Samstag, 31. Januar 2015

Zeichnungen aus dem Musée d'Orsay in der Wiener Albertina.

Albertinsa



















aus Die Presse, Wien, 31. 1. 2015                                                                          Odilon Redon, Die freundliche Spinne, 1881

Albertina 
Dunkle Träume aus Paris
Die Albertina zeigt Zeichnungen aus dem Musée d'Orsay: „Das Archiv der Träume“ entführt in ein 19. Jahrhundert, wie wir es bisher kaum je gesehen haben.

von Sabine B. Vogel

Jeder kennt das Musée d'Orsay in Paris. Ursprünglich zur Weltausstellung im Jahr 1900 als Bahnhof gebaut, wurde es 1986 eröffnet und führte zu einem „ästhetischen Mauerfall“, wie es der deutsche Kunsthistoriker Werner Spies formuliert. Erstmals waren Werke des Impressionismus neben gleichzeitiger Salonkunst zu sehen, auch der Symbolismus wurde nicht ausgespart, selbst religiöse Sujets tauchten wieder auf.

Giovanni Segantini, Le dernier labeur du jour

Dass das Museum auch über eine gewaltige Sammlung von Zeichnungen aus dieser Zeit, von 1848 bis 1914, verfügt, war bisher kaum bekannt, denn das Konvolut von 67.000 Papierarbeiten lagert im Louvre. Letztes Jahr wurde entschieden, einen ersten Einblick zu gewähren. Für die Auswahl lud das Museum den in Paris lebenden Werner Spies ein – und bot zugleich einem einzigen, internationalen Haus die Übernahme an: der Albertina. Obwohl das Programm für heuer schon fix gewesen sei, habe er sofort zugesagt, sagt Direktor Klaus Albrecht Schröder – „bevor die Ausstellung nach Madrid, New York oder Berlin kommt“. Mit minimalen Änderungen (wenige Werke konnten nicht reisen, dafür ist Eigenes aus der Sammlung hinzugefügt) ist das „Archiv der Träume“ jetzt also in Wien zu sehen. Es entführt uns in ein 19. Jahrhundert, wie wir es bisher kaum gesehen haben.

Léon Spilliaert, Autoportrait aux masques, 1903 

Melancholie und grinsende Masken


67.000 Werke – wie konnte Spies da ohne Vorgaben eine Auswahl treffen? „Es war ein Dschungel“, erzählt Spies, doch bald fiel ihm auf: In den strengen Reihen des Archivs lagerten Mengen von Träumen. Bilder voller Lust, aber auch Verdrossenheit, Einsamkeit und Verlorenheit. Hier entdeckte Spies, wie sehr die Kunst des 19. Jahrhunderts nicht nur eine Zeit des Lichts und Jubels war, sondern auch voller düsterer Stimmungen. Viele Blätter „gehen auf traumartige Szenen ein, privilegieren Melancholie und Entfremdung. Friedhöfe, Skelette, Totenschädel, grinsende Masken, Vanitas-Bilder tauchen wiederholt auf.“

Paul Gauguin, Madame La Mort, 1890-91
Gerade in den Zeichnungen leisteten sich die Künstler aber auch eine Freiheit des Ausdrucks, ein Spiel mit Fragmenten und formale Experimente, die sie als akademische Maler in ihren Bildern nicht realisieren konnten. Berühmte Meister wie Edgar Degas, Paul Cézanne, Georges Seurat kombiniert die Schau mit wunderbaren Zeichnungen weniger berühmter Franzosen jener Zeit.

Odilon Redon, Caliban sur une branche, 1881

Den Auftakt bilden kuriose Architekturzeichnungen: François Garas baute Zeit seines Lebens kein einziges Gebäude. Er war überzeugt, dass die Zweckmäßigkeit das Schöne verhindere, beließ es bei Entwürfen und widmete seine utopische Tempelanlage der Freiheit der Gedanken und Ideen. Der Architekt Henri Toussaint wollte sogar die Wirklichkeit verdecken und die konstruktiven Elemente der Architektur großflächig verkleiden: Zukunftsorientierter Technologieglaube trifft auf rückwärts gerichtete Poetisierung der Wirklichkeit und Sehnsucht nach dem Idyll, Salon und Avantgarde – damit sind die Pole der Ausstellung bestimmt.

Henri Toussaint, Geplante Verkleidung des Eiffel-Turms zur Weltausstellung 1900

Danach folgen faszinierende Selbstporträts, wie jenes von Charles Baudelaire: experimentell, düster, mit inwendigem Blick. Gustav Courbet, Léon Spilliaert, Achille Laugé, mit Lovis Corinth auch einer der wenigen Nichtfranzosen – hier kommen die Künstler selbst in den Blick, bevor dann der Weg in die Realität führt. 1848 löste Jean-François Millets Bild „Der Kornschütter“ auf dem Pariser Salon einen Skandal aus, republikanisch Gesinnte liebten es, bürgerliche Kreise verabscheuten es. Auch in seinen Zeichnungen zeigt er die bäuerliche Arbeitswelt, die er mit aller Härte in Szene setzt, wenn etwa die „Ährenleserinnen“ dieselbe Form annahmen wie die Heuhaufen.

Jean-François Millet, Ährenlese

Der Tod im Körper der Femme fatale

Auch Giovanni Segantini ist Realist, der die Welt des Alltags festhält, ohne Pathos, ohne Urteil, und es doch mit dem starken Schwarz-Weiß-Kontrast wie in „Am Ende des Tagwerks“ schafft, die Grenze zwischen Tag und Traum aufzuheben. Ob in den literaturbezogenen Werken oder symbolistischen Zeichnungen, immer wieder begegnen wir dem Übergang vom Licht zum Schatten. Auch die Frauenakte spiegeln diese Grundstimmung wider, wenn Carlos Schwabe den Tod im

Carlos Schwabe, La mort du fossoyeur

Körper der Femme fatale findet, andere wie Edward Burne-Jones dem bedrohlichen Vamp die Zerbrechlichkeit und Schutzlosigkeit einer Femme fragile entgegenstellen. Eine Entdeckung ist Félicien Rops, der mit seinen bissigen Illustrationen die katholische Kirche attackierte und die verklemmte Sexualmoral des 19. Jahrhunderts mit seinen drastischen Zeichnungen erschütterte.

Cézanne, Grüner Krug, um 1885

Aber der Kurator belässt es nicht bei diesem Blick zurück auf ein unterschätztes Jahrhundert. Für den Katalog wollte er eine „Resonanz aus unserer Zeit“ zeigen und lud 100 Künstler zu Kommentaren zu den Bildern ein. Jeder antwortete! Anselm Kiefer, Imi Knoebel, Erwin Wurm, aber auch die Filmer David Lynch und Wim Wenders, die Literaten Peter Handke und Paul Auster machen den Katalog zu einem einzigartigen Zeitzeugnis,
„Das Archiv der Träume aus dem Musée d'Orsay“ mit Bildern u. a. von Degas, Cézanne, Seurat: bis 3. Mai.


aus Der Standard, Wien, 31. 1. 2015                                              Félicien Rops, Les Pornocrates (nicht in der Albertina)

Impressionismus boomt: 
Freiheitsutopien der Lichtmaler
Weltweit zelebrieren Ausstellungen 140 Jahre Impressionismus. Nach dem Belvedere mit Monet feiert auch die Albertina mit Leihgaben des Musée d'Orsay. Nie zuvor hat das Pariser Museum so viele Werke en bloc verborgt
von Andrea Schurian

Die akademisch-formalistische Rechthaberei der Salonmaler und ihrer (finanzkräftigen) Bewunderer ging den Pionieren der impressionistischen Malerei gehörig gegen den Pinselstrich. Sie wollten sich vom Diktat des einzig Wahren und Schönen lösen, theoretische Regelwerke und zwänglerische Dogmen entstauben. Sie brachen gesellschaftliche und künstlerische Tabus, malten unter freiem Himmel das Licht. Sie tupften und fleckten reine Farbe oft direkt aus der Tube auf die Leinwand, beschäftigten sich in geradezu seriellem Furor mit Formen und ihrer Auflösung. Sie zelebrierten ihr Außenseitertum und revolutionierten radikal Sehgewohnheiten, mehr noch: die Kunst, den Markt, die Rezeption. Selbstorganisierte Gruppenschauen fanden statt, die erste 1874. Damals inspirierte Claude Monets Werk Impression einen Kritiker zur - despektierlich gemeinten - Namensgebung. Es gab Soloausstellungen in Privatgalerien. Händler Paul Durand-Ruel, dem eine vom Pariser Musée du Luxembourg konzipierte Schau in London gewidmet ist, eröffnete für seine Schützlinge sogar eine Filiale in New York.

Degas, Spanische Tänzerin und Beinstudien

Ungehobene Schätze

Auch 140 Jahre später boomt die künstlerische Freiheitsutopie - ebenso wie die Preisgestaltung. Die Salonmaler, ihr mythologisches Pathos, ihr belächelter akademischer Kanon indes wurden sorgsam in Hinterstuben verräumt. Genau dort wurde der Kurator Werner Spies für sein erstaunliches Archiv der Träume fündig. Sechs Monate stöberte er in den Depots des Pariser Musée d'Orsay - und hob ungeahnte Schätze. Aus 90.000 Kunstwerken wählte er schließlich knapp 300 Blätter - Zeichnungen, Gouachen, Aquarelle, Pastelle - und hängte kühn Salonkünstler zu Impressionisten, damalige Verkaufsschlager gleichberechtigt zu heutigen Blockbustern. Dass die Ausstellung nach ihrer Premiere im Musée d'Orsay nun in der Wiener Albertina zu sehen ist, gilt als Sensation: Das Pariser Museum habe, so Spies, noch nie so viele Meisterwerke auf einmal außer Haus gegeben wie nun an die Albertina, mit der "weltweit bedeutendsten grafischen Sammlung".


Cabanel, Geburt der Venus, 1863

Welch großartiger Erkenntnisgewinn, wenn sich nun etwa Alexandre Cabanels Geburt der Venus, die Napoleon 1863 in jenem Salon kaufte, aus dem Edouard Manet hochkant hinausflog, just mit dessen Frau mit Katze die Ausstellungswand teilen muss. Links die mythisch überhöhte, von Putten umschwärmte Göttin; rechts eine selbstbewusste junge Frau - angeblich Manets erster Entwurf für sein Skandalbild Olympia -, die keck aus dem Bild blickt.

Manet, La femme au chat, 1862/63

Spies zeigt, natürlich, die impressionistischen Meister, Degas, Cézanne, Seurat, aber auch die ganze Bandbreite dazwischen, davor, danach. Nie verfällt er in geschwätziges Namedropping, respektvoll arrangiert er eine labyrinthische Kunstentdeckungsreise durch das 19. Jahrhundert, mischt mit leichter Eleganz magischen Realismus, suggestiven Symbolismus, Impressionismus, Historismus, Pointillismus, Landschaften, Dämonen, Göttinnen, leichte Damen. Alles.

Frantisek Kupka, Dieux des peaux rouges, vers 1904

Dass das 19. Jahrhundert Fundament und Rückgriffsgebiet für zeitgenössische Kunstschaffende ist, dokumentiert übrigens auch das die Ausstellung begleitende Künstlerbuch. Da stellt etwa Michael Haneke ein Standbild aus seinem Film Das weiße Band Fernand Khnopffs Frauenbildnis gegenüber; Botho Strauß denkt über Odilon Redon nach, Wim Wenders über Cézanne.

Der Impressionismus gilt als Geburtsstunde des autonomen Künstlers, oder wie Werner Spies es formuliert: "Der Möglichkeitsmensch tauchte auf. Da geht es nicht um Erkennen, sondern darum, dem Auge zuzusehen, wie es sieht." Die Wiener Präsentation ist keine impressionistische Weihefeier. Sie stellt Fragen über starre Normen und Regeln - und die Schönheit freien Handelns. Nicht nur in der Kunst.

Gustave Moreau Samson und Dalilah 1882

Bis 3. 5.
Link Albertina

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