Mittwoch, 12. August 2015

Stilepochen gibt es nur in Europa.



Im Kommentar zu meinem gestrigen Eintrag habe ich darauf hingewiesen, dass es eine Abfolge von Stilepochen - und folglich den Eindruck von einem Fortschritt in der Kunst - anscheinend nur im Abendland gegeben hat.

Das wäre in ästhetischer Hinsicht schon bemerkenswert genug. Ich füge aber noch hinzu: Dass das so ist, hat selbst keinen ästhetischen Grund. Der historische Grund ist vielmehr die Ausbildung einer Öffentlichkeit, und das ist gleichbedeutend mit dem Aufstieg der bürgerlichen Gesellschaft.


Dass der Geschmack der Individuen schwankt, ist offenkundig. Dass der Geschmack Erfahrungen sammelt, nicht minder. Danach schwankt er viel weniger. Wenn das Leben des Menschen nicht siebenzig, sondern hundertvierzig Jahre währete, wären seine Erfahrungen reicher und sein Urteil sicherer; vielleicht wäre sein Horizont weiter, vielleicht aber wären seine Kriterien enger. Mit andern Worten, sein Urteil wäre qualifizierter.

Und doch müsste er es am Ende seines Lebens mit sich ins Grab nehmen.


Eine Qualifizierung über die Generationen hinweg ist nur möglich, wenn die Akkumulation gleichzeitig in einer so großen Zahl von Individuen stattfindet, dass ein paar Ausfälle keine Lücken reißen. Es muss also mindestens im Kreis der herr- schenden Klassen genügend Verkehr stattfinden und die Zugehörigkeit zu den Herrschenden muss so sehr der Legitimation bedürfen, dass keiner sich leisten kann, an der Geschmacksbildung nicht teilzunehmen; sich nicht leisten kann , weil er nicht nur herrschen, sondern seine Herrschaft (gegen die der Andern) auch repräsentieren muss. 

Die Konkurrenz von Kirche, Aristokratie und städtischem Bürgertum im feudalen Westeuropa war der ideale Boden für die Ausbildung eines streitbaren herrschenden Geschmacks. Zu seinem Klimax wurde die Absolute Monarchie, aber mit der Revolution mischte sich auch der ungebildete Pöbel in die öffentlichen Angelegenheiten, an den Grenzen der guten Gesellschaft began- nen die Avantgarden zu florieren, in die geschlossenen Öffentlichkeiten der Vornehmen brach die wüste Öffentlichkeit des Marktes ein...


Ein kollektives Subjekt hatte sich gebildet, das seine Launen, Sentimentalitäten und Exzentrizitäten hat wie jedermann, das aber ewig lebt und nichts vergisst; höchstens mal für eine Weile was verbummelt und sich freut, wenn es was wiederfindet. Und das sich alle Weil wichtigtut.

Nur im Abendland konnte es so kommen, und fast möchte man sagen: musste das so kommen.


Nachtrag, 15. 8.:


Das ist doch merkwürdig, dass selbst dieser Eintrag unkommentiert bleibt.

Ich weiß, dass ich den Gedanken, dass Stilepochen eine abendländische Besonderheit sind, nirgendwo anders gehört oder gelesen habe. Das will nicht viel sagen, denn meine Kenntnisse in Kunstgeschichte sind nicht enorm. Ich kann mir eigentlich auch nicht  vorstellen, dass vor mir das niemandem aufgefallen sein soll. 

Und mein Blog wird ja auch in der Ferienzeit gut besucht. Da muss doch jemand darunter sein, dem zu der Sache was einfällt!
JE



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