mit den internationalen Ausstellungen von 1931 und 1937 in Paris Arbeitsplätze zu schaffen suchte.

Palais de Chaillot, Paris 

Frankreich in der Welt 

Ein Kapitel zum Wiederaufbau des im Ersten Weltkrieg zerstörten Reims in der Formensprache des Art déco gibt es in der Ausstellung - anders als im informativen Katalog - nicht. Dafür wird in der Schlusssequenz «L'Art déco dans le monde» die Arbeit französischer Kunsthandwerker und Architekten in Rio de Janeiro, New York, Chicago, Montreal, Schanghai, Indochina und Nordafrika etwas allzu sehr beweihräuchert. Hier beeindruckt neben Roger-Henri Experts Botschaftsgebäude in Belgrad vor allem der glanzvolle Palast, den Prinz Asaka nach seinem Besuch der Expo 1925 von Henri Rapin und anderen französischen Meistern in Tokio erschaffen liess. - Zweifellos verlieh Frankreich dem Art déco die entscheidenden Impulse. Diese Anregungen wurden jedoch schon vor 1925 in die jeweils landeseigenen Idiome übersetzt, allen voran in den USA und in Grossbritannien. Etwas mehr Offenheit und Interesse für die Leistungen dieser und anderer Länder hätten der Ausstellung eine ähnliche Bedeutung verleihen können, wie sie dem attraktiven Katalog zukommt, der einen bedeutend weiter gesteckten Horizont ausleuchtet als die Schau.

Bis 17. Februar. Katalog: 1925 - Quand l'Art déco séduit le monde. Hrsg. Emmanuel Bréon und Philippe Rivoirard. Editions Norma, Paris 2013. 287 S., € 39.-.


Jean Dupas,  Wandbild Le vin et la vigne

Nota.

Ich gebe der Versuchunug nach und zeige Ihnen noch ein paar Blüten - ohne Titel und ohne Ort: Malen Sie sich aus, was der Autor unter der Internationalität dieser Stil- oder Stillosigkeitsrichtung versteht. 'Stillosigkeit' ohne Ranküne, denn man kann ja wirklich kaum sagen, was ihn ausmachen sollte. Aber ein Geschmack, und zwar ein unverkennbarer, war Art déco schon. Und es ist wahr: Er war genau das, was verloren ging, als sich der Staat seiner bemächtigte, gerade in Frankreich. Da wurde er klobig und ganz aus Beton. Eine Affinität zum totalitären Geschmack der Zeit konnte man freilich schon vorher beobachten - siehe das obige Gemälde der Lempicka.

































Was aber sowohl an der Ausstellung als auch im Bericht der NZZ überrascht, ist das völlige Fehlen der Automobilindustrie, die mindestens so viel wie das Kino, vermutlich aber viel mehr dazu beigetragen hat, das Art déco um die ganze Welt zu tragen. In allen andern Lebensbereichen war Art déco nur eine unter andern, und vielleicht nur in der aufkommenden Unterhaltungsindustrie die vorherrschende Geschmacksrichtung; bei den Autokarosserien war sie die einzige. Art déco ist mit der beginnenden Motorisieruung auf die Welt gekommen, und ein neues Automodell kann sich am Markt nur durchsetzen, wenn es der allerneuesten Mode entspricht. Und das war von den späten zwanziger bis zu den späten vierziger Jahren eben: Art déco. 




































































































Und Sie werden bemerken, dass sich im Automobilbau der Art-déco-Geschmack bei einigen Marken bis in die fünfziger, sechziger Jahre gehalten hat!

JE




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