Montag, 27. Mai 2019

Ästhetik und vergleichende Ethnologie.

aus derStandard.at, 19. Mai 2019

Warum Schönheit überall anders klingt
Welche Musik wir lieben, hängt von vielen kulturellen Faktoren ab. Eine zeitgemäße Musikästhetik muss deshalb alle Kulturen der Welt einschließen

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Dem durchschnittlichen abendländisch geschulten Ohr bereitet ihre Musik selten einen echten Hörgenuss. In der arabischen Welt dagegen wird die 1975 verstorbene ägyptische Sängerin Umm Kulthum bis heute vergöttert, ihre Lieder werden nach wie vor quer durch alle sozialen Schichten und Altersgruppen mit großer Begeisterung gehört.

Musikalische Schönheit lässt sich, wie dieses Beispiel zeigt, auf keine international gültige Formel bringen. Jede Kultur huldigt ihrem eigenen Schönheitsideal, sodass "das Schöne" in tausend unterschiedlichen Gestalten auftritt und Umberto Eco vom "Polytheismus der Schönheit" schreibt. Für Bewohner einer globalisierten Welt ist das keine besonders aufre- gende Erkenntnis, aber die Musikästhetik als akademische Disziplin leidet bis heute an den Folgen einer jahrhunderte- langen Blickfeldverengung namens Eurozentrismus.

Obwohl ihre Vertreter inzwischen keine über alle geografischen Räume und Zeiten hinweg gültigen Kriterien mehr aufstellen, wie gute Musik beschaffen sein muss, hat sie ihre Beispiele doch mehr als 200 Jahre lang fast ausschließlich aus dem Pool der europäischen Kunst bezogen.

Um nicht nur westliche Kulturen in den musikästhetischen Diskurs einzubeziehen, haben sich an der Kunstuniversität Graz (KUG) ein Ethnomusikologe und ein Musikästhetiker zusammengetan und ein Symposium zur "Ethnoästhetik von Musik" organisiert. Dabei kamen auch Experten für indische, südamerikanische, afrikanische und arabische Musik zu Wort.

"Grundsätzlich geht es in der modernen Musikästhetik vor allem um Wertungsforschung", so Gerd Grupe, Mitorganisator und Leiter des Instituts für Ethnomusikologie an der Kunstuniversität.

Maßstäbe für die Bewertung

"Man untersucht die Maßstäbe, nach denen verschiedene Gruppen unterschiedliche Musiken bewerten." Es gilt also jene Kriterien herauszufinden, die Menschen an unterschiedlichsten Orten und zu verschiedenen Zeiten an die von ihnen gehörte oder gespielte Musik anlegen.

"Natürlich gibt es in jeder Kultur Bewertungsmaßstäbe", erklärt der Musikethnologe. "Allerdings sind es meist andere Kriterien als die in Europa gebräuchlichen." Eines davon ist etwa die Gestaltung der Melodie oder des Stimmklangs, um damit eine bestimmte Emotion auszudrücken und natürlich auch beim Hörer hervorzurufen.

Neben der gezielten Emotionalisierung der Zuhörer können in verschiedenen Kulturen mit Musik auch völlig andere Ziele verfolgt werden – etwa die Beschwörung eines Ahnengeistes. "Auch in Europa wird ein Konzert ja nicht nur nach rein ästhetischen Kriterien beurteilt", wirft Andreas Dorschel, Co-Organisator und Leiter des Grazer Instituts für Musik- ästhetik, ein. "Hier hat die Musik beispielsweise auch die Funktion der Selbstvergewisserung für das Bildungsbürger- tum." Grundsätzlich seien in jeder Kultur ästhetische und soziale Faktoren eng verschränkt.

Um die kulturellen und sozialen Grundlagen zu erkennen, auf denen sich die Bewertung von Musik abspielt, wenden die Grazer Wissenschafter neben musik- auch sozial- und kulturwissenschaftliche Methoden an. So sollen etwa Interviews mit Zuhörern und Musikern Auskunft darüber geben, wann diese eine Aufführung als besonders schön und gelungen erleben.

Gleichzeitig muss auch die musikalische Praxis selbst und die Entwicklung von Instrumenten beachtet werden. So habe sich etwa ab dem 19. Jahrhundert ein neues Klangideal entwickelt, weil die traditionellen Darmsaiten allmählich durch Metallsaiten ersetzt wurden. "Man begann, lautere und klarere Töne zu schätzen, die mit Darmsaiten nicht hervorzu- bringen waren", sagt Andreas Dorschel im Interview mit dem STANDARD. 

Unterschiedliche Expertisen

Eine fundierte Musikästhetik kann also nur durch die Verbindung unterschiedlichster Expertisen funktionieren. "Man braucht neben Musikästhetikern auch Experten für die vielen verschiedenen Musiktraditionen auf allen Kontinenten, die sich voneinander ja meist stark unterscheiden", so der Philosoph. Deshalb sei es auch sinnvoll, künftig besser von einer "vergleichenden Ästhetik" zu sprechen.

Wie vielschichtig eine solche Musikästhetik ist, zeigt sich allein schon an den sehr unterschiedlichen Konzepten von Schönheit in verschiedenen Kulturen und Zeiträumen. Einen von vielen Zugängen zu diesen Konzepten öffnet bereits die Etymologie des Wortes "schön", das sich im Deutschen von "schauen" ableitet und ursprünglich "ansehnlich" bedeutet hat.

"Im antiken Griechenland", berichtet Dorschel, "hat der Begriff 'schön' ('kalon') neben 'physisch oder moralisch attraktiv' auch die Bedeutung 'angemessen' gehabt." "Schöne" Musik war also auch für einen speziellen Zweck besonders gut geeignete Musik. Mit dieser Bedeutung kann Schönheit auch etwas Erschreckendes oder Hässliches haben, wenn sie damit ihre Aufgabe erfüllt – etwa beim Publikum einen heilsamen Erkenntnisschauder auszulösen.

Atmosphäre vermitteln

Auch in der klassischen nordindischen Musik gehe es vor allem um das Auslösen bestimmter Gefühle und Vorstellungen bei unterschiedlichen Zuhörern. "Oft soll über die Melodie etwa die Atmosphäre einer bestimmten Tageszeit vermittelt werden", berichtet Gerd Grupe. Und ergänzt: "Bei westlichen Hörern muss dieses musikalische Ziel natürlich verfehlt werden, da sie die entsprechenden Assoziationen nie gelernt haben." Aber auch nicht jeder Inder sei in der Lage, diese Art der klassischen Musik zu verstehen, die einen sehr hohen Bildungsstand voraussetzt.

"In meinem Fach wird der Begriff Ästhetik wegen seiner eurozentristischen Tradition bewusst vermieden", sagt der Musikethnologe abschließend. "Letztlich geht es aber genau darum, ihn sich anzueignen und für die Vielfalt musika- lischer Kulturen auf der Welt zu öffnen."


Nota. - Das Rätsel, das es zu lösen gilt, ist nicht, dass viele denselben Geschmack haben, sondern dass nicht alle den- selben Geschmack haben; dass es ein eigenes Geschmacksurteil überhaupt gibt! Dass viele keinen Gebrauch davon machen, ist nicht rätselhafter als dass sich viele um ein eigenes moralische Urteil drücken; Konvention ist also nicht das, was es zu verstehen gilt, sondern immer das, was über eine gegebene Konvention hinweggeht. Vergleichende Ethno- graphie ist ein Zweig der empirischen Sozialwissenschaften. Ästhetik ist das nicht. Doch wenn ich ihn recht verstehe, wollte das der Musikethnologe gerade andeuten.
JE

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