Dienstag, 21. April 2015

Schillers "ästhetischer Zustand".

Carpeaux, Napolitanischer Fischerjunge 








Es gibt keinen andern Weg, den sinnlichen Menschen
vernünftig zu machen, als indem man denselben
 vorher ästhetisch macht.
Schiller


SchillerDer Wegbereiter der Romantik war Friedrich Schiller. Sein Interesse am Ästhetischen  war – anders als bei Kant – von vornherein nicht bloß theoretisch, sondern politisch und pädagogisch. Seine Ästhetische Erziehung des Menschen entstand 1793/94 und rechtfertigte seine Abkehr von der (französischen) Revolution.[1] Die Kritik an der bürgerlichen Gesellschaft ist zwar ungebrochen, er knüpft weiterhin an Rousseau an: „Die Kultur, weit davon entfernt, uns in Freiheit zu setzen, entwickelt mit jeder Kraft, die sie in uns ausbildet, nur ein neues Bedürfnis,“[2] das uns gefangen nimmt, indem es das System der Arbeitsteilung hervorbringt, das den Menschen vereinseitigt und auf einen bestimmten Beruf festlegt. „Wir sehen  ganze Klassen von Menschen nur einen Teil ihrer Anlagen entfalten, während dass die übrigen, wie bei verkrüppelten Gewächsen, kaum in matter Spur angedeutet sind. Ewig nur an ein einzelnes kleines Bruchstück des Ganzen gefesselt, bildet sich der Mensch selbst nur als ein Bruchstück aus“ und wird dabei „bloß zum Abdruck seines Geschäfts“.[3]

Er erkennt aber auch den Fortschritt darin: „Die mannigfaltigen Anlagen im Menschen zu entwickeln, war kein anderes Mittel, als sie einander entgegenzusetzen. Dieser Antagonism der Kräfte ist das große Instrument der Kultur. Einseitigkeit in Übung der Kräfte führt zwar das Individuum unausbleiblich zum Irrtum, aber die Gattung zur Wahrheit.“[4] 

turnen-buben2Soll nun im Gattungsinteresse das Individuum dazu verurteilt bleiben, „über irgend einem Zwecke sich selbst zu versäu- men“? Wenn die Kultur mit ihren Künsten die Verkümmerung der Individuen unausweichlich machte, dann gilt es, durch eine „höhere Kunst“ die Totalität der Person wiederherzustellen.[5] Wer soll das tun, und wie? Die Revolution hatte alle Hoffnung auf den Staat gesetzt, aber die Menschen waren für die Freiheit noch nicht reif, die Republik wurde zur „Tyrannei gegen das Individuum“, bis es sich am Ende gar zur alten Unterdrückung zurücksehnen mochte![6] Der Staat fällt als Mittel der Befreiung aus. Umgekehrt, ein freier Staat wird erst möglich, wenn die Individuen zur Freiheit gebildet sind. „Man müßte also zu diesem Zwecke ein Werkzeug aufsuchen, welches der Staat nicht hergibt.“ Da er selber Künstler war, mußte Schiller nicht lange suchen: „Dieses Werkzeug ist die schöne Kunst.“[7] 

Die Doppelnatur des Menschen, mal Natur-, mal Vernunftwesen, kommt in seiner zwiespältigen Triebstruktur zum Ausdruck: Dem „sinnlichen Trieb“, der auf die Befriedigung der Bedürfinisse in der Zeit gerichtet ist, steht ein „Formtrieb“ gegenüber, der auf die – logische und moralische – höhere Bestimmung des Menschen in der Ewigkeit zielt. Der eine kommt aus dem prallen Leben, der andre reißt ihn über dessen Verstrickungen hinaus. Nur seinem sinnlichen Trieb preisgegeben, bleibt der Mensch eine Art Gemüse. Nur dem Formtrieb verfallen, erstirbt er dem Leben. 

BrettspielDoch es gibt ein Drittes, „in welchem beide verbunden wirken“: der Spieltrieb. [8] Der Gegenstand des sinnlichen Triebs heißt Leben, der des Formtriebs heißt Gestalt; „der Gegenstand des Spieltriebs wird also lebende Gestalt heißen können – ein Begriff, der allen ästhetischen Beschaffenheiten der Erscheinung und dem, was man in weitester Bedeutung Schönheit nennt, zur Bezeichnung dient“.[9] Im Spiel sind beide Naturen des Menschen zwanglos vereint, indem „gerade das Spiel und nur das Spiel es ist, das ihn vollständig macht und seine doppelte Natur auf einmal entfaltet. Mit dem Angenehmen“ – dem Gegenstand des Bedürfnisses, – „mit dem Guten und Vollkommenen“ – dem Gegenstand des Formtriebs – „ist es dem Menschen nur ernst“, und wer kann das aushalten? „Aber mit der Schönheit spielt er. Der Mensch soll mit der Schönheit nur spielen, und er soll nur mit der Schönheit spielen. Er spielt nur, wo er in voller Bedeutung des Wortes Mensch ist, und er ist nur da ganz Mensch, wo er spielt.“[10] 

Dann – mit dem 19. Brief – bricht Schiller seinen Gedankengang plötzlich ab. Soeben hat er Fichtes „Wissenschaftslehre“ gelesen.[11] Die beiden ‚Triebe’ läßt er nun beiseite, als legten sie einander brach: „Die Entgegensetzung zweier Naturnotwendigkeiten gibt der Freiheit ihren Ursprung”! Seither gibt es „in dem Menschen keine andere Macht als seinen Willen“. Jene „mittlere Stimmung“, wo die Triebe verstummen und der Mensch in seinen ursprünglichen „negativen Zustand der bloßen Bestimmungslosigkeit“ zurückkehrt, diesen „Zustand der realen und aktiven Bestimmbarkeit“ muß man „den ästhetischen heißen“. „In dem ästhetischen Zustand ist der...ist der Mensch Null. 
Mensch also Null“, nämlich „an Inhalt völlig leer“, und findet sich in der Freiheit wieder, „aus sich selbst zu machen, was er will. Das Vermögen, welches ihm in der ästhetischen Stimmung zurückgegeben wird“, ist „als die höchste aller Schenkungen zu betrachten“, und es ist „nicht bloß poetisch erlaubt, sondern auch philosophisch richtig, wenn man die Schönheit unsre zweite Schöpferin nennt.“[12] 

Der ästetische Zustand ist also ziemlich das Gegenteil von dem, was man landläufig Subjektivismus nennt. ‘Selbstvergessenheit’ – nach Fichte Bedingung alles Realen – wäre der treffende Ausdruck. 



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[1] Über die ästhetische Erziehung des Menschen. In einer Reihe von Briefen, zuerst erschienen in Schillers Zs. Horen; hier zit. nach: Fr. Schiller, Ausgewählte Werke Bd. 6, Stuttgart 1950 (Cotta) 
[2] ebd, S. 250 
[3] ebd, S. 252f. 
[4] ebd., S. 257 
[5] ebd, S. 259 
[6] ebd, S. 259-261 (7. Brief) 
[7] ebd, S. 263 
[8] ebd, S. 285 
[9] ebd, S. 287 
[10] ebd, S. 290f. 
[11] Fichtes Grundlagen der gesamten Wissenschaftslehre erschienen seit dem Frühjahr 1794 bogenweise als Handschrift für seine Zuhörer. Neu: Hamburg 1979 (PhB); auch in: Fichte, Sämtliche Werke Bd. I, Berlin 1971. – Beide waren Professoren in Jena, Schiller für Geschichte, Fichte für Philosophie. 
[12] Schiller aaO, S. 305-310

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