Geschmackssachen.
Samstag, 15. Juni 2019
...nicht ohne die Unbestimmtheit mit zu setzen.
So lässt sich alles Handeln denken als ein Einschränken in eine gewisse Sphäre. Alles Bewusstsein ist ein Bewusst- sein unseres Einschränkens unserer Tätigkeit, und kann ich mich nicht anschauen als beschränkend, ohne ein Übergehen von der Unbestimmtheit zur Bestimmtheit zu setzen, also ohne Unbestimmtheit mit zu setzen. Auf diesen Punkt kommt viel an.
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J. G. Fichte, Wissenschaftslehre nova methodo, Hamburg 1982, S. 35
Nota. Das obige Foto gehört mir nicht, ich habe es im Internet gefunden. Wenn Sie der Eigentümer sind und seine Verwendung an dieser Stelle nicht wünschen, bitte ich um Nachricht auf diesem Blog. JE
Donnerstag, 13. Juni 2019
Das Ästhetische hat keinen Zweck, sondern gefällt.
Die ästhetische Philosophie ist ein Hauptteil der Wissenschaft und ist der ganzen anderen Philosophie, die man die reelle nennen könnte, entgegengesetzt. ... In materialer Ansicht liegt sie zwischen theoretischer und praktischer Phil- osophie in der Mitte. Sie fällt nicht mit der Ethik zusammen, denn unserer Pflichten sollen wir uns bewusst werden; allein die ästhetische Ansicht ist natürlich und instinktmäßig und dependiert nicht von der Freiheit.
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J. G. Fichte, Wissenschaftslehe nova methodo. Hamburg 1982
Nota I. - Das steht doch noch unterm Einfluss von Baumgartens Aesthetica. Zwar rechnet er das Ästhetische nicht mehr dem "unteren Erkenntnisvermögen", nämlich der bloßen Sinnlichkeit zu. Aber er fasst es als unsere Naturbe- stimmtheit auf und eben nicht als Medium von Selbst bestimmung: "dependiert nicht von der Freiheit".
Das ist sachlich nicht der Fall. Freiheit in specie ist bei Fichte nur möglich durch Reflexion. Ästhetische Betrachtung geschieht aber ohne Reflexion. Bestimmter gesagt: durch Absehen von der Reflexion - und das ist eine Reflexion zweiter Potenz, sie ist erst einem möglich, dem das freie Reflektieren habituell geworden ist - und dem es schon ge- lingt, es gegen es selbst zu wenden:
aus Anthropologie statt Metaphysik
Wissen kommt nicht zustande ohne Absicht. Erst wenn ich an die Dinge meine Absicht* herantrage, bekunden sie ihre Eigenschaften - nämlich wie sie zu dem, worauf ich es abgesehen habe, 'Stellung nehmen'; alias was sie bedeu- ten. Von einem Ding "an sich" gibt es schon darum nichts zu wissen, weil es in dem Moment aufhört, "an sich" zu sein, als es meiner Absicht begegnet. Ohne meine Absicht bedeutet es nichts. Doch ihm ohne Absicht begegnen kann ich nicht.
Wissen kommt nicht zustande ohne Absicht. Erst wenn ich an die Dinge meine Absicht* herantrage, bekunden sie ihre Eigenschaften - nämlich wie sie zu dem, worauf ich es abgesehen habe, 'Stellung nehmen'; alias was sie bedeu- ten. Von einem Ding "an sich" gibt es schon darum nichts zu wissen, weil es in dem Moment aufhört, "an sich" zu sein, als es meiner Absicht begegnet. Ohne meine Absicht bedeutet es nichts. Doch ihm ohne Absicht begegnen kann ich nicht.
Richtiger gesagt: kann ich nicht natürlich, sondern nur künstlich. Kann ich erst durch Reflexion. Nämlich wenn ich absichtlich von den Absichten - allen möglichen Absichten - durch freien Entschluss, nicht natürlich, sondern künst- lich, absehe und das Ding betrachte, wie es 'sich zeigen' würde, wenn ich es ohne Absicht betrachten könnte. Wenn ich also von mir absehen würde. So entsteht kein Wissen von Etwas, sondern lediglich Anschauung von Erschei- nung.
- Der ästhetische Zustand - gehirnphysiologisch.
- ...nicht ohne die Unbestimmtheit mit zu setzen.
- Wie das Ästhetische in die Welt gekommen ist.
Wenn ich mich absichtlich in den ästhetischen Zustand versetze: "In dem ästhetischen Zustand ist der Mensch Null", sagt Schiller. "An sich" sind die Dinge, wie sie ästhetisch (er)scheinen. Sie sind das Kunstprodukt der Reflexion, die ihrer selbst entsagt.
Mit andern Worten, ästhetisches Erleben ist nicht möglich ohne vorheriges Wissen und nicht ohne Hintergedanken. Es ist ein modernes Phänomen. Und dass uns die Bilder, die wir in diesem Zustand sehen, hinterher immer so vor- kommen, als ob sie 'etwas zu bedeuten' hätten, ist kein Wunder.
*) Auf ein Bewusstsein, das erst durch Reflexion entsteht, kommt es hier noch gar nicht an.
4. 9. 2013
Nota II. - Das knüpft unmittelbar an den gestrigen Eintrag. Der Ursprung der Vernunft ist - woher und wozu auch immer - ein originär poietisches Vermögen, eine prädikative Qualität, wie Fichte sagt: produktive Einbildungskraft. Es ist das Vermögen des Bestimmens: das Vermögen, einem an sich Unbestimmten eine qualitas zuzuschreiben.
Daraus ist das System der Vernunft entstanden, auf dessen Boden wir uns, und sei es im Streit, alle zusammenfin- den. Doch erfasst es nicht die ganze Welt - denn nicht überall finden wir zusammen, nicht überall können oder gar müssen wir es. Zusamennfinden müssen - und können - wir, wo wir in der sinnlichen Welt Zwecke setzen, die, weil sie dort realisiert werden sollen, einander berühren, verbinden oder durchkreuzen können.
Das ist gottlob nicht überall so, und wenn ich an mein ureigenstes anschauendes Erleben denke, eigentlich gar nicht. Ich habe keinen Grund, mit dem Bestimmen überhaupt erst anzufangen,* wenn ich nicht Zwecke in der sinnlichen Welt daraus herzuleiten vorab beabsichtige. Und sollte ein bedingter Reflex mich dennoch versuchen, kann ich ihn willentlich unterdrücken. Denn bevor es eine liebe lästige Gewohnheit wurde - in der bürgerlichen Geschäftswelt -, war die Reflexion nur aus Freiheit möglich.
Nicht nur muss ich in der sinnlichen Welt nicht allen Erscheinungen 'mit Interesse' begegnen; ich kann sogar dort, wo ich eins habe, aus Freiheit von ihm absehen. So begegnen mir Dinge, die mir ohne Interesse gefallen - und denen ich ohne Weiteres zustimme; die mir missfallen, die lehne ich ab.
*) Ich schaue das X so an, als ob es schon bestimmt sei.
JE
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Sonntag, 9. Juni 2019
Gibt es einen biologichen Schönheitssinn?
aus derStandard.at, 8. Juni 2019,
Im Auge des Betrachters Verfügt der Mensch über einen Sinn fürs Schöne? Was bewirken schöne Dinge, und was passiert bei der Bewertung von Schönheit im Gehirn? Psychologen geben Antworten
von Julia Sica
Pfauenmännchen buhlen mit ihrem auffälligen Gefieder um die Aufmerksamkeit von Pfauenweibchen. Der Attraktivere hat bessere Chancen bei der Partnerwahl – das war bereits Charles Darwin bewusst. Als menschliche Merkmale, die Artgenossen zur Fortpflanzung animieren sollen, gelten hingegen etwa Gesichtssymmetrie und Hautreinheit. Wer hier gut ausgestattet ist, wirkt auf sein Umfeld gesund und schön.
Bei dieser Funktion hört es mit der Schönheit noch lange nicht auf. Immerhin müssen wir keine Pfauenweibchen sein, um die blaugrün schimmernden Federn ihrer Partner elegant zu finden. Auch Darwin mutmaßte, dass es einen spezifischen Schönheitssinn gebe, mit dem man die gesamte Umgebung ästhetisch wahrnimmt und bewertet.
"Unsere Sicht der Welt wird davon gesteuert, wo die schönen Dinge sind", sagt Helmut Leder, Leiter des Instituts für Psychologische Grundlagenforschung der Uni Wien. Bei der vom Wissenschaftsfonds FWF und der Agentur PR&D veranstalteten Reihe "Am Puls" diskutierte er vergangene Woche mit dem plastischen Chirurgen Artur Worseg darüber, wie uns der Schönheitssinn beeinflusst.
Am Wiener Institut liegt der Forschungsfokus auf dem Visuellen, obwohl sich die Schönheitswahrnehmung auch auf angenehme Melodien oder Gerüche beziehen kann. Bezeichnend ist, dass eine Einschätzung, ob man etwas schön findet, sehr schnell abläuft.
In einem Experiment fanden Leder und Kollegen heraus, dass Versuchspersonen beim Anblick typischer schöner Gesichter und Muster leicht lächelten – selbst dann, wenn sie bewusst gar nicht sagen konnten, ob es sich um einen angenehmen Reiz handelte oder nicht. Im Gegenzug konnte die Stimulation eines Gesichtsmuskels der Verärgerung gemessen werden, wenn ganz kurz ein unschönes Bild erschien.
Glücksgefühl in der Not
"Die Studie zeigt auch: Wenn uns etwas schön vorkommt, bringt das kleine Dosen Freude in unseren Alltag. Schöne Dinge machen uns glücklich", sagt Leder. Wie essenziell diese Art des Glücksempfindens sein kann, lässt sich beispielhaft in Krisengebieten und -situationen erkennen. In Frauengefängnissen stehen bei Insassinnen Make-up-Produkte hoch im Kurs, und selbst in kriegsgebeutelten Gegenden in der Ukraine und im Nahen Osten – und gerade dort – legen viele Menschen Wert auf Schönes: Kunst, Kultur, ein gepflegtes Äußeres.
Die deutsche Literaturprofessorin Barbara Vinken, die sich mit Ästhetik und Mode beschäftigt, sagte dazu: "In der Kleidung wird die Intaktheit des Selbst widergespiegelt. Je stärker man bedroht wird, desto stärker der Wille nach Intaktheit."
Wie sehr schöne Menschen im Alltag unsere Wahrnehmung beeinflussen, ist daran zu erkennen, dass unser Blick wesentlich häufiger und länger auf ihnen ruht. Das klingt naheliegend. Die Stärke dieses Effekts ist aber so groß, dass man im Umkehrschluss mittlerweile durch die bloße Beobachtung von Augenbewegungen sagen kann, welche Gesichter als schöner gelten. Ohne die Testpersonen befragen zu müssen.
Komplexes Schönheitsempfinden
Dass wir uns dezidiert zu Schönem hinwenden, weil es uns guttut und angenehme Empfindungen auslöst, kann sich evolutionär entwickelt haben. Neben biologisch erklärbaren Merkmalen ist Schönheitsempfinden aber weitaus komplexer, erläutert der Wahrnehmungsforscher Leder. Denn was wir als schön ansehen, ist von unserem kulturellen Umfeld abhängig, dazu kommen kurzfristige Erscheinungen wie Moden.
Doch wie funktioniert dieser Schönheitssinn – besonders, wenn die Bewertung so rapide und nahezu unbewusst abläuft? "Es, gibt prinzipiell zwei Möglichkeiten. Haben wir einen Zähler für das Schönheitsmaß, der uns etwa auf einer Skala sagt, ob ein Gesicht wenig, mittel- oder sehr schön ist? Oder haben wir einen Prototyp, der einem symmetrischen Durchschnittsgesicht entspricht, und wir beurteilen die Abweichungen eines neuen Gesichts – wie eine große Nase oder sehr eng stehende Augen – ausgehend von diesem Prototyp?
Um zu testen, welche der beiden Annahmen näher an der Realität ist, hat Leder einen weiteren Versuch mitentwickelt. Dabei machten sich die Forscher den sogenannten Gesichtsinversionseffekt zunutze, der schlichtweg besagt, dass es Menschen schwerer fällt, auf dem Kopf stehende Gesichter zu erkennen. "Wenn wir eine Art eingebauten Schönheitsmesser hätten, müsste die Schönheit bei einem aufrechten Gesicht am höchsten bewertet werden, weil er nur dann optimal anwendbar ist", so Leder.
Innerer Prototyp
Das Ergebnis zeigte allerdings: Um 180 Grad gedrehte Gesichter erhalten die besten Bewertungen. Anstatt dass positive Eigenschaften eines Gesichts summiert werden, schätzen wir eher ab, in welchen Aspekten es negativ von der Norm abweicht. Weil uns dies bei umgedrehten Bildern schwerer fällt, werden sie schöner beurteilt, argumentieren die Studienautoren. Es gibt also erste Hinweise dafür, dass wir Schönheit mit einer Art innerem Prototyp abgleichen und bewerten.
Was aber passiert, wenn dieser ideale Prototyp mit künstlich verschönerten Fotos gefüttert wird, die in den Medien vorherrschen? "Unser Gehirn, unser Wahrnehmungssystem ist uralt und hat damit keine spezifische Verarbeitung für virtuell manipulierte Gesichter. Sie sehen der Realität ähnlich und werden daher automatisch als Gesicht erkannt", sagt Leder.
"Dies fließt also trotzdem in meine Repräsentation davon ein, wie ein Mensch aussieht. Und das kann im schlimmsten Fall dazu führen, dass ich mich selbst und andere für unzureichend und unschön halte." Wichtig sei daher, sich diesen Eindruck regelmäßig bewusst zu machen und zu hinterfragen. Die Begeisterung für klassisch Schönes mag Teil der menschlichen Natur sein – "sie ist aber auch eben nur ein Teil unserer Natur, nur eine Seite des Schönseins."
Variable Schönheit
Bei der Sorge darum, wie die eigene Wirkung einzuschätzen ist, kann man sich zumindest im vertrauten Umfeld entspannen. Die ästhetische Bewertung eines Gegenübers spielt nämlich vor allem beim Kennenlernen eine Rolle, also wenn es etwa um Bewerbungsverfahren oder Partnersuche geht. Unter Freunden ist man einander vertraut genug, um mit "innerer Schönheit" zu punkten.
Und es sollte auch eine Studie britischer Forscher nicht vergessen werden: Das Team um den Psychologen Mike Burton verglich unterschiedlich attraktive Personen mithilfe mehrerer Aufnahmen. Es zeigte sich, dass die Variabilität einer einzelnen Person ziemlich groß ist: Menschen, die allgemein weniger attraktiv eingeschätzt wurden, sahen auf Bildern, die sie an "guten Tagen" erwischt hatten, immer noch besser aus als allgemein Attraktivere auf einem schlechten Bild.
Nota. - Mit all diesen empirischen Untersuchungen zum ästhetischen Wahrnehmen ist es dasselbe: Sie betreffen Motive, die viele gemeinsam als schön beurteilen. Das liegt am Verfahren: Statistik ist naturgemäß quantifizierend, sie erfasst große Mengen und am liebsten gar Durchschnitte. Wenn sie ihre Daten beisammen hat, zählt sie aus. Und siehe da: Je größer die Menge, umso näher liegt die Versuchung, nach einer 'gemeinsamen Ursache' zu suchen.
Und da gibt es dann zwei Möglichkeiten. Entweder biologisch vorgegebene Reiz-Reaktions-Abläufe oder eingeborene Archetypen.
Doch beides übergeht das, was am ästhetischen Erleben das Erhebliche und daher das Problematische ist: das Urteilen. Wenn ich dem nachgebe, wozu ich sowieso neige, dann urteile ich gerade nicht, sondern verzichte auf ein Urteil. Was anderes ist es, wenn ich nach momentanem Schwanken zu meinem ersten Reflex zurückkehre. Dann habe ich mir mein Urteil vielleicht leichtgemacht, aber eben doch geurteilt.
Denn bedenke: Wenn wir tatsächlich alle denselben Geschmack hätten, dann... gäbe es das Ästhetische nicht, weil man es nicht unterscheiden könnte. Ohne Unterscheidung kein Urteil. Von Geschmack kann nur die Rede sein, wenn wir grund- sätzlich einem jeden seinen eigenen Geschmack anmuten.
So wenig das Ästhetische sonst auch mit Vernunft zu tun haben mag - in dem Punkt sind sie einig: Sie muten Jedem ein eigenes Urteil zu. *
*) Ihr Unterschied ist der: Da es bei der einen um das Zusammenwirken geht, verlangt sie für das eigene Urteil gemein- same Gründe. Das Ästhetische hat ein jeder für sich und braucht gar keine Gründe; und das macht seine Besonderheit aus: dass es ohne Grund urteilt.
JE
Mittwoch, 5. Juni 2019
Die Quelle künstlerischer Einbildungskraft.
aus spektrum.de, 3.06.2019
Wo Künstler ihre lebhafte Fantasie hernehmen
Wenn sich Kunstschaffende eine fiktive Welt ausdenken, ist bei ihnen ein neuronales Netzwerk aktiv, das sich bei anderen Menschen meist nur beim Ruhen und Tagträumen regt.
von Knvul Sheikh
Fünfjährige erfinden imaginäre Freunde; Teenager können sich vorstellen, verliebt zu sein; und Erwachsene planen das berufliche Fortkommen, einen Hauskauf oder eine Weltreise. Wir alle besitzen eine gewisse Vorstellungskraft und setzen sie im Alltag ein. Doch wenn wir uns etwas vorstellen wollen, das weit von unserer zeitlichen oder räumlichen Realität entfernt ist – vielleicht die Welt im Jahr 2500 oder wie es wäre, auf dem Mond oder dem Mars zu leben –, dann fällt es uns oft schwer, die Szenen vor unserem inneren Auge erscheinen zu lassen.
Seit Jahrzehnten versuchen Neurowissenschaftler und Psychologen zu verstehen, was genau im Gehirn vor sich geht, wenn wir unserer Vorstellungskraft freien Lauf lassen, und was ihr Grenzen setzt. In einer neuen Studie im »Journal of Personality and Social Psychology« berichten Forschende nun, dass es Menschen mit kreativen Berufen leichter zu fallen scheint, mentale Barrieren zu überwinden und ungewöhnliche Ideen zu ersinnen. Das lasse sich zum Teil damit erklären, dass sie ihre innere Vorstellungswelt auf die ferne Zukunft, unbekannte Orte oder eine fiktive Wirklichkeit ausdehnen, indem sie auf ein bestimmtes Netzwerk im Gehirn zugreifen: den dorsomedialen Teil des so genannten Default-Mode-Netzwerks.
Zu diesem Netzwerk gehören mehrere miteinander verbundene Hirnregionen, darunter der mediale präfrontale Kortex, der hintere zinguläre Kortex, der Gyrus angularis und der Hippocampus. Sie stehen miteinander in Austausch, wenn wir tagträumen, uns zufällig an etwas erinnern oder fremde Absichten erkennen. Einige Studien deuten darauf hin, dass sie außerdem bei Zukunftsvisionen eine Rolle spielen.
Demnach könnten bestimmte Schaltkreise im Default-Mode-Netzwerk dazu beitragen, dass wir beim Vorstellen von unbekannten, aber nahe liegenden Situationen aus unseren Erfahrungen schöpfen. Zum Beispiel erinnern wir uns an Einrichtung und Düfte eines vertrauten Cafés, wenn wir überlegen, ein neues Café in derselben Stadt auszuprobieren. Doch bei kreativen Menschen sind andere Schaltkreise im Default-Mode-Netzwerk beteiligt, sobald sie sich Szenarien fernab von allem Bekannten vorstellen sollen, die sich nicht so einfach aus damit assoziierten Erfahrungen neu zusam- mensetzen lassen. So etwa Romanautoren: »Sie stellen sich die Perspektive einer anderen Person in einer Umgebung vor, die nicht zu ihrer eigenen unmittelbaren Realität gehört«, sagt Meghan Meyer, Juniorprofessorin für Psychologie und Hirnforschung am Dartmouth College in New Hampshire und Erstautorin der Studie.
Um herauszufinden, wie sich Menschen mit kreativen Berufen ein so lebhaftes Bild von einer fernen oder fiktiven Wirklichkeit machen können, führten Meyer und ihre Kollegen drei Experimente durch. Zuerst baten sie 300 zufällig ausgewählte Versuchspersonen, sich eines der folgenden Szenarien vorzustellen: die Erde in 500 Jahren, ein Leben als wütender Diktator oder eine Welt, die nur aus einem Kontinent besteht. Darüber hinaus sollten sie sich so viele Arten wie möglich ausdenken, einen Stift zu gebrauchen oder ein Megaphon weiterzuentwickeln. Eine gute Note für Imaginations- kraft bekam, wer sich bei diesen Aufgaben besonders kreativ zeigte.
Anschließend wiederholte das Team seine Tests mit 100 weiteren Versuchspersonen, die Auszeichnungen für ihre Krea- tivität beim Schreiben, in den bildenden Künsten, in der Schauspiel- oder Regiearbeit erhalten hatten. Dieselben Aufga- ben absolvierten auch Probandinnen und Probanden, die beruflich im Finanzsektor, in der Rechtswissenschaft oder der Medizin erfolgreich waren. Die Kreativen übertrafen sie allerdings darin, wie anschaulich sie die Situationen schriftlich darstellen und sich nach eigenen Angaben auch vor dem inneren Auge vorstellen konnten.
Meyer und ihr Team fragten sich, ob Menschen in kreativen Berufen einfach stärkere »Vorstellungsmuskeln« hätten, so wie professionelle Baseballspieler einen robusteren Wurfarm haben als Nichtsportler. Um etwaige Muskeln zu beobach- ten, zeichneten sie die Hirnaktivität von 27 Kreativen und 26 Kontrollprobanden mittels funktioneller Magnetresonanz- tomografie auf. Das neuronale Geschehen der Berufsgruppen sah ähnlich aus, wenn sie sich lediglich die nächsten 24 Stunden vorstellen sollten. Aber wenn es darum ging, sich Ereignisse in der weiteren Zukunft vorzustellen, regte sich das dorsomediale Default-Mode-Netzwerk bei der Kreativgruppe, jedoch nicht bei der Kontrollgruppe. Und auch wenn sie gerade ruhten, also keine Aufgaben erledigten, war das Netzwerk bei den Kreativen stärker aktiv als bei den anderen Berufsgruppen.
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»Für das Verständnis des kreativen Gehirns ist das ein großer Fortschritt«, kommentiert der Psychologe Roger Beaty von der Penn State University die Studie, an der er nicht beteiligt war. »Die Ergebnisse geben Aufschluss darüber, wie sich das Gehirn verschiedene Situationen vorstellen kann und was Kreative so besonders gut darin macht, sich eine Wirklich- keit fernab ihrer eigenen vorzustellen.«
Die Ergebnisse verraten auch etwas über die Art und Weise, wie wir andere Menschen begreifen. Das dorsomediale Default-Mode-Netzwerk ist offenbar daran beteiligt, wenn wir über Perspektiven nachdenken, die sich deutlich vom eigenen Erleben unterscheiden. So könnte es Menschen auch besser dazu in die Lage versetzen, sich in andere einzufüh- len und einzuschätzen, wie etwa künftige Generationen die heutige Politik beurteilen werden, sagt der Psychologe Daniel Schacter von der Harvard University, der ebenfalls nicht an den Experimenten von Meyer und ihren Kollegen beteiligt war. Die nächste große Frage sei, ob sich die Aktivierung des dorsomedialen Default-Mode-Netzwerks trainieren lasse. Wenn ja, dann könnten Malkurse oder andere kreative Tätigkeiten die Fantasie anregen und uns allen helfen, einander besser zu verstehen.
Nota. - So so, das dorsomediale Default-Mode-Netzwerk also. Was sagt uns das? Jedenfalls mehr als gar nichts. Was uns aber brennend interessiert: Sind sie erfindungsreicher, weil das dorsomediale Default-Mode-Netzwerk aktiver ist, oder ist das dorsomediale Default-Mode-Netzwerk aktiver, weil sie erfindungreicher sind?
Üben, üben, üben würde so oder so nützlich sein.
JE
Sonntag, 2. Juni 2019
Zu Picasso habe ich auch eine Meinung.
Das "Genie der Moderne" hat ihn der Leiter der Kunstredaktion in der Neuen Zürcher genannt, und hat damit voll ins Schwarze getroffen; allerdings in einem ganz andern Sinn, als er denkt. Das Genie der Moderne ist, dass zum obersten Sinnstifter der Markt geworden ist. Seit im Goldenen Zeitalter in Amsterdam ein Kunstmarkt entstand, wird auch in der Bildenden Kunst der Tausch den Wert bestimmen, aber seine Vollendung fand das erst im 20. Jahrhundert, und Blut und Fleisch wurde es in Pablo Ruiz, der früh erkannte, dass er es mit dem Namen nicht weit bringen würde, und sich nach seiner Mutter Picasso nannte.
Ich nutze die Gelegenheit, einmal zu schreiben, was ich davon halte, und damit soll's auch gut sein.
Dass er gar nicht malen konnte, werde ich nicht sagen, die frühe Pariser Sachen sind ja nicht schlecht, ab er eine Jahr- hundertbegabung offenbaren sie nicht gerade, weder in Zeichnung, Farbgebung, Verhältnis der Massen noch gar - in der Motivik. Harlekins und Akrobaten, na schön. Aber immer wieder? Fällt ihm sonst nichts ein?
Eben: Das ist das Problem. Es ist zeitgenössische Genremalerei, sowas geht beim Publikum, das ist nicht zu verschmähen. Das kann einer aufgeben, dem die Bilder nur so in den Kopf schießen und der einen großen gestalterischen Drang hat. Der wird meinen, ums Publikum kannst du dich immer noch kümmern, erst musst du mal wissen, wo's lang geht. Das ist nicht Picassos Fall. Der sichert sich zuerst sein Publikum, wo's lang geht, wird man sehen. Auf jeden Fall muss man interessant sein. Wo ein Deutscher sagt, 'der macht sich wichtig', sagt der Franzose: il fait l'intéressant, zwei Nationalcharaktere kommen da zur Sprache und machen verständlich, wieso neben den Fauves unsere Expressionisten so bierenst wirken.
Seinen Stil hat er längst gefunden, was immer sonst geraunt wird: Es ist die Manier. Der Stil arbeitet heraus, worauf es dem Künstler ästhetisch ankommt; das andere kann er vernachlässigen. Die Manier arbeit heraus, was dem Publikum auffallen soll. Und wenn es sonst nichts anderes ist als eine andere Farbe, Rosa anstelle von Blau. Das generiert auch gleiche ein Marketingkategorie: Rosa Periode, das davor wird ipso facto zur Blauen Periode, wirklich intéressant!
Die Manier hat freilich - zumal, wenn sie Erfolg hat - den Nachteil, dass bald alle ein Stück davon in der Wohnung haben, und dann muss Neues her. Eine andere Manier eben.
Die Blaue und Rosa Periode waren die Paravents, hinter denen ich sicher war. Im Schutz meines Erfolgs habe ich tun können, was ich wollte, alles was ich wollte, wird er oben zitiert. Aber tatsächlich hat er hinterm Paravent seines Erfolges verschleiern können, dass er in Wahrheit gar nichts wollte; jedenfalls nicht künstlerisch, da war ihm eins so gut wie das andere. Dass der Erfolg mal nur nicht nachließ - das war 'alles, was er wollte'. Und da er früh zu üben begonnen hatte, schaffte er's bis über den Tod. Ist er Risiken eingegangen? Sagen wir mal: Er hat genial gezockt.
Dass das alles nichts taugt, werde ich nicht sagen, ich bin ja nicht blöd; manches ist sogar ganz gut, aber das sind nicht unbedingt die berühmtesten Sachen ... . Doch Furore gemacht hat er mit den immer wieder brandneuen Manieren, damit hat er Epoche gemacht, er hat einen Maßstab gesetzt, und wenn einer verantwortlich ist für den Zustand der Gegenwartskunst und für die Erwartungen des Markts, dann ist er es, das kann kein Dalí ihm streitig machen; Kunst ist Bluff, der sich bezahlt macht.
Dass er der bedeutendste Maler des 20. Jahrhunderts wäre, glaubt ja wohl keiner im Ernst.
Samstag, 1. Juni 2019
Erotik des Ästhetischen.
Lysipp, Eros
Anschauen ist ein sich-Verlieren im ganz-Andern. Das ist seine Versuchung; es ist im Plato'schen Sinn erotisch.
Problematisch wird es beim bildenden Künstler. Seiner Einbildungskraft hat ein Bild vorgeschwebt, in dem er sich verloren hat. Aber er will es wiedergeben. Er muss es von sich absondern, um es fassen zu können. Doch sobald er es gefasst hat, ist es kein wirklich Anderes mehr; er müsste es so fassen, dass es, ungeachtet seiner Vertrautheit mit ihm, allen Andern als 'ganz anders' vorkommt. Und das ist sein formales, sein künstlerisches Problem: Er kann sich an die Ausarbeitung seiner Wiedergabe nicht heranmachen ohne Berechnung.
Es gab bildende Künstler, deren Bilder so aussehen, als habe mit der Berechung ihre bildnerische Produktion angefangen und die Anschauung sei aus einem fertigen Repertoire an irgendeiner Stelle nur herbeigezogen worden. Ich denke, um nicht viel Ärger zu riskieren, an William Bouguereau: Die einen sagen, es sei akademisch, die andern sagen, es ist Kitsch.
Kunst wäre es, wenn seine Einbildungskraft ihm ein Bild hat vorschweben lassen, das, nachdem es durch den Fleischwolf sei- ner tastend-bestimmenden Experimente gegangen ist, doch immer noch so stark geblieben wäre, dass es die Einbildungskraft der andern so dazu versucht, sich in ihm zu verlieren, wie er es tat, bis er sich ans reflektierende Wiedergeben gemacht hat.
Ein Künstler ist er, wenn es ihm gelang, aus seinem Herzen eine Mördergrube zu machen, ohne dass jeder es sehen kann.
Es gibt aber auch solche, die von vorn bis hinten nur bluffen.
Freitag, 31. Mai 2019
Das Paradox des ästhetischen Zustands.
Zurbarán
Anschauen ist als absehendes Hinwenden auf... eine Tätigkeit. Es ist die Elementarform der Reflexion und nur 'durch Freiheit möglich'. Zugleich aber verliert sich das Subjekt beim Anschauen in den Gegenstand. Es ist ein unfreier Zustand, in dem er Mensch leidend ist. Im Anschauen begibt sich der Mensch aus Freiheit in Unfreiheit. Es ist ein Widersinn. Dieser Widersinn macht den ästhetischen Zustand aus.
Aus seiner Befangenheit im Gegenstsand reißt sich das Bewusstsein durch den freien Entschluss zum Bestimmen: im Identi- fizieren des Gegenstands durch das Zuschreiben qualitativer Merkmale. Es ist nicht länger leidend, sondern wieder tätig.
Das Gefühl des Tätigseins ist dem bürgerlichen Menschen habituell geworden, sobald er den öffentlichen Raum betritt. Das absichtlich-absichtslose Anschauen bedarf einer besonderen Bemühung - im Museum, im Konzert.
Das ist der Grund, weshalb der ästhetische Zustand nicht unser Normalzustand ist. Im Gegenstand zu versinken kann man sich nur leisten, wo man - und sei's im öffentlichen Raum - privat ist.
Sich gehenlassen ist ganz etwas anderes. Im Gegenstand des Gefühls versinken ist etwas anderes, als im Gefühl zu versinken, denn im Gefühl ist man bei sich und nicht im Gegenstand. Im eigenen Gefühl versinken ist kein ästhetischer Akt, sondern Kitsch.
Anschauen ist als absehendes Hinwenden auf... eine Tätigkeit. Es ist die Elementarform der Reflexion und nur 'durch Freiheit möglich'. Zugleich aber verliert sich das Subjekt beim Anschauen in den Gegenstand. Es ist ein unfreier Zustand, in dem er Mensch leidend ist. Im Anschauen begibt sich der Mensch aus Freiheit in Unfreiheit. Es ist ein Widersinn. Dieser Widersinn macht den ästhetischen Zustand aus.
Aus seiner Befangenheit im Gegenstsand reißt sich das Bewusstsein durch den freien Entschluss zum Bestimmen: im Identi- fizieren des Gegenstands durch das Zuschreiben qualitativer Merkmale. Es ist nicht länger leidend, sondern wieder tätig.
Das Gefühl des Tätigseins ist dem bürgerlichen Menschen habituell geworden, sobald er den öffentlichen Raum betritt. Das absichtlich-absichtslose Anschauen bedarf einer besonderen Bemühung - im Museum, im Konzert.
Das ist der Grund, weshalb der ästhetische Zustand nicht unser Normalzustand ist. Im Gegenstand zu versinken kann man sich nur leisten, wo man - und sei's im öffentlichen Raum - privat ist.
Sich gehenlassen ist ganz etwas anderes. Im Gegenstand des Gefühls versinken ist etwas anderes, als im Gefühl zu versinken, denn im Gefühl ist man bei sich und nicht im Gegenstand. Im eigenen Gefühl versinken ist kein ästhetischer Akt, sondern Kitsch.
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