Mittwoch, 4. Mai 2016

Wie ich zur Landschaft gekommen bin.


 Turner, Strandräuber – Die Küste von Northumberland, 1834

Eben bin ich in meinem Schreibtisch auf einen Textentwurf gestoßen, der aus dem Sommer 2005 stammen dürfte und in dem ich mich zum erstenmal thematisch mit der Rolle der Landschaft für die Ästhetik befasst habe. Anlass war der Essay Landschaft. Die Funktion des Ästhetischen in der modernen Gesellschaft  von Joachim Ritter.* Im Kopf gespunkt hatte es mir seit langem, ausgehend von der Redensart, William Turner habe "die Gegenständlichkeit überwunden", was offenkundig Unfug ist; allerdings hat er 'das Gegenständliche am Gegenstand' überwunden und vom Gegenstand nur den ästhetischen Schein übrigbehalten. Das hätte er nicht gekonnt, hätte er sich eben nicht auf die Landschaft konzentriert.  

Gegen Ritter, bei dem das Ästhetische wie ein Ersatz für die verlorene Ganzheit erscheint, wollte ich selber einen Aufsatz schreiben, in dem ich das Ästhetische vielmehr als ein qualitativ Neues darstellte, das die bürgerliche Kultur in die Welt gesetzt hat. Ein erstes Konzept und ein paar einleitende Sätze habe ich auch gleich zu Papier gebracht.

Aber ich bin kein Kunsthistoriker, es schien ratsam, mich – wenigstens mit den Augen – vorher noch ein wenig in den Stoff zu vertiefen, und so beschied ich mich zunächst einmal mit einer didaktischen Bildergalerie...

Dabei ist es bis heute geblieben. 

Gerrit Berckheyde Ansicht der Gouden Bocht in der Herengracht in Amsterdam, um 1672.

[Landschaft, oder Die Emergenz des Ästhetischen]

I. Joachim Ritter: mit der Verzweckung alias Rationalisierung der Welt 'entsteht' das Ästhetische als Medium, um das aus dem theoretischen Begriff entschwundene 'Ganze des Kosmos' wiederherzustellen. The turning point: Entdeckung der Landschaft als "schön", namentlich im 18. Jahrhundert (engl. Gärten). – Daran anknüpfend:

II. Odo Marquards "Kompensationstheorie"...

III. Nein: das Ästhetische ist nicht Kompensation, sondern Residuum. Kant ('Weltgeschichte in weltbürgerlicher Absicht'): Kultur entwickelt sich in "Antagonismen", aufgenommen von Schiller ('Ästhetische Erziehung des Menschen') In der Arbeitsgesellschaft prägt sich die Einbildungskraft einseitig zum "Verstand" aus: als das Vermögen, Verhältnisse zu beurteilen – nämlich als "zweckmäßige" alias "Ursache-Wirkungs-Verhältnis". Es ist das Vermögen des Vermittelns. Qualitäten treten dagegen in den Hintergrund; d.h. werden in komplexe Quantitäten aufgelöst. Sie "beurteilen" wird reduziert auf: sie vermessen. Der "Sinn für Qualität" wird an den Rand des Wahrnehmungsfeldes (= 'Realität'/Kausalverhältnis) gedrängt: Er "geht unter"; überwintert als "Sinn für das Schöne", ein luxuriöser Überrest, auf den man auch gleich ganz verzichten kann.

IV. Ästhetische Kunst (ab Renaissance) ist darum etwas Anderes als die vorangegangenen 'Kunst'-Arten [dies gg. Gadamer]: das Ästhetische in specie ist: "Eigenbedeutsamkeit" der Wahrnehmung; Immanenz.

V. Ende der Arbeitsgesellschaft: Frei-Setzung des Ästhetischen die Qualitäten "tauchen wieder auf"

1) aus der Einbildungskraft...

2) in die Urteilskraft
beides östhetische Vermögen: Qualitäten nicht "vermitteln", sondern anschauen



Landschaft, oder Die Emergenz des Ästhetischen

Dieser Aufsatz knüpft an die fast gleichnamige Arbeit an, die Joachim Ritter 1960 bei der Übernahme des Rektorats der Universität Münster vorgertagen hat – und der kleine Unterschied im Titel bezeichnet seinen Inhalt. Von der Funktion der Ästhetik für die moderne Gesellschaft sprach Joachim Ritter, doch das Eigentümliche des Ästhetischen ist es eben, dass es als solches keine Funktion hat, und wenn es im wirklichen Leben doch auch Diesem oder Jenem 'dient', dann nur, weil es nicht als solches in Erscheinung tritt, sondern immer erst 'an' irgendeinem Andern, und es ist dieses andere, das das Ästhetische fungibel macht, nicht 'es selbst'. Das war aber der eine grundlegende Gedanke Ritters: dass in den modernen Gesellschaften das Ästhetische an eine Stelle rückt, der zuvor von der Metaphysik gehalten und nun vakant geworden war. Gegen diesen Gedanken wenden sich meine Ausführungen. Dass das Ästhetische als solches, nämlich unerachtet seiner außerästhetischen Verquickungen, ein Gegenstand der Wahrnehmung wird, ist in der Tat ein Charakteristikum der Moderne. Aber es ist ein Novum und kein Ersatz für etwas Immer-schon-Dagewesenes. 

I. 

Der andere grundlegende Gedanke Ritters war dies, dass es zuerst die Entdeckung der Landschaft durch die bildenden Künste war, die das Ästhetische ... befreit... 

*) Landschaft. Zur Funktion des Ästhetischen in der modernen Gesellschaft. Schriften der Gesellschaft zur Förderung der Westfälischen Wilhelms-Universität zu Münster, Heft 54; 1963, Münster. Wieder abgedruckt in: Ders. (1974): Subjektivität. Sechs Aufsätze. Frankfurt/M.
 
Pravoslav Sovak, White Sheet, 1972–94, Aquarell, Gouache, Bleistift auf Papier

Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen