Freitag, 4. März 2016

Religion und Formensprache: der Nagara-Stil.


aus Die Presse, Wien, 5. 3. 2016                                                                                                        Khajuraho

Indische Religion denkt geometrisch
3–D-Rekonstruktion. Gerald Kozicz und Milena Stavric analysieren mit moderner Software tausend Jahre alte Himalaja-Tempel. Die geometrischen Anlagen ordnen irdisches Chaos.

von Ronald Posch

Im Nordwesten Indiens, im hügeligen Vorland des Himalaja, stehen auf einer Seehöhe bis über 2000 Metern hinduistische Tempelanlagen. Die ältesten wurden im 9. Jahrhundert gebaut. Archäologen und Kulturhistoriker vermaßen bislang alles, was unmittelbar vom Boden aus zugänglich ist – also Sockel und Grundriss. Architektonisch sind die zehn bis fünfzehn Meter hohen Steintempel im sogenannten Nagara-Stil aber noch wenig erschlossen: Es gibt keine Planunterlagen zur vertikalen Form, wie Ansichten oder Schnitte. Damit gibt es keine Studie zur Proportion und zum konstruktiven Aufbau der Tempel.

Das Institut für Architektur und Medien der TU Graz ändert das nun im vom Österreichischen Wissenschaftsfonds (FWF) geförderten Projekt „Nagara-Architektur“. „Wir wollen moderne Medien und Software adaptieren und auf ein kulturhistorisches Thema anwenden“, sagt Gerald Kozicz, Architekt und Leiter des Projektes. Das Team setzt dabei computergesteuerte Darstellungsmethoden und Produktionsmedien ein. Die Forscher arbeiten dazu an einer Software, die die Ergebnisse aufzeichnet, speichert, digital archiviert – und als Open-Access-Programm für jedermann zugänglich wird.


Lingaraj

Die Software soll zudem zum Analysemittel werden. Shape Grammer ist hier ein wichtiger Begriff: „Das ist eine Computertheorie und eine Designmethode, die davon ausgeht, dass Strukturen grundsätzlich geometrisch erfassbar sind und daher auch programmiert werden können“, sagt Stavric. Im Grunde sollen der Aufbau und die Gliederung rekonstruiert werden, um davon ausgehend das Ganze geometrisch besser zu begreifen. Am Ende können die Tempel mit anderen Nagara-Bauwerken, die von Pakistan bis Indonesien zu finden sind, verglichen werden.

Gläubige benutzen die Tempel, im Unterschied zu den Anlagen des gleichen Typs in Pakistan, die leer auf einer Bergkette stehen, heute noch. Die Tempel liegen hier innerhalb eines Kulturkreises und entlang einer Pilgerroute. In der Literatur gibt es Hinweise darauf, dass jedes größere Dorf einmal einen solchen Tempel besessen hat. Viele sind verschwunden. Einige Fragmente lassen sich nur mehr in Mauer-, Tür-, Brunnen- und Hausresten finden – auch diese gilt es ausfindig zu machen.

Einige sind aber über die Jahrhunderte zur Gänze erhalten geblieben. Die Forscher suchen auch die Umgebung bei erhaltenen Nagara-Tempeln ab, denn „viele standen wohl in einem Verband und nicht einzeln“, sagt Kozicz.

Das Quadrat ordnet das Chaos

Der Grundriss der Steintempel ist immer quadratisch. Das ist kein Zufall: „Die indischen Religionen denken sehr stark geometrisch“, sagt Kozicz. Die indischen Kulturen entwickelten sehr früh konkrete geometrische Vorstellungen von einer idealen, kosmischen Ordnung. Beim Tempelbau manifestiert sich ihr Wunsch, himmlische Ordnung in das irdische Chaos zu bringen. In der griechischen Mythologie ist der Götterberg Olymp etwa in einen Nebel gehüllt: „Wir kennen die Charaktere der Gottheiten, aber wir wissen nicht genau, wie es bei ihnen aussieht.“ Die Griechen verwenden bei ihren Tempeln zwar auch exakte geometrische Formen, aber bei den Indern – ob bei Buddhisten oder Hinduisten – ist das Quadrat und das Teilen des Quadrats vordergründig der Versuch, die Welt übersichtlich zusammenzufassen: „In Indien baute man vor den Griechen geometrisch exakt quadratisch angelegte Städte, weil es ihrem Grundprinzip entspricht“, sagt Kozicz.


Baraka

Im Projekt geht es ebenfalls um Ordnung. Das Institut wird vier Diplomarbeiten und eine Dissertation vergeben, um ausreichend Material und Daten zu sammeln und 3-D-Modelle für weitere Projekte zugänglich zu machen. Damit können künftig auch Archäologen, Historiker und Religionswissenschaftler weiterarbeiten und Fragen, etwa wer die Tempel wie baute, leichter beantworten.

Alte Kulturgüter bewahren

Es geht aber nicht nur darum, die architektonische Sprache zu rekonstruieren, sondern auch um die Bewahrung alter Kulturgüter. Die Region wird immer wieder von Erdbeben heimgesucht. Dadurch wurden viele Tempel zerstört. Moderne Bauaufnahmen zu haben, ist daher auch eine digitale Archivierung. Eine menschliche Zerstörung der Gebäude ist, anders als zurzeit in Syrien, selten.

LEXIKON

Der Nagara-Stil entstand im 8. Jahrhundert in der ostindischen Küstenregion. Die Hinduisten bauten ab diesem Zeitpunkt ihre Tempel vermehrt mit Steinen, zuvor verwendeten sie dafür Bambus. Bis heute sind im gesamten südostasiatischen Raum Nagara-Tempel zu finden: von Pakistan bis nach Indonesien. Das markanteste Merkmal ist der konvex gekrümmte Turm, ähnlich einem Bienenkorb. An der Fassade sind Nischen angebracht, wo figurale Gottheiten standen. Diese sind heute großteils verschwunden.


Khajuraho 

aus wikipedia

Die indische Raumkonzeption ist eng mit astrologischen und kosmologischen Vorstellungen verknüpft, während ihre bildhafte Gliederung die Stellung von Personen und Dingen in der Welt widerspiegelt. 

Die vedische Architekturlehre Vastu erläutert idealisierte Stadtschemata mit folgendem Grundaufbau: Im Mittelpunkt der Stadt befindet sich ein dem wichtigsten vedischen Gott Brahma vorbehaltenes Heiligtum, das als „Allerheiligstes“ gilt. Darin kommt die im Hinduismus und Buddhismus bis heute vorhandene Vorstellung vom Weltenberg Meru als Mittelpunkt der Welt und Sitz der Götter zum Ausdruck. 

Um das zentrale Heiligtum sind in konzentrischen Ringen weniger bedeutende Heiligtümer, die jeweils einer bestimmten Gottheit bzw. einer bestimmten Form des Göttlichen geweiht sind, angeordnet. Die Gottheiten und damit die Heiligtümer sind Gestirnen (Sonne, Mond, Fixsterne) zugeordnet. Die konkrete Lage der kleineren Heiligtümer richtet sich nach der von Pilgern zu befolgenden Umrundungsrichtung des Zentralheiligtums (in der Regel im Uhrzeigersinn). 

Die Stadt wird von zwei Achsen durchzogen, denen astronomischen Beobachtungen zugrunde liegen: Die erste Achse verläuft in Ost-West-Richtung zwischen denÄquinoktialpunkten, die zweite in Nord-Süd-Richtung zwischen den Kulminationspunkten der Sonne. Aus der Mittelpunktlage und dem orientierten Achsenkreuz ergeben sich zwangsläufig die geometrischen Grundformen Quadrat und Kreis, die als Mandaladargestellt werden können, bzw. Würfel und Kugel. Das Quadrat besitzt besondere Symbolkraft, bilden doch die vier mythologischen „Eckpunkte“ Indiens – die Wallfahrtsorte Puri im Osten, Rameswaram im Süden, Dvaraka (Dwarka) im Westen undBadrinath im Norden – ein Quadrat.


Birla Mandir, um 1939


Nota. – Das ist eine abendländische Besonderheit: dass Kunst eine Geschichte hat, eine Entwicklung, eine Richtung, die allenthalben als Fortschritt aufgefasst wurde. Die Richtung hieß: weg von den Themen, hin zur 'reinen Ästhetik'.

Nur im Abendland hat es einen Sinn, Kunstwerke – unter Umständen auch rückblickend – unter rein ästhetischen Gesichtspunkten zu betrachten. Hier war das Ästhetische immer nur äußeres Beiwerk zur 'eigentlichen' (religiösen oder weltlichen) Bedeutung; man konnte es davon lösen. Anderswo, bei den 'okularen' Indern (Gf. Yorck) – wie auch bei den ebenso 'okularen' Griechen! – steckten die Bedeutungen von Anbeginn schon in den Formen drin.

Was wir hier am Beispiel der Hindu-Architektur sehen, gilt in potenziertem Maß von der gesamten japanischen Ästhetik, die tief von der spirituellen Bilderwelt des Zen-Buddhismus durchdrungen ist. Dazu würde ich gerne etwas schreiben, aber ich weiß nicht, was: Ich verstehe gar nichts davon.
JE


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