Mittwoch, 25. März 2015

Ist Illusion das Wesen der Kunst?


aus nzz.ch, 24.3.2015, 05:30 Uhr

Eine Verteidigung der Künste
Die Wunder der Illusion

von Wolfgang Sofsky  

Der Sophist Gorgias notierte vor zweieinhalb Jahrtausenden zur Wahrheit der Künste: «Derjenige, der täuscht, hat mehr recht als der, der nicht täuscht, und der Getäuschte andererseits versteht mehr als der, der nicht getäuscht wird. Wer täuscht, hat nämlich mehr recht, weil er ausgeführt hat, was er versprach; der Getäuschte aber versteht mehr: Denn schön lässt sich hinreissen von der Lust der Worte, was nicht empfindungslos ist.» – Täuschungen machen sehen, und wer vom Zauber der Kunst hingerissen ist, dem öffnen sich Augen und Ohren. Er gerät in Welten, deren Konturen deutlicher erkennbar sind als diejenigen, in denen er Tag für Tag lebt.

Das Ästhetische als eigene Wertsphäre

Auch für Karl Heinz Bohrer bildet die Illusion das Wesen der Künste, doch nicht, weil sie zu Erkenntnissen verhilft, sondern, weil nur die Täuschung jenes Wundern und Erstaunen ermöglicht, die das wahre ästhetische Erlebnis auszeichnen. Bohrer, fast drei Jahrzehnte lang Herausgeber des «Merkur» und zuletzt in Stanford Gastprofessor, war stets für unzeitgemässe Betrachtungen gut. Immer schon missfiel ihm der falsche Moralismus in Politik und Gesellschaft, der krude Aktualismus des Regisseurtheaters oder die Verkümmerung der Kulturwissenschaft zu Ideologiekritik oder historistischer Kontext-Forschung, die mit dem individuellen Kunststück nichts anzufangen weiss. Wer nur die Moral einer Geschichte im Auge hat, der hat für den Klang der Wörter, den Rhythmus der Verse, die Magie der Bilder, für Farben, Formen, für ästhetische Wirkungen weder Geist noch Sensorium.

Um die Rettung des Ästhetischen als eigener Wertsphäre geht es Bohrer, jenseits von gut und böse, von wahr und falsch, von nützlich und unnütz. Auch der jüngst erschienene Band, «Ist Kunst Illusion?», der Vorträge und Aufsätze aus den letzten Jahren versammelt, errichtet Grenzmarken. Sie sollen die Künste vor den Übergriffen der Geschichte, der Psychologie und Moral retten.

Bohrers Gewährsleute sind nicht unbekannt: Novalis, Brentano, Baudelaire, Nietzsche, Bataille oder auch Heinrich von Kleist, dessen «Michael Kohlhaas» er nicht als Lehrstück über die fatalen Folgen des moralischen Rigorismus liest, sondern als Exemplum «imaginativer Intensität». Der «gottverdammte, entsetzliche» Mordbrenner stürzt im Kleistschen Text von Augenblick zu Augenblick. Er erbleicht, errötet, gerät ausser sich, bewegt sich knapp vor dem Abgrund. Doch was Bohrer als Schreibweise eines rätselhaften Ausnahmezustands identifiziert, widerspricht der moralischen Lesart nicht, sondern bestätigt sie. Unbedingt ist die Wut zur Rache. Kohlhaas ist kein Prinzipienreiter, er agiert im Sog der Vergeltung, die ihr Ende nicht in Ausgleich oder Strafe findet, sondern in Vernichtung rundum.

Schon Ovids «Metamorphosen» glaubt Bohrer als frühes Beispiel einer reinen, ausgekühlten Ästhetik lesen zu können. Ob das Ende des Jägers Aktaion, des Sängers Orpheus oder des Satyrs Marsyas – Ovidius spart selten mit grausigen Details. Doch fehle Ovid, so Bohrer, nicht nur das Pathos der attischen Tragödie, er lasse jede theologische oder moralische Bedeutung hinter sich. Diese Lesart will nicht recht überzeugen. Viele Verwandlungen fallen deshalb so blutrünstig aus, weil sie Strafen der Götter darstellen, verhängt als Vergeltung für Hochmut oder Frevel an der natürlichen Ordnung. Nicht selten tendiert die lustvolle Schilderung der Zerstörung ins absurd Groteske. Nicht distanzierte Schreckensästhetik, sondern verzerrende Demontage des alten Heldenpathos bildet den Hintersinn vieler Metamorphosen, nicht zuletzt die Entlarvung göttlicher Willkür.

Auch von Geschichte und Erinnerung sucht Bohrer das Ästhetische abzusetzen. Gewiss gilt die poetische Erinnerung nicht Tatsachen, sondern dem Erlebnis literarischer Figuren. Sie schildert keine historischen Begebenheiten und singt auch keine Elegien der Vergänglichkeit. Sie ergreift vielmehr den verlorenen Augenblick, die entschwindende Gegenwart. Zeithistorische Stoffe oder autobiografische Prosa erlangen erst dann künstlerischen Wert, wenn sie die Zeitmodi Vergangenheit und Zukunft abzublenden verstehen, zugunsten einer ewigen Gegenwart, einer Epiphanie des Augenblicks, eines Zustands jenseits der Zeitläufte. Diese Ästhetik des literarischen Präsentismus zielt nicht nur gegen dekorative Ideenprosa, gegen dokumentarische Berichte oder gegen beschauliche Novellistik. Sie würde, wäre sie konsequent, das Prinzip der Erzählung verabschieden. Jede Narration operiert mit Abfolgen, mit kausalen Bedingungen, mit einem Nacheinander in der Zeit. Früheres erlangt Bedeutung durch Späteres, absolute Gegenwart ist sinnlos. Die Abfolge der Sätze, Eindrücke, Gedanken und Phantasien ist unhintergehbar. Noch in einem diskontinuierlichen Nacheinander von Szenen, Bildern, Symbolen ist die jeweilige Gegenwart niemals Gegenwart allein. Alle Rede vom reinen Jetzt widerspricht der Struktur der Zeit und dem inneren Zeitbewusstsein der Rezeption. Dem Horizont der Zeiten entkommt auch die Sehnsucht nach dem erfüllten poetischen Augenblick nicht.

Fiktionen

Bohrers Abwehr kunstfremder Übergriffe errichtet unnötige Deutungsbarrieren. Gewiss lässt sich über ästhetische Formen, Empfindungen und Erfahrungen nur urteilen, wenn diese überhaupt ins Wahrnehmungsfeld rücken. Die Farben und Gestalten, die Klänge und Rhythmen, die überraschenden Verschiebungen des Wirklichkeitssinns, das Erstaunen beim Öffnen des Vorhangs, beim ersten Akkord, bei der ersten Zeile, beim Auftritt der tönenden Maske, die Entrückung von der Alltagswelt, das Widerfahrnis des Erhabenen, die «Offenbarung» des Schönen, die plötzliche Ergriffenheit durch schmerzvolle Konsonanz, aber auch das Glück unverhoffter Einsicht: Alle diese Modi der ästhetischen Erfahrung sind zunichte, wenn nur geschrien oder geflüstert wird, wenn allein die plumpe Aktualisierung zählt, wenn sofort nach der Bestätigung der eigenen, meist «progressiven» Vorurteile gesucht wird. Aber dies ist kein Grund, die Wahrheitsfrage der Künste in toto zu verabschieden. Gorgias hatte bekanntlich nicht für Lügen und Irreführung plädiert, sondern für Fiktionen. Fiktionen indes können in einem gewissen Sinne wahr sein, obwohl sie niemals abbilden, darstellen oder beschreiben, was gerade der Fall ist.

Karl Heinz Bohrer: Ist Kunst Illusion? Hanser, München 2015. 160 S., br., Fr. 27.90.


Nota. - Es führt in die Irre, das Ästhetische durch die Kunst zu definieren, wie es von  Hegel bis Gadamer versucht wurde. Aber es führt auch in alle möglichen Sackgassen, die Kunst durch das Ästhetische bestimmen zu wollen. Haute Cuisine ist ein Kunst, und doch essen wir nicht um des Geschmacks willen. Na ja, manchmal schon. Aber wenn es sein müsste, würden wir auch dem Geschmack zum Trotz essen.

Ohne Essen hätte unsere Spezies nicht überlebt (und keine andere), ohne Kunst womöglich doch, und wenn an der Kunst gar nichts Ästhetisches wäre, wollte sie keiner haben. Ohne das Ästhetische würde es keine Kunst geben, aber das Ästhetische würde es auch ohne Kunst geben - nur hätten wir es womöglich nicht erkennen gelernt, und für uns wäre es also nicht...

Die Frage, ob das Ästhetische durch die Rolle bestimmt ist, die es in der Lebenspraxis spielt, ist nicht die Frage, welche Stellung die Kunst in der Gesellschaft hat, und wie wichtig sie in meinem Leben ist. Das Ästhetische ist geradezu dadurch definiert, dass es keine Rolle in der Lebenspraxis spielt: als dasjenige, was übrigbleibt, wenn man alle nützlichen Dinge und alles Nützliche an den Dingen abgezogen hat (was restlos gar nicht möglich ist, denn wenn es stimmt, dass Grün meine Nerven beruhigt, während Orange sie aufregt, dann kann ich zumindest diese Farben niemals 'rein ästhetisch erleben'). Das Ästhetische ist der bestimmte Gegensatz zum Nützlichen.

Die Kunst steht dazu in einem Verhältnis der Teilhabe, méthexis: "Ein bisschen" stand die Kunst "immer auch" im Gegensatz zum Ökomischen, zur materiellen Produktion, und wenn noch dem praktischsten Utensil eine gute Form gegeben wird, dann wird sie doch als das Uneigentliche daran erkannt; siehe La Fontaines Fabel von dem geschnitzten Bogen. Das ist ein zaghaftes, tastendes, stets unsicheres Verhältnis; es ist nämlich seinerseits 'nichts als' ein Ausdruck der prekären Stellung des Künstlers gegenüber dem Arbeiter. Originär ist die Kunst dadurch entstanden, dass sich ein gesellschaftlicher Stand von Menschen ausgebildet hat, die ihren Lebensunterhalt dadurch bestritten, dass sie ästhetisch-ausgezeichnete Dinge herstellten, die sie gegen nützliche Dinge eintauschten, die die Andern herstellten - oder gegen ihre allgemeinen Stellvertreter, das Geld. Je wohlhabender die Andern werden, umso selbstsicherer werden die Künstler, und umso weniger müssen sie auf ihre profanen Bedürfnisse (etwa nach hübschen Illusionen) Rücksicht nehmen - denn umso weiter können jene über dieselben hinausschauen.

Es kommt dann so weit, dass die Künstler übermütig werden und meinen, gar nicht für die Andern zu schaffen, sondern für die Kunst selbst. Umso virulenter wird gestritten, was das Wesen der Kunst ist, und umso mehr wird sie selber mit dem Ästhetischen verwechselt. 

Mit der Sackgasse der Abstraktion, mit dem Ende der Avantgarde, mit der Beliebigkeit des Alles-schon-mal-Dagewesenen klingen solche Debatten wie Nachrufe. In der Dämmerung steigt die Eule der Minerva auf uns sieht, was Kunst einmal gewesen ist und welchen Beitrag zur Ästhetisierung der Welt sie einmal geleistet hat.
JE

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