Samstag, 8. Februar 2014

Zürich: Ein erweiterter Expressionismus-Begriff.

aus NZZ, 7. 2. 2014                                                                                      Kandinsky, Murnau - Kohlgruberstrasse, 1908

Senfgelb, Taubenblau und eine steile These
Expressionismus «Von Matisse zum Blauen Reiter» im Kunsthaus Zürich: ein Blockbuster mit Niveau
 

von Christian Saehrendt 

Gut hundert Meisterwerke der Moderne präsentiert das Kunsthaus in der Schau: «Expressionismus in Deutschland und Frankreich». Dabei wird die These vertreten, es habe sich damals um einen vitalen Kulturaustausch gehandelt. 

Freunde expressiver Malerei werden begeistert sein über diese Ausstellung hochkarätiger Werke der Künstlergruppen Blauer Reiter und Brücke sowie von van Gogh, Matisse und anderen Akteuren der europäischen Kunstwelt um 1900. Die Gemälde, Grafiken und Dokumente sind nach Gruppen und Schauplätzen geordnet, fensterartige Durchbrüche in den Trennwänden erwecken den Eindruck der Transparenz, die ja auch zwischen den damaligen Künstlerzirkeln geherrscht haben soll. Die schief gestellten Zwischenwände in Taubenblau und Senfgelb beleben den Bührle-Saal und strahlen dennoch die notwendige Ruhe und Zurückhaltung aus, um die Farbexplosionen und gestischen Turbulenzen auf den Gemälden zur Geltung zu bringen. Teilweise wirken die Farben so frisch - etwa im Fall von Mackes «Gemüsefeldern», Jawlenskys «Mädchen mit Pfingstrosen» oder Kandinskys «Kohlgruberstrasse» -, man glaubt nicht, dass die Bilder 100 Jahre alt sind. 

Alexej Jawlensky, Mädchen mit Pfingstrosen, 1909

Ein Fest für den Sehsinn

Ohne Zweifel ist diese Ausstellung ein Fest für den Sehsinn. Doch sie will nicht nur ein Besuchermagnet sein, den die Museumsstatistik ab und zu nötig hat. Die Schau hat auch einen wissenschaftlichen Anspruch, sie ist, wie es seitens des Kunsthauses treffend formuliert wurde, «ein intellektueller Blockbuster». Der kalifornische Expressionismus-Experte Timothy O. Benson zeichnet als Kurator inhaltlich verantwortlich. Diese internationale Kooperation sorgte dafür, dass das Kunsthaus in der üblichen Leihgabenlotterie grosse Lose zog und einige selten in Europa gesehene Gemälde versammeln konnte, wie etwa Pechsteins «Stillleben mit Akt, Kachel und Früchten» aus amerikanischem Privatbesitz. Hinzu kommt, dass das Kunsthaus seinen Sammlungsbestand als Ressource voll ausspielen konnte. 

Paul Gauguin, Le Gardien de porcs, 1888,

Das Ziel Bensons besteht darin, die Charakterisierung des Expressionismus als «typisch deutsche» Stilrichtung zu unterminieren und stattdessen seine internationalen Inspirationsquellen offenzulegen - was hinlänglich bekannt, also keine wissenschaftliche Neuheit ist. Die Phrase vom damaligen «internationalen künstlerischen Austausch», die hier bemüht wird, passt vielleicht gut zur heute politisch gewünschten und überall propagierten «gesamteuropäischen Kultur-Identität» - den historischen Fakten wird sie nicht gerecht. Es wäre angemessener, statt vom wechselseitigen Austausch von der einseitig verlaufenden Einflussnahme des Pariser Kunstgeschehens, seiner Künstler, Händler und Kritiker zu sprechen. Die Stadt war im 19. Jahrhundert (und bis in die 1920er Jahre hinein) die überragende Kulturmetropole. Dementsprechend wirkten französische Trends europaweit (und sogar in den USA), während die Kunst der Nachbarländer in Frankreich ohne nennenswerte Resonanz blieb. 

Matisse, Intérieur d'atelier  

Die Wertschätzung, die Matisse, Derain, Vlaminck und andere französische Künstler vor 1914 in Deutschland genossen, führte sogar dazu, dass sie in ihrem Heimatland als «unfranzösisch» ausgegrenzt wurden. Dies ging so weit, Matisse gehässig die Physiognomie eines «deutschen Militärattachés» anzudichten und Broschüren zu publizieren, die vor dem «bedrohlichen Einfluss» deutsch-jüdischer Kunsthändlervereinigungen warnten. Den meisten Franzosen waren der Kubismus und Expressionismus als barbarische «peinture boche» ein Greuel. Ohne Zweifel wirkte sich das Klima von Fremdenfeindlichkeit und Antisemitismus, das im Frankreich der Jahrhundertwende herrschte, auch auf dem Gebiet der Kunst aus.

Paul Cézanne, Grosses pommes, um 1891

Vor der Kriegskatastrophe von 1914 hatten viele Künstlergruppen in Europa noch bewusst einen internationalen Status angestrebt - dies gehörte quasi zum guten kosmopolitischen Ton, aber gelang nicht immer. Auch die Brücke gründete sich 1905 in Dresden mit dem Anspruch, eine internationale Organisation zu werden. Kirchner regte 1908 an, Matisse als Mitglied zu gewinnen, doch der Kontakt kam nicht zustande. Pechstein hatte in Paris Kees van Dongen kennengelernt, der aber nur kurzzeitig mitwirkte. Mehrfach und ohne Erfolg bemühte sich die Brücke um gemeinsame Ausstellungen und um die Mitgliedschaft Edvard Munchs und Wassily Kandinskys. Sieht man vom Schweizer Cuno Amiet ab, der bis zur Auflösung der Brücke formales Mitglied blieb, waren damit alle Versuche, aus der sächsischen Künstlervereinigung eine internationale Gruppierung zu machen, gescheitert. Sie blieb ein deutsches Phänomen. 

Ernst Ludwig Kirchner, Dodo am Tisch (Interieur mit Dodo)

Explizit «deutsche» Künstler

Gegen die These vom vitalen Kulturaustausch spricht auch, dass es in ganz Europa im ersten Drittel des 20. Jahrhunderts zum dringlichen Anliegen vieler Künstler und Künstlergruppen wurde, sich trotz der kulturellen Dominanz von Frankreich abzunabeln und etwas Eigenständiges aufzubauen. Ludwig Justi, Direktor der Berliner Nationalgalerie, vertrat 1923 die Meinung: «So kostbar die französische Malerei ist, all ihre Nachahmungen kommen um so früher zum Plunder, je genauer sie nachgeahmt sind. Die besten unserer jüngeren Maler sind nicht nach Paris gegangen, sie schnitzen aus eigenem Holz.» Ein wechselseitiger Kulturaustausch fand im ersten Drittel des 20. Jahrhunderts nicht statt bzw. nur im marginalen Ausmass. Ihn sich rückwirkend herbeizukonstruieren, ist sicher auch unserem heutigen Bestreben geschuldet, aus der Urkatastrophe des modernen Europa Lehren zu ziehen und dabei der Kunst eine Rolle in Sachen prophylaktischer Völkerverständigung zuzuweisen. Insofern gehört die Ausstellung im Kunsthaus zu jener internationalen Gedenk-Maschinerie, die in diesem Jahr unter dem Namen «100 Jahre Erster Weltkrieg» angelaufen ist.

Franz Marc, Steiniger Weg (Gebirge/Landschaft), 1911 (übermalt 1912)

Im Zeitalter des Nationalismus wurden Nationalgeschichte und Stilgeschichte miteinander verknüpft, künstlerische Leistungen als Erbe und Ausdruck eines durch die Jahrhunderte konstanten Nationalcharakters betrachtet. Daher rezipierte man die Expressionisten rasch als explizit «deutsche» Künstler, den Expressionismus als «deutschen Nationalstil» mit Wurzeln bis in die Gotik. Diese Identifikation ist bis heute intakt. Trotz internationalen Einflüssen in seiner Frühphase wurde und bleibt der Expressionismus rezeptionshistorisch eine «deutsche Affäre». Erst in den letzten Jahrzehnten haben sich das Forschungsinteresse und der Publikumsgeschmack in den USA, Grossbritannien und Frankreich für ihn geöffnet. 

August Macke, Landschaft mit Kühen und Kamel, 1914

Und gerade in jüngster Zeit hat sich gezeigt: Selbst die globalisierte Kunstszene der Gegenwart braucht immer noch nationale Wurzeln als Kristallisationskerne und Vermarktungskategorien. Das Element des Nationalen ist das Salz in der globalen Kunstsuppe. Ohne Markennamen wie «Young British Artists», «Based in Berlin» oder «Neue Leipziger Schule», ohne nationale Pavillons auf den Biennalen geht es auch heute nicht.

Erich Heckel, Mädchen mit Puppe, 1910.

Im Ausstellungskatalog wird am Ende die Frage gestellt: «Was sagt uns der Expressionismus heute?» Es wäre interessant zu erfahren, ob und auf welche Weise sich jüngere Gegenwartskünstler von den Fauves oder der Brücke inspirieren lassen. Stattdessen verspricht ein Gespräch der Co-Kuratorin Catherine Hug mit Georg Baselitz einen «frischen Blick» auf die damalige Avantgarde: ausgerechnet Baselitz als Kronzeuge für die Vitalität des Expressionismus! Eine amtlichere Sterbeurkunde könnte man Kirchner und Co. wohl kaum ausstellen.

Von Matisse zum Blauen Reiter. Expressionismus in Deutschland und Frankreich. Kunsthaus Zürich. Bis 11. Mai 2014. Anschliessend im Los Angeles County Museum of Art und im Musée des Beaux-Arts de Montréal. Katalog (München, Prestelverlag), 304 S., Fr. 58.-.

Kandinsky, Entwurf zu Komposition I

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