Mittwoch, 2. Juli 2014

80 Jahre Apollo-Theater.

Künstler während einer «Amateur Night» im legendären Apollo Theater in Harlem. Dieser Anlass bildete ein Karriere-Sprungbrett für zahlreiche bedeutende Musiker und Tänzer.
aus nzz.ch, 1. Juli 2014, 05:30

Das «Apollo Theater» in Harlem 
Sprungbrett für Weltkarrieren 
 
George Szpiro, New York

Das heute unter Denkmalschutz stehende «Apollo Theater» in Harlem stellte für viele schwarze Musiker das Sprungbrett dar, das ihnen zu Ruhm verhalf. Bei den legendären «Amateur Nights» entscheidet das Publikum über Erfolg und Misserfolg 
 
In der Vorhalle des legendären «Apollo Theater», unter den Murano-Lüstern, drängt sich die Menge im Saal bringt ein DJ das Publikum in Stimmung. Um halb acht beginnt die «Amateur Night». Ein redegewandter afroamerikanischer Humorist mit dem Künstlernamen «Comedian Capone» fungiert als Moderator der Show. Seine Darbietung hat nichts gemein mit dem von Fernseh-Sitcoms gewohnten lahmen amerikanischen Humor. Spritzig, einfallsreich ruft er in die Menge, diese antwortet, er repliziert. Der Abend beginnt mit Darbietungen dreier Jugendlicher. Anfänglich hält sich das Publikum zurück. Bloss eine Dame in den vorderen Reihen, offenbar die Mutter der blutjungen Rapperinnen auf der Bühne, kann sich nicht halten. «That's mah baby», ruft sie entzückt in die Menge.



Dann treten die Älteren auf, und nun ist alles erlaubt, frenetischer Applaus, Zwischenrufe, Pfiffe, Beinestampfen. Währenddessen versuchen die tapferen Sänger und Tänzer, mitunter den Tränen nahe, möglichst unbeirrt ihre Nummern zu Ende zu bringen. Am Ende des Abends wird durch ein Gerät bestimmt, welche Darbietung den lautesten Applaus erhielt. Wer gewinnt, ist nebensächlich; Mitmachen ist alles.

«Nigger Heaven»

Das mitten in Central Harlem gelegene, unter Denkmalschutz stehende «Apollo Theater» feiert dieses Jahr den 80. Jahrestag seiner Eröffnung. Die Schaubühne ist bekannt dafür, dass einige der heute bekanntesten Namen im Showbusiness hier ihre Karriere begannen. Allerdings existierte das Theater schon vor 1934. Unter dem Namen «Hurtig & Seamon's New Burlesque Theater» war das 1904 im neoklassizistischen Stil erbaute Gebäude ein Variété-Theater, das ausschliesslich auf die weisse Bevölkerung ausgerichtet war. Schwarzen war der Zutritt nur durch einen Hintereingang zu einem abschätzig «Nigger Heaven» genannten Balkon gestattet. Mit dem Wegzug der weissen Bevölkerung ging das Theater jedoch seines Publikums verlustig, und in den späten zwanziger Jahren musste es seine Tore schliessen.



Ende der Segregation

Einige Jahre später wurde das baufällige Gebäude vom Unternehmer Sidney Cohen gekauft, renoviert und im Januar 1934 als «Apollo Theater» neu eröffnet. Der neue Manager und spätere Besitzer Frank Schiffman, Sohn österreichischer Immigranten, war sowohl bekannt für seinen Geschäftssinn als auch als Aktivist für die Integration aller Rassen. Er richtete das Programm auf ein afroamerikanisches Publikum aus, das unterdessen die überwiegende Mehrheit in der Gegend darstellte.



Schwarze Musiker und Sänger waren zu der Zeit in Amerika, insbesondere auch in New York, geächtet. Das «Apollo Theater» sowie das unweit gelegene, ebenfalls von Schiffman geleitete und seit 1990 geschlossene «Lafayette Theater» gaben ihnen erstmals Gelegenheit zu Auftritten in der Grossstadt. Der kommerzielle Erfolg blieb nicht aus und dauerte jahrzehntelang. In den vierziger Jahren setzte sich das Publikum etwa je zur Hälfte aus Weissen und Schwarzen zusammen. Schiffman buchte die Darsteller, seine Produzenten stellten die Show zusammen. Die wöchentlich wechselnden Darbietungen – täglich vier unter der Woche, fünf an Wochenenden – bestanden aus je einem halben Dutzend Schaunummern.


 
Für zwischen zehn und fünfzig Cent konnte das Publikum Filme, Musikkapellen, Stepptänzer, Komödianten und Akrobaten miterleben. Oft wurden die Darbietungen über Radiostationen an ein grösseres Publikum in New York City übertragen. Nach Feierabend machten Musiker und Schauspieler in nahe gelegenen Lokalen oft bis vier Uhr morgens weiter, um am nächsten Tag ab zehn Uhr morgens wieder auf der Bühne zu stehen. 1962 kam es zu einer unschönen Episode, als Schiffman unweit des Theaters ein Restaurant eröffnen wollte, das afroamerikanischen Etablissements Konkurrenz gemacht hätte. Tagelang demonstrierten schwarze Manifestanten mit antisemitischen Plakaten und Parolen. Erst als Persönlichkeiten wie Martin Luther King einsprangen, konnten die Protestierenden zur Besinnung gebracht werden.


The Temptations, 1964
 
In den siebziger Jahren begann ein Niedergang für das «Apollo», an dem ironischerweise der Erfolg der Bürgerrechtsbewegung Schuld trug. Unter der Führung Martin Luther Kings hatte die afroamerikanische Bevölkerung ein grosses Mass an Gleichberechtigung erzielt. Jazz, Blues, Swing, Soul, Gospel Musik wurden überall gespielt und geschätzt, und das «Apollo» verlor seinen besonderen Status als Refugium für die ehemals diskriminierten Musiker. Als zudem Drogenprobleme und Kriminalität in Harlem überhandnahmen und die Gegend in Verfall geriet, musste das Theater im Jahr 1977 seine Tore schliessen. Dies wiederum zog den Zusammenbruch von Restaurants und anderen Unternehmen in der 125. Strasse, dem vormaligen Geschäftszentrum und Vergnügungsviertel, nach sich.


 
Erst sieben Jahre später nahm das «Apollo» den Betrieb wieder auf, und 1991 erwarb der Staat New York das fortan als kulturelles Denkmal bezeichnete Gebäude. Gleichzeitig wurde eine Stiftung gegründet, um das Weiterbestehen als nicht gewinnorientiertes Unternehmen sicherzustellen. Heutzutage zählt das Theater ungefähr 1,3 Millionen Besucher im Jahr.

«Amateur Nights»

Eine bei der erstmaligen Eröffnung des «Apollo Theater» eingeführte und bis heute fortdauernde Attraktion ist die legendäre, mittwochabends veranstaltete «Amateur Night», Sprungbrett für Dutzende von Karrieren. Unbekannte, talentierte Sänger, Musiker und Tänzer – früher Schwarze aus Harlem, heute Vertreter aller Hautfarben aus der ganzen Welt – stellen sich dem Publikum. 1200 Kandidaten bewerben sich jährlich, etwa ein Viertel schaffen es bis auf die Bühne, sieben bis acht pro Abend.


 
Marion Caffey, Impresario der «Amateur Nights», schätzt dabei nicht nur das musische Talent, sondern auch Bühnenpräsenz und Charisma hoch ein. Nach der Darbietung kürt das Publikum den Star des Abends durch den lautesten Beifall. Ella Fitzgerald, Billie Holiday, James Brown, Jimi Hendrix, Stevie Wonder, Dionne Warwick, Wilson Pickett, Aretha Franklin und Michael Jackson* gaben ihr Debüt im «Apollo Theater». Louis Armstrong, Ray Charles, Count Basie und Elvis Presley traten hier auf, als sie noch nicht Megastars waren. Und für etablierte Grössen des Showbusiness galt und gilt ein Auftritt im «Apollo» als Ehre.

Aber nicht jeder Teilnehmer an den «Amateur Nights» kann seine Nummer bis zum Ende durchhalten. Künstler, die dem Publikum missfallen, werden mit Buhrufen und Pfiffen von der Bühne gewiesen. Überhaupt ist das Publikum im «Apollo» König. Theaterbesucher sind hier nicht passive Zuschauer, sondern aktiv Mitwirkende in einem laufenden Dialog mit dem Conférencier, der Zwischenrufer heiter zurechtweist, die Scheinwerfer auf Zuspätgekommene richten lässt und spöttische Bemerkungen möglichst schlagfertig pariert.


James Brown & The Famous Flames, 1964

*) Die Jackson5 gewannen im August 1967 dreimal hintereinander die Amateur nights, aber ihr Debüt war das nicht; sie waren seit Jahren im Showbiz. JE
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Rascher Wandel in Harlem 

Harlem, der nördlichste Teil von Manhattan, wurde Mitte des 17. Jahrhunderts von holländischen Einwanderern als Dorf gegründet und blieb während der nächsten zweihundert Jahre grösstenteils eine landwirtschaftliche Siedlung. Gegen Ende des 19. Jahrhunderts begann durch den Bau einer hochgestellten Eisenbahn, die Harlem mit dem Zentrum Manhattans verband, die Urbanisierung der Gegend. Landwirte verliessen sie, und um die Jahrhundertwende zogen ärmliche Einwanderer in das Quartier.

Anfang des 20. Jahrhunderts lebten dort vor allem Iren, Juden und Italiener. Laut der Volkszählung von 1910 belief sich die Bevölkerung in Central Harlem, das von der Fifth Avenue im Osten zum Morningside, St. Nicholas und Jackie Robinson Park im Westen reicht und von der 155. Strasse im Norden bis zum Central Park im Süden, auf etwa 182 000 Menschen. Neunzig Prozent von ihnen waren Weisse. Dann kehrten die Verhältnisse. Bauunternehmer forcierten den Wohnungsbau, aber es entstand ein Überangebot, und die Mieten brachen ein. Afroamerikaner aus anderen Teilen der Stadt und aus anderen Gliedstaaten zogen in das erschwinglicher gewordene Quartier. In den folgenden fünfzig Jahren kamen netto 140 000 Schwarze nach Central Harlem, 160 000 Weisse verliessen die Gegend.

Im Jahre 2000 betrug die Anzahl der Weissen nur noch zwei Prozent. Dann kehrte der Trend nochmals. Das Wohnungsangebot im Zentrum der Insel Manhattan war für die wachsende Bevölkerung zu knapp geworden. Gutverdienende Familien zogen weiter nach Norden, so dass in den letzten Jahren ein Prozess der Gentrifizierung eingesetzt hat. Die Bevölkerungszahl beträgt heute etwa 130 000, der Anteil der Weissen ist inzwischen wieder auf etwa zwölf Prozent hochgeschnellt.



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