Freitag, 10. April 2015

Schiele und Freud.

aus nzz.ch, Mittwoch 08. April 2015, 23:28

Die unerträgliche Nacktheit des Seins:
Warum Egon Schiele bis heute schockiert

von Carlo Strenger  

Die Neue Galerie in New York ist eines der physisch attraktivsten Museen, die ich kenne. Ein Townhouse an der 5th Avenue, im 19. Jahrhundert erbaut, fungiert es seit 2001 als Museum für deutsche und österreichische Kunst. Das Cachet des Museums könnte für Fin de Siècle Kunst nicht besser sein – man fühlt sich in eine Wiener Villa zurückversetzt, und einige der Räume, die in der Dauerausstellung ausgezeichnete Werke von Kokoschka zeigen, sind in Holz getäfelt und mit Möbeln aus derselben Periode ausgestattet. Dank seiner phänomenalen Sammlung bekommt das Museum auch hervorragende Werke anderer Museen für seine Ausstellungen, wie zum Beispiel die bald auslaufende Retrospektive von Schieles Porträts, die um die Themen Familien, Freunde, Kollegen, Photographen und Schieles Auseinandersetzung mit seiner Gefängnisstrafe organisiert sind.

Ich nehme jede Gelegenheit, Schieles Werk zu sehen, wahr, und habe Biografien von ihm gelesen, aber irgendwie hatte ich verdrängt, dass er eine Gefängnisstrafe abgebüsst hat, die in der Ausstellung, die ich vor einigen Tagen besucht habe, detailliert dokumentiert ist. Der Hintergrund war folgender: Schiele, ein frühreifes Genie, das als Sechzehnjähriger in der Wiener Akademie der Künste aufgenommen und dessen Begabung von Meistern wie Klimt sehr früh erkannt wurde, zog 1911 im Alter von einundzwanzig, mit seiner damaligen Lebensgefährtin Wally Neuzil nach Krumau, dem Geburtsort seiner Mutter. Die Bewohner fanden seine Lebensweise anstössig, worauf er mit Wally in das niederösterreichische Neulengbach weiterzog. Das Städtchen kam mit Schiele nicht besser zurecht als Krumau: Er wurde des sexuellen Missbrauchs Minderjähriger angeklagt und in Untersuchungshaft genommen. Die Anklage erwies sich als grundlos, aber er wurde vor Gericht wegen „Verbreitung unsittlicher Zeichnungen“ zu einer Gefängnisstrafe verurteilt, und verbrachte insgesamt vierundzwanzig Tage im Gefängnis.

Jetzt, nachdem Schiele schon lange als einer der grossen Künstler des zwanzigsten Jahrhunderts anerkannt ist, ist es verführerisch, diese Verurteilung einfach auf die spiessbürgerliche Moral eines österreichischen Provinzstädtchens zurückzuführen, aber ich denke, dass damit ein wesentlicher Aspekt von Schieles Werk übergangen würde. Wir können damit rechnen, dass auch der niederösterreichische Richter, der Schiele verurteilte, die grosse Tradition der Darstellung des nackten Körpers seit der Antike kannte, in der Männer, Frauen, der Penis und die Vulva, oft auch im erotischen Kontext immer wieder dargestellt worden sind. Warum dann war Schieles Werk schockierend?

Meines Erachtens sind viele von Schieles Gemälden bis heute nicht einfach zu verdauen. Der Schock, den Schieles Werk bei tieferer Betrachtung auslösen kann, wird leicht verdrängt, da seine Gemälde auf unzähligen Postern zu sehen sind, und dieser Schock ist keinesfalls darauf zu reduzieren, dass Schiele die Vulva und den erigierten Penis, auch im Kontext der Masturbation, explizit gemalt hat. Wir sind ja heute Bilder von ganz oder fast nackten Körpern gewohnt. Aber wir sind uns nicht dessen bewusst, dass in fast ausnahmslos all diese Abbildungen, ob in Kunst, Werbung oder sogar Pornografie, der menschliche Körper idealisiert wird. Dies war sicherlich in der klassischen Tradition der Fall, die von dem grossen Kunsthistoriker Kenneth Clark in einer klassischen Studie als die Kunst der idealen Form charakterisiert worden ist. In der Werbung werden sowohl weibliche als auch männliche Körper fotografiert, die schon a priori sich der Perfektion – oder der Anorexie – nähern, aber, wie immer mehr bekannt wird, werden auch diese Fotos enorm retuschiert. Sogar in der Pornografie wird meist sichergestellt, dass Alles so attraktiv wie möglich aussieht, was durch Beleuchtungseffekte und Editionsarbeit leicht zustande zu bringen ist.

Egon Schiele. Sitzender männlicher Akt, 1910 
Sitzender männlicher Akt, 1910

Der Schock, den Schiele auslösen kann und sollte, wenn man seine Gemälde wirklich auf die Psyche einwirken lässt, ist viel tiefer als deren sexuell expliziter Inhalt. Schiele stellt den Menschen in der unerträglichen Nacktheit des Seins dar, und sein Werk exemplifiziert, was der amerikanische Philosoph und Kunstkritiker Arthur Danto über Lucian Freud geschrieben hat: Die westliche Kunsttradition hat den Körper als Akt („nude“) dargestellt, aber Freud habe den Menschen in seiner Nacktheit („nakedness“) dargestellt. Schiele ist in dieser Hinsicht vielleicht noch extremer als Lucian Freud, denn sein Werk entkleidet den Menschen aller Schutzmechanismen, die uns die Kultur zur Verfügung stellt, um die unerträgliche Nacktheit unseres Seins zu verdrängen. 

Der hier abgebildete Sitzende Männliche Akt von 1910, den Schiele als Zwanzigjähriger noch in Wien gemalt hat, ist ein gutes Beispiel dafür, wie nackt Schiele Menschen malt. Je länger das Bild betrachtet wird, desto schwieriger ist es zu verdauen. Die Gestalt wirkt in gewisser Hinsicht fast enthäutet, obgleich vor Allem die Beinbehaarung stark betont ist. Sie wirkt in gewisser Hinsicht wie eine anatomische Studie und hat einen fast skeletthaften Charakter, obgleich die Muskulatur mit grosser Präzision und tiefem Verständnis abgebildet sind. Die Arme scheinen den Kopf und das Gesicht schützend zu umfassen und der Gesamteindruck, den das Gemälde ausstrahlt ist einer des Unbeschützt-Seins. Die Nacktheit hat hier keinen positiven erotischen Anklang: Sie drückt eher eine zutiefst unbehütete existenzielle Nacktheit aus. Noch extremer ist dieser Eindruck in einem Selbstportrait aus demselben Jahr. Schieles Hände wirken wie die eines Skeletts, und ein Teil der Muskulatur scheint einem Anatomietext entnommen zu sein, der die Muskulatur unterhalb der Haut darstellt. Der Gesichtsausdruck scheint aus Angst, Wut und vielleicht einem erschrockenen Erstaunen zusammengesetzt zu sein.
Selbstbildnis 1910

Die Existenzialpsychologie und –anthropologie, die in den letzten Jahrzehnten auch zu einer Experimentaldisziplin geworden ist, demonstriert, wie sehr wir Menschen kulturellen Schutz gegen das Bewusstsein unserer Verwundbarkeit und Sterblichkeit brauchen. Wir bekleiden uns nicht nur als Schutz gegen die Elemente und vor dem Blick der Anderen, sondern auch um unsere existenzielle Verwundbarkeit zu verbergen. Dafür kleiden wir uns nicht nur physisch: wir suchen, wie Jean-Paul Sartre zeigte, auch Schutz in unserer sozialen Position und Identität. Schieles Werk entkleidet uns in jeder Hinsicht gnadenlos und konfrontiert uns schonungslos mit unserer Leiblichkeit. Ungleich Courbet, dessen Gemälde „Ursprung der Welt“ ich hier vor einigen Monaten diskutierte, lässt uns Schiele nicht einmal den Trost der erotischen Attraktion, sondern erinnert uns daran, dass die Körper, die uns anziehen, letztendlich aus Knochen, Muskeln und Sehnen bestehen. Dabei gibt Schiele keine distanzierte anatomische Darstellung, sondern drückt die Angst vor unserem existenziellen Unbeschützt-Seins mit einer Wucht aus, die ihn zu einem der grossen Vertreter des Expressionismus gemacht hat. Die Tatsache, dass er dieses beeindruckende Oeuvre bis zum Alter von achtundzwanzig schuf, als er, wie Millionen anderer Menschen in Europa 1918 an der Grippen-Epidemie starb, macht auch sein Leben zum Symbol der Gebrechlichkeit, die er uns so schonungslos vor Augen führt.


Nota. - Als Lucian Freud starb, habe ich mich gefragt: Warum muss ich mir sowas ansehen? Dass es mehr hässliche als schöne Menschen gibt, weiß ich längst, man muss ja nur mal am Nachmittag in den Stadtpark gehen. Eine ästhetische Offenbarung ist es jedenfalls nicht. Ist es aber eine message? Dann ist es erstens keine dringend benötigte, und zweitens würde Kunst, wenn sie sich ästhetisch rechtfertigen könnte, eine solche nicht brauchen: Es ist einfach veraltet. 

Anders als der Autor nehme ich nicht jede Gelegenheit wahr, Schiele-Bilder zu sehen; nämlich nicht die - ganz unero- tischen - Aktbilder: Dass es mehr hässliche als schöne Menschen gibt, usw. ... Aber nun erfahre ich: Es ist die metaphy- sische Unbehaustheit, die existenzielle Geworfenheit, the ontological insecurity des modernen Menschen, die hier zu sehen ist. War: zu der Zeit, als die Belle Époque gerade in den Weltkrieg abrutschte. Es ist wahr, ein Künstler wäre als Mensch nicht ernstzunehmen, wenn ein solcher Zeitbezug seinen Bildern nicht anzumerken wäre, aber vollständig kann das eine ästhetische Rechtfertigung nicht ersetzen. Muss es bei Schiele auch nicht, die Expressivität ist selber eine ästhetische Qualität und braucht als solche keine Erklärung. 

Lucian Freuds Nackte sind nicht existenziell geworfene Haut und Knochen, sie sind etwas zu prall im Leben, sie illustrieren nur die Selbstreflexivität der allermodernsten Kunst: 'Was kann man heute noch malen?'
Lucian Freud, Two japanes wrestlers by a sink, 1983/87

Freud hat wie Schiele eine Antwort aber gekannt, doch keine, die beim Publikum durchdringt und auch keine, die sie als solche selber wahrgenommen hätten - es sind ihre mehr beiläufigen Landschafts-, Architektur- und Pfanzenstudien, die in Wahrheit auf Motiv und Message verzichten, indem sie die Gegenstände ganz in ihrem ästhetischen Schein versinken lassen.
JE



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