Samstag, 22. Februar 2014

Joachim Patinirs Weltlandschaft.

aus NZZ, 22. 2. 2014

Die Welt in ihrer ganzen Vielfalt  
Mit Joachim Patinir am Rheinfall - der enzyklopädische Anspruch seiner «Taufe Christi»

von Felix Thürlemann

Patinirs Landschaftsgemälde, aus zahllosen, präzise beobachteten Details zusammengefügt, simulieren die Welt als Ganzes. Die um 1515-20 entstandene «Taufe Christi» birgt ein bisher unbeachtetes Motiv: die erste bildliche Darstellung des Rheinfalls. 

Joachim Patinirs «Taufe Christi» im Kunsthistorischen Museum in Wien gilt als Hauptwerk des grossen niederländischen Landschaftsmalers. Das Thema ist nach der damals im Norden gültigen Formel dargestellt: Christus steht bis auf den weissen Lendenschurz nackt im Wasser; Johannes kniet am Ufer und giesst Christus aus der blossen Hand Wasser über das Haupt. Oberhalb des Täuflings erscheint in einer dunklen Wolke Gottvater, der die Geisttaube zu seinem Sohn sendet. Johannes erkennt man ein zweites Mal am linken Bildrand, wie er als Prediger dem jüdischen Volk das Kommen des Erlösers ankündigt. Auch Christus ist bereits vor der Taufe dargestellt. Er steht ganz allein in der Bildtiefe hinter dem Propheten und seinen Zuhörern und wartet auf sein Erlösungswerk. Etwa so lassen sich die handelnden Figuren beschreiben. Doch diese machen nur einen Teil des Werkes aus.


Wer vor der gemalten Tafel steht, erkennt als Bühne für die dargestellte biblische Episode eine weit ausladende, ungewöhnlich fein gegliederte Landschaft. Mit seinem einzigartigen Reichtum an prägnanten Details bietet das Gemälde den Betrachtern ein beinahe unerschöpfliches Sehvergnügen. Alles in dieser Landschaft wirkt echt und gleichzeitig bizarr übersteigert. Inmitten von sattgrünen Wiesen und dichten Büschen ragen mächtige grau-braune Felstürme auf, die mit ihren komplexen Schichtungen und den darin versteckten Gesichtern nicht nur Geologen zu faszinieren vermögen. Hinter dem riesigen Felsen, der die Hauptfigur zu verdoppeln scheint, dehnt sich ein unermesslich weites Plateau mit Hügeln und Bergen aus, das sich im blauen Dunst der weiten Ferne verliert. Getrieben vom Drang, möglichst viel von dem zu zeigen, was die sichtbare Welt ausmacht, schuf Patinir eine malerische Summe der Natur.

Rast auf der Flucht nach Ägypten 

Man pflegt das von Joachim Patinir entwickelte Bildkonzept mit «Weltlandschaft» zu bezeichnen. Die besondere Leistung gerade dieses Malers bestand darin, zwei widersprüchlichen Aufgaben gerecht zu werden. Es gelang ihm, innerhalb eines beschränkten Bildgevierts einen kohärenten Blick auf die Welt zu simulieren und gleichzeitig diese in ihrer ganzen Vielfalt, als Bild des Ganzen, erfahrbar zu machen. Auch im Nahblick wird der enzyklopädische Zugriff deutlich: etwa am Beispiel der minuziös gemalten Tiere, die die Erde neben zahlreichen Menschen, die ihrer Arbeit nachgehen, bevölkern: durch die Echsen und Lurche, die sich um die Wurzeln des abgestorbenen Baumes links unten tummeln, den Hasen, der darüber aus der Höhle hoppelt, den Hirsch in der Bildmitte neben Christus oder den Fischreiher, der rechts am Ufer steht und dabei genauso ins Wasser starrt wie der Angler, der ihm gegenüber am Ufer sitzt.

Landschaft mit dem Hl. Hieronymus

Überhaupt zeigt das Gemälde - wie es die dargestellte Geschichte verlangt - viel Wasser. Ja, man könnte sagen, der eigentliche Akteur des Bildes ist nicht Christus, sondern der Fluss Jordan. Als schäumender Wasserfall stürzt er ins Bild hinein, um sich aber sogleich zu beruhigen. Glatt wie ein Spiegel breitet er sich in einem grossen weiten Bogen hinter dem Felsmassiv aus und bildet schliesslich am unteren Bildrand, vom Rahmen abgeschnitten, wie von ihm gestaut, eine Furt. Hier, dem Betrachter am nächsten, steht Christus im Wasser und empfängt vom Täufer das Sakrament.

Wiedererkennen

Der Blick springt zurück auf das Motiv des Falls, mit dem der Jordan ins Bild hineinbricht. Diese beiden charakteristischen Felsbrocken inmitten des schäumenden Wassers erscheinen einem vertraut. Natürlich, es muss der Rheinfall sein. Die Bildformel hat sich eingeprägt, wurde sie doch von frühester Jugend an immer wieder aufgefrischt, wenn man mit den Eltern zusammen den regelmässigen Ausflug nach Neuhausen bei Schaffhausen machte, möglichst nach einer längeren Regenperiode, damit das Wasser auch kräftig schäumte und mächtig donnerte.

Landschaft mit der Flucht nach Ägypten

Genau so wie in der schönsten Jugenderinnerung schäumt das Wasser auch in Patinirs Gemälde rund um die beiden eng beieinanderstehenden Felsen. Hinter dem Katarakt erhebt sich wie in der Wirklichkeit der grosse Hügel mit dem Schloss Laufen, das freilich seine jetzige Form erst später, nach der Übernahme durch die Zürcher im Jahre 1544, gefunden hat. Die Darstellung des Rheinfalls im Wiener Gemälde von Joachim Patinir ist eine Premiere. Sie entstand mehr als zwanzig Jahre vor der ältesten bisher bekannten Wiedergabe, dem Holzschnitt in Sebastian Münsters ebenfalls 1544 erschienener «Cosmographia». Man könnte sich mit dieser Feststellung begnügen. 

Triptychon mit dem Hl. Hieronymus; lks. Taufe Christi

Doch mit der Benennung der Entdeckung ist es nicht getan. Die Darstellung ist als überraschend präzises visuelles Protokoll eines Naturphänomens für das frühe 16. Jahrhundert höchst ungewöhnlich, gerade auch wenn man sie mit dem später entstandenen, ornamental aufgefassten Holzschnitt vergleicht. Die Entdeckung des Rheinfall-Motivs in Patinirs Gemälde mit der Taufe Christi führt zu neuen Fragen. Ihre Beantwortung kann Auskunft darüber geben, wie der Antwerpener Maler die Welt gesehen hat.

Ausschneiden - wieder einfügen

Wer die visuelle Formel «Rheinfall» gespeichert hat, schneidet, wenn er vor das Gemälde tritt, das Motiv des Wasserfalls vor der Folie des Schlosshügels als eine prägnante Bildkonfiguration aus ihm heraus, um es mit einer erinnerten Bildvorstellung oder mit anderen seither entstandenen Bildern zu vergleichen - seien diese gemalt, in Holz geschnitten, in Kupfer gestochen oder fotografiert. Der Maler aber ist den umgekehrten Weg gegangen. Er hat das Motiv in der Natur entdeckt, es zeichnerisch festgehalten und schliesslich in eine malerische Darstellung der Welt eingebaut.

Hieronymus in der Einöde

Man kann sich vorstellen, wie Patinir in seinem Atelier, als er sich vornahm, eine grosse Landschaft mit dem Thema Wasser zu schaffen, sich an das Blatt erinnerte, das er während einer Reise in den Süden vielleicht schon etliche Jahre zuvor gezeichnet hatte. Er öffnete sein Skizzenbuch und entschied sich, die Erscheinung des Jordan in seinem Gemälde mit einem besonderen Ereignis zu verbinden: als Wasser, das in das Bild hineinstürzt. Das Motiv malerisch umzusetzen, um den Eindruck des Zischens und des Glänzens in der Sonne zu geben, war zweifellos nicht einfach. Es musste als Teil der grossen Welt mit dieser verbunden werden, und der rückwärtige Hügel mit dem Schloss musste in den Bildgrund, der sich bis zum fernen Horizont hin ausdehnte, integriert werden. Um dies zu bewerkstelligen, bediente der Maler sich eines raffinierten Tricks. Er machte aus dem einen Hügel, den er auf seiner Zeichnung festgehalten hatte, zwei: Vor die hohe, von der Burg bekrönte Kuppe, die sich mit ihrer klaren Silhouette vom Himmel abhob, setzte er zusätzlich einen kleineren Hügel, den er mit einem frei erfundenen Kirchenbau ausstattete. So war das von ihm zuvor isolierte Motiv wieder Teil der Welt, der von ihm erfundenen gemalten Welt.

Malerpilger und Naturforscher

Patinirs Wasserfall hat keinen Namen. Er ist, anders als der Holzschnitt in Münsters Kosmografie, keine Illustration für einen bekannten, im Text beschriebenen geografischen Ort. Patinirs Darstellung des Rheinfalls ist das Zeugnis einer Entdeckung, die der Maler während einer Reise gemacht hatte - und Reisen gehörte offenbar zu seinem Leben. - Geboren wurde Joachim Patinir um 1480 bei Dinant in Wallonien, der befestigten Stadt an der Maas mit ihren seltsam isolierten, hoch aufragenden Felsen direkt am Ufer des träg dahinfliessenden Stroms. Dieser Akkord aus ruhigem Wasser, flachem Land und steilen Bergen sollte Patinir prägen, und er prägt auch das Wiener Gemälde mit der Taufe Christi. 1515 gründete Patinir, der zuvor vermutlich in der Werkstatt von Gerard David in Brügge gearbeitet hatte, in der blühenden Handelsmetropole Antwerpen eine eigene Werkstatt und wurde Mitglied der Malergilde. Bald war er als Feinmaler und Spezialist für ungewöhnliche Landschaftsbilder bei reichen Sammlern so begehrt, dass er seine Werke immer grösser und thematisch immer anspruchsvoller anlegen konnte. Selbst vor dem mythologischen Thema mit Charon, der die Seele über den breiten Acheron übersetzt, schreckte er nicht zurück
 

Überfahrt ins Totenreich 

Doch Patinir hat nicht nur gemalt und gelesen. Er muss Antwerpen und zuvor Brügge auch regelmässig verlassen haben, um die Welt in ausgedehnten Wanderungen zu erkunden. Nur weil sie selbst das Kondensat von Reisen sind, können Patinirs Bilder den Betrachter dazu einladen, sich in ihnen - wie in der wirklichen Welt - sehend zu bewegen.

Als Beleg für eine solche Reise galt bisher ein kleines Täfelchen der Sammlung Ruzicka im Kunsthaus Zürich aus Patinirs Hand, das die Entrückung der Maria Magdalena darstellt. Die Landschaft, in der das Wunder stattfindet, entspricht der Felsarena von La Sainte-Baume in der Provence mit der Grotte, in der die Büsserin dreissig Jahre verbracht haben soll, in einzelnen Details so genau, dass die Darstellung auf Autopsie zurückgehen muss. Die Grotte war ein beliebtes Pilgerziel, dies vor allem nachdem Franz I. 1516, ein Jahr nach dem Sieg bei Marignano, eine Dankwallfahrt dorthin gemacht hatte. - Es ist eher unwahrscheinlich, dass es die gleiche Reise war, die Patinir in den provenzalischen Pilgerort und nach Schaffhausen führte. Vermutlich hat Patinir den Rheinfall auf der Rückkehr aus Italien kennengelernt, vielleicht anlässlich einer Pilgerfahrt nach Rom, wie sie damals viele - unter ihnen auch viele Maler - einmal im Leben unternahmen. Bei der Rückreise in den Norden, nach dem beschwerlichen Gang über die Alpen, bot sich neben dem Landweg als Alternative die Schifffahrt über den Bodensee und den Rhein nach Basel und weiter nach Köln an. Auch der Florentiner Humanist Poggio Bracciolini hatte den Wasserweg gewählt, als er im Jahre 1417, während des Konstanzer Konzils, die heissen Quellen von Baden besuchte, um seine Arthritis zu kurieren. Poggios berühmter Brief mit der Schilderung der damaligen Schweizer Badesitten enthält auch die erste Beschreibung des Rheinfalls, die uns überliefert ist. Und er zeigt, was der Fall für die Schiffsreisenden damals bedeutete: Er war Anlass für eine Unterbrechung und für einen kurzen, aber ziemlich beschwerlichen Fussweg, der direkt am Naturschauspiel vorbeiführte.

Die Versuchung des Hl. Antonius

Gesamtschau

Offenbar nutzte Patinir die Zeit, bis die Fässer und Ballen alle auf das neue Boot verladen waren. Er setzte sich mit seinem Skizzenbuch in den Hang über dem Becken gegenüber dem Rheinfall und hielt das Naturschauspiel vor dem Hintergrund von Schloss Laufen in einer detaillierten Zeichnung fest. Die von Patinir daraufhin in sein Gemälde integrierte Ansicht sollte einzigartig bleiben. Denn bereits im 17. Jahrhundert war der Blick auf den Rheinfall von dieser Position aus durch die Häuser, die man unterhalb der alten Mühlen zusätzlich auf die Felsen gesetzt hatte, verbaut. Wer sich heute dort niederlässt, wo der Maler sass, kann zwischen den Gebäuden bloss einen der beiden Felsen erspähen. Den Rheinfall aus der Perspektive, wie ihn Patinir gesehen hat, zeigt uns nur noch sein Gemälde mit der Taufe Christi im Kunsthistorischen Museum in Wien. Er ist integriert in eine Gesamtschau der Welt, die ihrerseits als Rahmen für die christliche Heilsgeschichte dient. Es sollte noch lange dauern, bis der Rheinfall zum ausschliesslichen Gegenstand zuerst von bildmässig aufgefassten grafischen Blättern und dann von malerischen Veduten werden konnte.

Prof. Felix Thürlemann lehrt Kunstgeschichte an der Uni Konstanz.

Der Untergang von Sodom und Gomorrha


Nota.

Natürlich ist Joachim Patinir der erst große Landschaftsmaler. Ihm dient die Landschaft aber nicht dazu, das Thema der Darstellung in den Hintergrund zu setzen und die ästhetische Seite des Gemäldes hervorzukehren; er erfindet seine Landschaften so, dass sie das Thema der Erzählung vertiefen und charakterisieren (und nicht nur illustrieren). Bei Claude Lorrain erscheinen die Menschen und was sie tun immer mehr bloß als Vorwand für ein Landschaftsstück, und da kann er ohne weiteres auch reale Landschaften porträtieren. Da ist Patinir Jahrhunderte von entfernt. Doch dass er die Landschaft beim Thema mitreden ließ, war ziemlich einzig.
JE

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