Montag, 6. August 2018

Empirische Ästhetik.

Isaac Levitan, Birkenhain 
aus derStandard.at, 6. August 2018, 08:30

Was wir schön finden: 
Bei der Natur sind wir uns einig, nicht aber in der Kunst
Eine aktuelle Untersuchung zeigt: Menschen urteilen über natürliche Objekte einheitlicher als über kulturelle Werk

Frankfurt am Main – Über Geschmack lässt sich bekanntlich nicht streiten. Aus wissenschaftlicher Sicht trifft diese gängige Aussage zumindest teilweise zu, wie neue Forschungen zeigen. In einer Reihe von Experimenten wurden Studienteilnehmer gebeten, sich Bilder verschiedener ästhetischer Bereiche anzusehen. Diese reichten von menschlichen Gesichtern über Naturlandschaften bis zu Architektur und Kunstwerken.

Die Probanden sollten bewerten, wie ästhetisch ansprechend sie die Bilder fanden. In einer zweiten Aufgabe mussten sie sich mehr anstrengen, um durch schnelles Drücken von Tasten ihre Lieblingsbilder länger auf dem Bildschirm angezeigt zu halten. Während die erste Aufgabe darauf abzielte, die "Vorliebe" der Teilnehmer für das, was sie sahen, zu beurteilen, maß die zweite Aufgabe den Grad des "Begehrens". Anhand der beiden Aufgaben haben die Forscher dann den Grad des "gemeinsamen Geschmacks" für jeden Bereich, aus dem die Bilder entstammten, gemessen – also das Maß, in dem sich die Menschen darüber einig waren, was sie sehen wollten.

Unterschiedliche Kunstgeschmäcker

Beide Aufgaben zeigten, dass es die größten Übereinstimmungen im gemeinsamen Geschmack bei Gesichtern gibt, gefolgt von Naturlandschaften. Wenn es um Gesichter und Landschaften geht, tendieren unterschiedliche Menschen offensichtlich dazu, das Gleiche zu mögen. Anders sieht die Sache bei Architektur oder Kunstwerken aus. Hier gab es kaum Überschneidungen im Geschmack. Was das Lieblingskunstwerk einer Person war, war für eine andere durchaus das unbeliebteste.

Die nun in der Fachzeitschrift "Cognition" veröffentlichten Studienergebnisse weisen auf einen grundlegenden Unter- schied zwischen natürlich vorkommenden ästhetischen Bereichen und Artefakten der menschlichen Kultur hin. "Ver- schiedene Menschen neigen dazu, auf natürlich vorkommende ästhetische Kategorien auf ähnliche Weise zu reagieren", sagt Edward Vessel, Neurowissenschafter am Max-Planck-Institut für empirische Ästhetik und Hauptautor der Studie, "aber sie reagieren sehr individuell auf Artefakte, also auf von Menschen geschaffene Werke."

Relevanz im Alltag

Obwohl nicht klar ist, was genau den Unterschied zwischen natürlich vorkommenden ästhetischen Bereichen und kultu- rellen Artefakten ausmacht, argumentieren die Autoren der Studie, dass dieser Unterschied etwas mit der Relevanz der verschiedenen Bereiche für das menschliche Alltagsverhalten zu tun haben könnte. "Ästhetische Urteile über Gesichter und Landschaften haben vielleicht eher konkrete Konsequenzen für unsere täglichen Entscheidungen als Urteile über Kunstwerke oder Architektur", vermutet Vessel.

Dies führe vermutlich dazu, dass verschiedene Menschen bei Gesichtern und Landschaften ähnliche Merkmale schätzen. Aus früheren Studien ist bekannt, dass Menschen – unabhängig von Ethnie und kulturellem Hintergrund – Gesichter bevorzugen, die symmetrisch sind und besonders männlich beziehungsweise weiblich ausgeprägt sind. Bei Landschaften wiederum werden allgemein offene Ausblicke, das Vorhandensein von Wasser und Anzeichen für menschliche Nutzung positiv bewertet.

Dass dagegen die Alltagsrelevanz von Kunst und Architektur nicht immer sofort erkennbar ist, könnte dazu führen, dass hier die meisten Menschen nicht zu einem übereinstimmenden Urteil gelangen. In weiteren Studien am Max-Planck-Institut für empirische Ästhetik in Frankfurt will Vessel der Frage nachgehen, ob und inwiefern das menschliche Gehirn auf unterschiedliche Weise auf diese verschiedenen ästhetischen Bereiche reagiert. (red,)



Abstract
Cognition: "Stronger shared taste for natural aesthetic domains than for artifacts of human culture."




Nota. - Das Kreuz ist, dass, wo 'empirische' Ästhetik gesagt wird, evolutionäre* Ästhetitk gemeint ist. Und dies nach der durchaus irrigen Maßgabe, dass 'das Ästhetische' als dem unteren Erkenntnisvermögen angehörend eine unserer primiti- veren geistigen Verrichtungen sei. Denn nur so ist verständlich, dass manche ästhetischen Leistungen als mehr und andere als weniger der Auslese der am besten Geeigneten unterworfen aufgefasst werden! Gewissermaßen 'noch mehr der Natur angehörig' als der Kultur. Maßstab ist handgreiflicher Nutzen auf der ersten semantischen Ebene. 

Wohl kommt es dem Individuum, sobald es darauf reflektiert, so vor, als sei das Urteil gefällt! oder gefällt nicht vor aller sachlichen Erwägung gefallen. Wir wissen aber, dass die zivilisierte Menschheit seit gut zehntausend Jahren in der selbst- geschaffenen Kulturnische der Arbeitsgesellschaft zugebracht hat. Die Frage Wozu taugt es? ist ihr längst habituell ge- worden. Um die Frage, ob es gefällt, im Bewusstsein als primär zu empfingen, muss das Individuum bereits von der vor-bewusst vor-gängigen Frage, wozu es taugt, abgesehen haben. 

Ästhetische Urteile arglos auf der ersten semantischen Ebene anzusiedeln, ist unter dieser mehrfachen Bedingtheit nicht angemessen. Das Sinnliche kam evolutionär zweifellos vor dem Kognitiven. Doch heute ist unser Gehirn ein Ganzes und eine seiner Leistungen ist so 'rezent' wie jede andere. Was immer sinnlich wahrgenommen wird, ist bereits mehrfach re- flektiert und gehört selber sozusagen schon einer zweiten semantischen Ebene an.* 'Dies und jenes ist' empfinden nur noch Kinder, deren Akkulturation eben erst begonnen hat. 'Dies und jenes ist so' empfinden wir alle, wir nehmen alles wahr, als sei es schon, wenn auch unvollständig, so oder so bestimmt, und von der Bestimmtheit zu abstrahieren ist ein sekundärer Akt.

Nun kommen wir zwar zu demselben sachlichen Ergebnis, aber es bedeutet ganz etwas anderes. An dem nackten Gesicht mir gegenüber und an einer Naturlandschaft vor mir muss ich nicht von viel Bedingtheit abstrahieren, sie tritt mir nicht in den Weg und sticht mich nicht ins Auge. Meine Abstraktionsleistung ist eine kleine. Je mehr sich der Anblick unserer überkomplexen Alltagwirklichkeit annähert, umso aufwendiger wird das Absehen. Um so schwieriger wird es, über die Bestimmungen, die andere an den sichtbaren Objekten längst vorgenommen, hinweg zu sehen und das heraus zu suchen, was ich so ansehen kann, als ob es (noch) aller Bestimmtheit ledig sei.** Soll ich mich selber aller Absicht enthalten, muss ich mir erst die Absichten der andern aus dem Blick schaffen.

In der bildenden Kunst kippt die Sache nun wieder um. Ein Bild, eine Skulptur hat einen Gegenstand. Das ist eine erste Reflexion, von der nicht abstrahierbar ist. Habe ich nun diesen Gegenstand zu bestimmen oder kann ich mir das versa- gen? Je 'gegenständlicher' das Bild, umso mühseliger.... usw. Bis Anfang des 19. Jahrhunderts erzählten alle Bilder - sofern sie nicht bloße Landschaft als Gegenstand hatten - eine Geschichte. Erst als sich die Malerei dank der Landschaft vom Geschichtenerzählen und schließlich von den Gegenständen selbst gelöst hatte, können die Bilder rein ästhetisch aufgefasst werden. Und seither gehen die Dispute der Kenner gar nicht mehr um Geschmackssachen, sondern darum, ob dieses oder jenes abzubilden "überhaupt noch Kunst ist". 

Denn merke: Über Geschmack lässt sich vortrefflich streiten. Das haben die alten Römer auch gar nicht bestritten. Sie haben nur gesagt, über Geschmack ließe sich nicht disputieren - nämlich mit Argumenten streiten. Und in der Tat: Beim Argumentieren geht es ums Bestimmen; und das kommt bei Geschmacksfragen immer zu spät.
JE


*) Der evolutionistischen Betrachtung der Ästhetik steht prima facie im Weg, dass Weniges im Menschen so veränderlich und so leicht zu kultivieren ist wie eben - sein Geschmack.

**) In Fichtes Wissenschaftslehre wird zwischen 'Gefühl' und 'Anschauung' streng unterschieden: das Anschauen eines Dings als Dieses ist eine erste Reflxionsbestimmung. 

***) Das gelingt überraschend gut bei den Bildern der amerikanischen Hyperrealisten. Die sehen so hyperbestimmt aus, dass man schon gar nicht mehr wissen will, als was es bestimmt werden soll; und das ist Unbestimmtheit von hinten. 

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