Mittwoch, 31. Mai 2017

Wann ist ein Kunstwerk fertig?



Géricault, Entwurf zu Das Floß der Medusa
  
Vor einigen Tagen habe ich Ihnen ein Wandgemälde gezeigt, das Gustav Klimt für die medizinische Fakultät der Wiener Universität gemalt hat, und dazu die Kompositionsstudie dafür: Welches von beiden darf als der echtere Ausdruck von Klimts künstlerischer Absicht gelten - die mit großzügigem Schwung ausgeführte erste Ahnung oder die akribische Ausarbeitung in seiner erfolgreichen, ebenso repräsentativen wie dekorativen Jugenstilmanier?

In diesem Fall fiel die Entscheidung für den frischen freien Entwurf leicht. Obwohl man zweifeln darf, ob Klimt, wenn er statt für ein vornehmes Publikum nur für sich und seine Künstlerfreunde gemalt hätte, ein solches Sujet überhaupt gewählt haben würde...

Mit Géricaults Floß der Medusa steht es aber anders. Der erste Entwurf ist schon auf den ersten Blick schwächer als die emblematisch gewordene Ausarbeitung. Er hatte von Anfang an die klassizistisch-realistische Faktur im Auge, es gab nur beim ersten Entwurf keinen Grund für eine sorgfältige Pinselführung und all die kompositorischen Feinheiten des ausgeführten Werks: Es sollte ja Material sein zur weiteren Ausarbeitung. Das liegt nicht zuletzt am expressieven Sujet: Da durfte und musste man immer noch steigern.


 Géricault, Das Floß der Medusa

Es ist klar, dass das für den präsumtiven Käufer fertiggestellte Bild nicht in jedem Fall das 'vollständigere' Kunstwerk ist, als jedes frühere Stadium. Genauso klar konnte sein, dass nicht generell die Skizze oder der abgebrochene Versuch den höheren ästhetischen Wert beanspruchen kann als das vollendete Werk, das der Künstler selbst zu Markt getragen hat; eine Frage, die sich überhaupt erst stellt, seit die 'unfertigen' Stücke der Avantgardisten des neunzehnten Jahrhunderts beim Publikum die Bereitschaft geweckt haben, auch die unfertigen Hinterlassenschaften der älteren Meister als "richtige Kunst" zu bezahlen und anzuschauen.

Kandinsky, Komposition VII, 1913, sowie1. Entwurf dazu

Hier bei Kandinskis Komposition VII wirkt die sorgfältige Endfassung gegenüber dem unbefangenen ersten Einfall überladen, gezwungen und pedantisch; was doch gerade nicht in der anarchischen künstlerischen Absicht lag. Man möchte sagen, dass die erste Skizze formal und material so unvollendet wirkt, macht sie in ästhetischer Hinsicht 'fertiger'.  

Das ist ein Thema, das sich wohl durch die ganze Kunstgeschichte verfolgen lässt; ich werde noch einige Besipiele raussuchen. Der Verständnisgewinn, den der Vergleich von fertigen und unfertigen Bildern bringt, ist aber wohl immer nur ein individuel- ler, und wird zu begriffliche Verallgemeinerungen kaum Anlass bieten.

Bis auf diese: Ästhetische Fragestellungen und künstlerische Fragestellungen sind nicht dasselbe - es sei denn im Einzelfall.



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