Dienstag, 7. April 2015

Die Überschätzung der zeitgenössischen Kunst.

 
 aus Der Standard, Wien, 7. 12. 2013                                                                                                         Hermann Nitsch, Brot und Wein, 1962                                   
Wolfgang Ullrich:  
"Als Statussymbol unschlagbar"
Der deutsche Kulturwissenschafter im Interview über den Nimbus zeitgenössischer Kunst, die Macht der Sammler und den Künstler als Dienstleister

STANDARD: Kunst gilt als Wertanlage mit zum Teil erstaunlichen Renditen. Doch man braucht verdammt viel Geld. In Ihrem Vortrag "Adolf Hitler als Anlageberater" führen Sie aus, dass man in der NS-Zeit der Kunst ihren elitären Status nehmen wollte. Was war das Ziel? 

Wolfgang Ullrich: Man versuchte, der Kunst einen völkischen Status zu geben. Es wurde also dafür gesorgt, dass der Kunstmarkt hinsichtlich der Preise nicht eskalierte. Auch wenn man die Gesinnung klarerweise nicht teilt: Es war zumindest ein Versuch, die bildende Kunst vor dem tragischen Schicksal zu bewahren, das ihr heute widerfährt. Denn sie ist, egal wie kritisch oder unelitär sie der Intention nach sein mag, letztlich immer die Sache einer Elite. Einer Elite, die Geld hat und gesellschaftlich arriviert ist. Sie dient als Accessoire für diejenigen, die auf der Erfolgsseite des Lebens stehen. Eben weil es sich oft um Unikate handelt - und damit um etwas, was tendenziell knapp ist. 



STANDARD: Ist Kunst tatsächlich nur ein Accessoire?

Ullrich: Bildende Kunst ist aufgrund ihrer materiellen Basis fast dazu gezwungen, den Status quo zu schmücken, zu bestätigen, zu legitimieren, zu überhöhen. Sie wird, auch wenn sie kritisch ist, kassiert oder ausgebremst und kann daher viel weniger gesellschaftlich verändernd wirken als zum Beispiel Literatur. Zudem sind Bilder im Unterschied zu Texten viel offener für Deutungen. Sie erscheinen in verschiedenen Kontexten unterschiedlich. Mitunter fällt etwas, das kritisch gemeint sein mag, in einem bestimmten Kontext nicht mehr so auf. Daher ist bildende Kunst überhaupt nicht geeignet, Widerstand zu leisten. Trotzdem tut sie sich schwer, in der Breite aufzutauchen. Eben weil sie dazu neigt, elitär zu werden.

STANDARD: Gab es nicht wiederholt Versuche, dies zu unterbinden?

Ullrich: Doch. Ich denke nur an die Multiples in den 1960er-Jahren. Die Art Cologne wurde einst von linken Galeristen etabliert mit dem Ziel, die Kunst aus dem Ghetto der Elite herauszuholen. Im Endeffekt hat es aber dazu geführt, dass wenig später die Art Basel gegründet wurde - und mit ihr ist dieses System der Messen entstanden, das wir heute haben. Es forciert die Elitarisierung der bildenden Kunst wie nichts zuvor. Mit der ursprünglichen Idee sind die Galeristen kläglich gescheitert. Ich kenne keinen auf Dauer erfolgreichen Versuch, der Kunst das Elitäre zu nehmen. Im Bereich der bildenden Kunst fehlt, im Gegensatz zur Literatur- und Musikszene, eine Art guter Mittelbereich. Nicht einmal die Kunstvereine erfüllen ihre eigentliche Aufgabe. Sie entstanden aus der Mitte der Bürgerschaft - und waren für die Bürger gedacht. Sie sollten eben nicht elitär sein. Aber die meisten Kunstvereine sind elitär - in ganz anderer Weise allerdings als der Kunstmarkt: Die Kunst, die sie präsentieren, muss aus dem hintersten Albanien kommen, und nur fünf Leute können halbwegs kapieren, was der Künstler mit seiner Arbeit will.



STANDARD: Zudem bedient man sich eines Fachvokabulars, das die meisten vom Diskurs ausschließt.

Ullrich: Es gibt die monetäre Elitarisierung. Sie findet auf der Art Basel statt. Und es gibt die intellektuelle Elitarisierung. Sie findet in Kunstvereinen und manchen Kunstzeitschriften statt. In beiden Fällen führt es dazu, dass bildende Kunst keinen breiten Resonanzraum in der Gesellschaft hat.

STANDARD: Sie sagten, kritische Kunst werde wie eine Trophäe einkassiert. Passiert das bewusst?

Ullrich: Ja. Ein Vorstandschef kauft liebend gern kapitalismuskritische Kunst. Er zeigt damit, wie cool er ist und dass er Kritik aushalten kann. Aber die Kunst tut ihm ja nicht wirklich weh. Sie schreit ihn nicht an. Sie hat vielleicht sogar eine Ästhetik, die er genießen kann. Die politisch-kritische Kunst ist daher besonders attraktiv in gewissen elitären Märkten.



STANDARD: Auch Politiker sitzen gerne vor einem großen Gemälde - "mit dem Rücken zur Kunst", wie Sie es formuliert haben. Die Schüttbilder von Hermann Nitsch sind sehr beliebt.

Ullrich: Moderner Kunst wird zugesprochen, etwas Erhabenes zu haben, etwas Sprödes, Radikales, Kompromissloses, Zukunftsfähiges. Man möchte diese Eigenschaften für sich selbst in Anspruch nehmen - und lässt sich daher in einer identifikatorischen Pose vor dem Kunstwerk fotografieren. Als Statussymbol ist moderne Kunst unschlagbar: Sie ist nicht nur fotogen, sie schafft es auch, Distanz zu erzeugen. Denn wenn der Betrachter des Fotos ein Problem mit moderner Kunst hat, denkt er sich: "Oh, der Typ kann dieses Sperrige knacken, er hat den Durchblick." Kunst kann daher einschüchternd wirken. Das gilt auch für Hermann Nitsch: Er gilt immer noch als Bürgerschreck. Mit seiner Kunst kann man sich als Käufer profilieren.

STANDARD: Warum werden aber für Kunst mitunter astronomische Summen gezahlt?



Ullrich: Der hohe Preis selbst ist das Argument: Er schafft dem Kunstwerk besondere Eigenschaften, er erzeugt ein Erhabenheitserlebnis. Wenn ich weiß, dass ein Werk von Jackson Pollock mehrere Millionen kostet, dann guck ich anders hin. Das Werk bekommt eine Imposanz, die es ohne den Preis gar nicht hätte.

STANDARD: Jackson Pollock hat immerhin das Action-Painting erfunden. Damien Hirst hingegen?

Ullrich: Darum geht es nicht so sehr. Kunst hat auch eine performative Dimension. Die Frage ist, ob es einem Künstler gelingt, sein Werk so zu platzieren, dass es an einer bestimmten Stelle oder zu einem bestimmten Zeitpunkt überraschend genug wirkt. Berühmtes Beispiel: Picasso malte 1907 Les Demoiselles d'Avignon. Es gilt als das erste kubistische Gemälde. Jahrelang stand das Bild im Atelier, Picasso zeigte es immer wieder unter Freunden her, merkte aber: Es ist zu sperrig, es geht noch nicht. 1916 hat er es das erste Mal ausgestellt, am Ende seiner kubistischen Phase. Plötzlich war das Gemälde in einen Kontext eingebunden, und das Publikum konnte es schlucken. Man könnte das "Product-Placement" nennen. Das ist ein ganz wichtiger Punkt in der bildenden Kunst! Und Damien Hirst ist da ein Großmeister. Bei ihm ist das Product-Placement vielleicht sogar die größere Leistung als das Produkt selber.



STANDARD: Die Extreme wurden, beginnend mit Duchamp und Kandinsky, ausgelotet. Kann es überhaupt noch etwas Neues geben?

Ullrich: Das Neue ist kein so wichtiges Kriterium mehr. Der Druck, originell sein zu müssen, ist für Künstler nicht mehr so groß wie in der Avantgarde. Es geht heute eher darum, dass man reaktionsschnell ist, dass man situationsspezifisch agiert, dass man genau weiß, wo man provozieren beziehungsweise affirmieren will.

STANDARD: Haben wir heute nicht eine Überproduktion an Kunst?

Ullrich: Nein, denken Sie nur an den holländischen Kunstmarkt im 17. Jahrhundert, der unglaubliche Mengen an Werken hervorgebracht hat. Oder denken Sie an das ganze 19. Jahrhundert. Die Klage der Überproduktion ist sehr alt, und sie kommt immer wieder. Ich sehe das Problem nicht größer als früher. Heute haben wir eine Wohlstandsgesellschaft, in der viele Leute Kunst machen können - und nicht darauf angewiesen sind, zur Gänze davon zu leben. Und natürlich haben wir das Phänomen, dass sehr viel Kunst entsteht, die keine Chance auf öffentliche Aufmerksamkeit hat. Aber auch das ist nichts Neues. Ich glaube, dass es für junge Künstler vor 100 Jahren sogar ungleich schwerer war, Aufmerksamkeit zu erlangen. Denn es gab nur wenige große Kunstausstellungen. Sie wurden von den etablierten Künstlern der Künstlervereinigungen kuratiert, und diese haben sehr darauf geachtet, dass sie sich nicht das Wasser abgraben - und haben junge Künstler daher fast systematisch ausgeschlossen. Der vatermörderische Hass der Avantgarde ist im Grunde genommen nichts anderes als eine Reaktion auf die restriktive Aufmerksamkeitspolitik der Älteren gegenüber den Jüngeren. Heute hingegen gibt es unglaublich viele Orte, wo man ausstellen kann. Es gibt auch das Internet, um sich zumindest ein kleines Forum zu schaffen.



STANDARD: Allerorts wurden Museen moderner Kunst gegründet. Dominieren sie nicht im Vergleich zu den kunsthistorischen Museen?

Ullrich: Auf jeden Fall. Sie sind zahlenmäßig sogar überdominant. Auch deshalb, weil es inzwischen die vielen Sammlermuseen gibt - und die Künstlermuseen. Selbst Hermann Nitsch hat sein eigenes Museum. Ich bin sehr gespannt, wie das weitergeht. Letztes Jahr erschien das Buch Der Kulturinfarkt; ich kann nicht alle Folgerungen nachvollziehen, aber das Grundproblem ist schon getroffen worden: Auch ich glaube nicht, dass diese riesige Zahl an Museen erhalten und dass diese Hypertrophie des Ausstellungswesens auf dem gegenwärtigen Level weitergeführt werden kann. Es wird der Punkt kommen, wo man anfängt, Museen zu schließen, oder wo Museen sagen: "Stopp! Wir steigen aus diesem Ausstellungswahn aus." Die Museen müssen ja dauernd mit hohem Aufwand Wechselausstellungen machen, um Besucher zu erzeugen. Aufgrund dieser Überforderung kommen ihre eigentlichen Aufgaben - das Konservieren und Erforschen der Bestände - viel zu kurz.



STANDARD: Hinzu kommt, dass sehr viele Museen zeitgenössischer Kunst in etwa das Gleiche bieten.

Ullrich: Ja, es gibt eine Austauschbarkeit der Museen. Sie sind im Grunde genommen wie eine Briefmarkensammlung aufgebaut: Man muss von jedem Künstler ein Werk haben. Und wenn man keinen Andy Warhol oder Gerhard Richter hat, hat man keinen kompletten Satz. Dieses Sammelkonzept zeigt, dass wir in der bildenden Kunst einen extremen Kanon haben. Dadurch machen sich die Museen gegenseitig überflüssig. Ein Grund mehr, warum man auf Dauer nicht alle brauchen wird.

STANDARD: Das Van-Gogh-Museum oder das Belvedere mit der größten Klimt-Sammlung haben daher Vorteile?

Ullrich: Doch. Man weiß, warum man nach Amsterdam oder Wien fahren soll. Viele Sammlermuseen werden jedoch keine große Zukunft haben. Das erfolgversprechendere Modell ist das Künstlermuseum. Aber auch nur eingeschränkt, denn in 20 oder 30 Jahren wird man viele Künstler, die jetzt ein Museum haben, nicht mehr so wichtig finden.



STANDARD: Welche Künstler könnten an Wichtigkeit verlieren?

Ullrich: Ich glaube, dass in Deutschland unter den großen gehypten Künstlern Gerhard Richter und Georg Baselitz nicht mehr so hoch eingeschätzt werden. Jörg Immendorff wird noch eine Rolle spielen, aber Neo Rauch wird ziemlich einbrechen.

STANDARD: Trauen Sie sich auch Österreicher zu nennen? Bleiben Arnulf Rainer und Maria Lassnig?

Ullrich: Glaube ich schon. Auch Franz West und Erwin Wurm finde ich nicht überbewertet. Herbert Brandl hingegen, der in Sammlungen von österreichischen Unternehmen eine wichtige Rolle spielt, halte ich für überschätzt.



STANDARD: Sie haben vorhin Zweifel am Sammlermuseum geäußert. Gehen Sie mit Sammlern nicht sehr hart ins Gericht?

Ullrich: Ich unterscheide durchaus zwischen konzeptuell überzeugenderen Sammlungen und den Me-too-Sammlungen, wo jemand versucht, einem Trend hinterherzulaufen. Und ich kritisiere nicht das Sammeln an sich, sondern nur ein paar Motive des Sammelns. Mich erstaunen die Karrieren, die Sammler in den letzten Jahrzehnten gemacht haben, und ihre Versuche, Macht auszuüben - gegenüber staatlichen Kunstinstitutionen. Da ist ein Ungleichgewicht entstanden. In Deutschland sind Privatsammler teilweise mit erpresserischen Methoden vorgegangen, um ihre Sammlungen öffentlich alimentieren zu lassen.



STANDARD: Die Öffentlichkeit hat dadurch zumindest Zugang zu diesen Sammlungen.

Ullrich: Das stimmt. Für mich wird es aber zum Problem, wenn der Sammler den Staat ausnützt, um für sich selbst pekuniäre Vorteile zu erwerben. Denn letztlich hat die Allgemeinheit dafür aufzukommen. Ein gutes Beispiel ist die Sammlung Brandhorst in München. Der Sammler hat es geschafft, dass der Staat ihm ein Gebäude unterhält, die Instandhaltung der Sammlung finanziert, auf Dauer Öffentlichkeit garantiert und sogar einen Etat für Neuerwerbungen gibt. Umgekehrt aber werden die öffentlichen Institutionen, darunter die Pinakothek der Moderne, sehr knapp gehalten. Ein Privatmann kann daher in viel höherem Maß entscheiden, welche Kunst mit staatlichen Geldern gekauft wird, als der Staat selber. Das erregt meine Kritik.

STANDARD: Kennen Sie die Stiftung Leopold in Wien?

Ullrich: Ja, das geht genau in die Richtung.

STANDARD: Ist es nicht schon problematisch, wenn Museen auf Leihgaben privater Sammler angewiesen sind? Herbert Batliner hat der Albertina, die auf grafische Kunst spezialisiert ist, seine Gemäldesammlung zur Verfügung gestellt.

Ullrich: Diese Sammlung nützt der Institution, auch wenn sie gepflegt werden muss. Aber klar: Das Profil der spezifischen Institution wird unschärfer.



STANDARD: Und das Mumok bestritt Ausstellungen ausschließlich mit Privatsammlungen, die durch die Präsentationen veredelt wurden.

Ullrich: Das war grenzwertig. Bedenklich ist noch etwas anderes: Die Privatsammlungen werden temporär ausgestellt, was dazu führt, dass die eigenen Bestände ins Depot wandern.

STANDARD: Wann wird eine Privatsammlung für Sie interessant?

Ullrich: Beim Sammler ist der Druck, originell zu sein, größer als beim Künstler. Weil er sich von den anderen Sammlern absetzen muss. Er muss zeigen, dass er besonders findig ist. Wenn heute jemand anfangen möchte, Kunst zu sammeln, würde ich ihm sagen: "Guck nicht nur auf das Zeitgenössische, es wird viel Spannendes aus dem 17. oder 18. Jahrhundert angeboten, das bisher übersehen wurde." Es kommt auch auf das Setting, die Mischung an, zum Beispiel auf die Kombination von alter mit zeitgenössischer Kunst. Da entstehen neue Möglichkeiten, Kunst wahrzunehmen.



STANDARD: Ein Trend scheint auch in klassischen Kunstmuseen zu sein, Altes mit Neuem zu kontrastieren. Im Kunsthistorischen Museum werden gerade die Gemälde von Lucian Freud zeigt.

Ullrich: Genau. Das strenge Trennen nach Epochen und Regionen war eine Erfindung des 19. Jahrhunderts. Und das bricht jetzt wieder auf. Man hat eben erkannt, dass man auch oft gesehene Werke ganz neu zur Geltung bringen kann, wenn sie in einem anderen Kontext auftauchen. Das hat wieder mit der Deutungsoffenheit von Bildern zu tun. Und das macht man sich jetzt zunehmend zunutze. Es kann aber auch nur ein Ausweg aus der pekuniären Not sein: Die Museen verzichten darauf, teure Ausstellungen mit hunderten Leihgaben zusammenzustellen, arbeiten mit den eigenen Beständen und mischen diese immer wieder durch, um andere Aspekte von Werken zur Geltung zu bringen.

STANDARD: Ich dachte, Sie kritisieren, wenn Kunst z. B. mit Artefakten kombiniert wird.

Ullrich: Ja, es ist nicht immer fruchtbar, hat manchmal etwas Gewolltes und Prätentiöses. Und wenn ein Sammler in Konkurrenz zum Readymade-Künstler treten möchte und ein Skelett neben ein Jonathan-Meese-Bild stellt, ist das oft auch eitel. Also: Auch wenn auf Sammlern der Druck lastet, originell zu sein, heißt das nicht, dass sie zu Künstlern werden müssen. Sie müssen nicht Dinge zur Kunst erklären, die an sich nicht als Kunst gedacht sind.


 
STANDARD: Ist der Kurator inzwischen wichtiger als der Künstler?

Ullrich: Der Kurator hat den Diskurs unglaublich verändert. Im ersten Schritt war er sicherlich eine Entlastung für die Künstler, nun ist er auch eine Belastung. Früher waren, wie schon erwähnt, Künstler von anderen Künstlern abhängig, um ausstellen zu können. Der Kurator hingegen war eine neutrale Instanz. Er hatte oft den Ehrgeiz, etwas Neues zu entdecken, und gab daher den jungen Künstlern eine Chance. Inzwischen haben die Kuratoren aber eine solche Macht erlangt, dass wir in eine neue Phase der Auftragskunst eingetreten sind. Wirklich manifest wurde das auf der letzten Documenta. Die Kuratorin hat die Künstler in Seminaren richtiggehend gebrieft: "Du musst etwas zum Thema Afghanistan machen, sonst bist du nicht dabei." Es wurde wirklich Auftragskunst produziert.

STANDARD: Wir haben also wieder ein feudalistisches System?

Ullrich: Absolut! Auch die Privatsammler werden immer mehr zu Auftraggebern. Denn wenn man mehrere Werke eines Künstlers hat, dann äußert man auch Wünsche und konkrete Ideen. Wir brauchen daher etwas, was in der Zeit der autonomen Kunst des 20. Jahrhunderts verlorengegangen ist: eine Kultur des Auftraggebens und des Auftragnehmens. Das System zwischen Auftraggeber und Auftragnehmer war früher unglaublich komplex. Denn es geht schon auch darum, den Künstler herauszufordern. Man muss wissen, was man wem zutrauen oder zumuten kann. Und der Künstler muss darauf reagieren, den Ansatz weiterverfolgen oder ablehnen. Heute ist es noch so, dass die Documenta-Kuratorin sagt, was zu machen ist. Die Künstler machen brav mit, weil sie auf der Documenta vertreten sein wollen. Und daher entstehen relativ platte Arbeiten. Aber im nächsten Jahrzehnt wird vielleicht schon eine neue Kultur des Auftraggebens und des Auftragnehmens entstehen. Auf diese Zeit können wir gespannt sein! Es wird vielleicht wieder, wie früher, Leute geben, die vor allem deswegen berühmt werden, weil sie gute Auftraggeber sind und aus Künstlern ein Maximum herausholen können. Und nicht, weil sie viel Geld haben.



STANDARD: Nachfolger der Kirche und der Medici?

Ullrich: Genau. Es gab Epochen, in denen man den Auftraggeber für die Qualität der Kunst wichtiger eingeschätzt hat als die Künstler. Ich schließe nicht aus, dass der Topos wieder auftaucht, dem zufolge gute Kunst nur entsteht, wenn es gute Auftraggeber gibt.

STANDARD: Der Künstler wird dann aber zum Dienstleister?

Ullrich: Natürlich ist er das ein Stück weit. Heute sind die Künstler, weil sie im Gestus der Autonomie erzogen wurden, oft schlechte Dienstleister: Sie nehmen Aufträge zwar an, lehnen es aber innerlich ab, Dienst zu leisten. Sie befinden sich in einer für sie selber unbefriedigenden, schizophrenen Situation. Sie müssen wieder lernen, stolze Auftragnehmer zu sein. Die Hofkünstler hatten kein Statusproblem damit, dass sie Dienstleister waren. Die waren sehr selbstbewusst.

Wolfgang Ullrich, geboren 1967 in München, studierte Philosophie und Kunstgeschichte. Seit 2006 ist er Professor für Kunstwissenschaft und Medientheorie an der Hochschule für Gestaltung Karlsruhe. In seinen Büchern kritisiert er u. a. den Stellenwert moderner Kunst ("Tiefer hängen", 2003), zudem beschäftigt er sich mit dem Konsumbürger ("Habenwollen", 2006 und "Alles nur Konsum", 2013).

Thomas Trenkler, geboren 1960 in Salzburg, seit 1993 Kulturredakteur beim Standard. Mehrere Buchveröffentlichungen, u. a. "Der Fall Rothschild" (1999), "Wiedersehen im Niemandsland" (2000), "53 - Eine Behauptung" (2009), "Das Zeitalter der Verluste" (2013) und "Ich fiel in eine Welt" (2013).



Nota. - Die Bildauswahl ist rein zufällig und hat keine Tendenz, auch keine polemische. Nur was von wem ist, sage ich nicht. (Bei einem Stück weiß ich es selber nicht, und eins ist eine Fälschung.)
JE

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