Samstag, 28. November 2015

An welcher Philosophie die Kunst verdirbt.

Pollock, N° 1

28. An welcher Art von Philosophie die Kunst verdirbt. — Wenn es den Nebeln einer metaphysisch-mystischen Philosophie gelingt, alle ästhetischen Phänomene undurchsichtbar zu machen, so folgt dann, dass sie auch unter einander unabschätzbar sind, weil jedes Einzelne unerklärlich wird. Dürfen sie aber nicht einmal mehr mit einander zum Zwecke der Abschätzung verglichen werden, so entsteht zuletzt eine vollständige Unkritik, ein blindes Gewährenlassen; daraus aber wiederum eine stätige Abnah-me des Genusses an der Kunst (welcher nur durch ein höchst verschärftes Schmecken und Unterscheiden sich von der rohen Stillung eines Bedürfnisses unterscheidet). 

Je mehr aber der Genuss abnimmt, um so mehr wandelt sich das Kunst-Verlangen zum gemeinen Hunger um und zurück, dem nun der Künstler durch immer gröbere Kost abzuhelfen sucht.
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Friedrich Nietzsche, Menschliches, Allzumenschliches, 2. Buch, N° 28



Nota. - Man möchte meinen, Nietzsche habe den Weg der Kunst im zwanzigsten bis ins einundzwanzigste Jahrhundert vor-hergesehen. Aber an der Philosophie, mindestens an einer metaphysisch-mystischen, kann es nicht liegen: Die gibt's nicht mehr. Und das große Publikum, selbst jenes, das Dutzende von Millionen für die modernen Werke ausgibt, fragt ja gar nicht nach Philosophie. 

Wohl aber die Großkritiker, die inmitten der Heerschar der Feuilletonisten den Ton angeben. Bei denen herrscht, erst recht, wenn sie Amerikaner sind, eine wortklauberisch positivistische Philosophie vor, die auf Einsichten, gar Erkenntnis gar keinen Anspruch mehr macht. Denen ist alles durchsichtig genug, und so wirken auch sie daran, das Reich des Ästhetischen zu ver-dunkeln und zu mystifizieren. Das ist gut für die Kritiker, zumal wenn sie am Geschäft beteiligt sind.
JE





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