Dienstag, 2. Januar 2018

Giorgio de Chirico in Madrid.


Beunruhigende Musen, 1916/18
aus Der Standard, Wien, 2. Jänner 2018, 15:57

Ausgesetzt auf dem metaphysischen Schauplatz des Lebens
Mit der Ausstellung "Traum oder Wirklichkeit" würdigt das Madrider Caixaforum den italienischen Meisterkünstler

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Die visionären Bilderwelten Giorgio de Chiricos (1888-1978) sind farblich von immenser Strahlkraft. Der, der sich selbst "pictor summum", der "höchste Maler", nannte, setzt auf rigoros-geometrische Ordnung, klare Linien und Formen. Seine Pittura metafisica gilt als Italiens früher Vorreiter des Surrealismus.


Eine seltene Chance, in de Chiricos Welt einzutauchen, bietet aktuell das Caixaforum Madrid. 143 Werke versammelt die Retrospektive, ein chronologisch konzipierter Rundgang durch alle Schaffensperioden. Gezeigt werden überwiegend Gemälde, die Skulpturen als Motive dienten, wie Beunruhigende Musen (Gemälde 1917, Plastik 1974), Reuiger Minotaurus oder Der große Troubadour.

 
Il grande trovatore, 1917

Il trovarore, um 1968

Kuratiert von Mariastella Margozzi und Katherine Robinson, zeigt die Schau "die zwei Wege, die de Chirico zeitlebens eingeschlagen hat", so Robinson. "Zum einen das Überraschende, das Metaphysische, seine italienischen Piazze. Eine Welt abseits des Alltäglichen und des Realen." Zentral sind de Chiricos "manichini", anonyme Gliederpuppen. "Zum anderen seine Rückbesinnung auf Neobarock und Neoklassizismus." Und sein neometaphysisches Spätwerk der 1960er- und 1970er-Jahre wie die Mysteriösen Bäder (Bagni misteriosi). Ein Motiv, das in den Illustrationen zu Jean Cocteaus Mythologie (1934) erstmals auftaucht.


Der Betrachter  1976

"Unglaubliche Einsamkeit"

De Chirico, als Sohn italienischer Eltern 1888 im griechischen Volos (Thessalien) geboren, studierte erst in Athen, später in München an der Akademie der Bildenden Künste. Vor dem Ersten Weltkrieg die Erleuchtung: Er sehe nun anders, erklärte de Chirico später "seine Vision", die er 1910 in Florenz hatte. Verknüpft mit frühen Einflüssen, die ihn zeitlebens prägen sollten, wie die Traumbilder seines Lehrmeisters Max Klinger oder die symbolistische Gedankenwelt Arnold Böcklins.

Friedrich Nietzsches Beschreibungen von menschenleeren Piazze in Turin verinnerlichte de Chirico – insbesondere die dort im Winterlicht spürbare "unglaubliche Einsamkeit". Der Mensch, sofern sichtbar, ist unkenntlich klein. Wirft aber lange, bedrohliche Schatten auf seiner Piazza Metafísica. Überwältigend das Spiel mit unmöglichen Verhältnissen aus Licht und Perspektive, das der junge Weltenbummler bis 1915 in Paris perfektionierte.

In Paris legte de Chirico auch den Grundstein für seine Karriere. Sein frühes Werk war 1911 im Salon d'Automne ausgestellt und von Picasso und Apollinaire rezipiert worden. René Magritte soll in Tränen ausgebrochen sein, als er de Chiricos Liebeslied (1914) erstmals zu Gesicht bekam.


Metaphysische Vision von New York, 1975

Gesichtslose Puppen

In den Kriegsjahren war de Chirico nicht kampffähig und abseits der Front stationiert. Er zeichnete seine später zum Markenzeichen gewordenen Schneiderpuppen. Gesichtslos wie die Menschen der Zeit, die einem Weltuntergang gleichkam. Eingebettet in skurrile architektonische Szenarien, de Chiricos rätselhafte "metaphysische Innenräume", die wie Schaufenster aussehen. Sein Einfluss wirkte auf sein direktes Umfeld, den Futurismus von Carlo Carrà, mit dem er 1917 die Scuola Metafisica ins Leben rief. Auf Dadaisten und Surrealisten wie den jungen Max Ernst oder Salvador Dalí, und darüber hinaus auf die Neue Sachlichkeit (George Grosz), den Magischen Realismus, die Pop-Art und die Konzeptkunst.

Als Theoretiker und Maler vollzog de Chirico in den frühen 1920er-Jahren eine Kehrtwende. Er suchte Halt bei den alten Meistern, allen voran Raffael und Signorelli, wie er in seiner Schrift Die Rückkehr zum Handwerk (1919) darlegte. Hellenistische Tempelruinen, wiederkehrende Säulenfragmente und die Mythologie finden sich in seinem Versuch einer Restauration, die zum Bruch mit Bretons Surrealisten führt.

Selbstporträt mit dem Kopf Merkurs, 1923

In der neometaphysischen Spätphase strotzten seine Traumwelten neuerlich vor enigmatisch-facettenreichem Unsinn: Er setzte in Odysseus Heimkehr (1973) den Irrfahrer als anlandende Statue ins Setting eines Wohnzimmers in Ithaka, mit Tempel, Sofa und Meerblick. Sinnbild für eine seiner Konstanten, den ewigen Konflikt der Innen- mit der äußeren Welt. 

Caixaforum,, Madrid, bis 18. Februar


Nota. - Vielleicht nicht in der Kunstgeschichte, aber beim größeren Publikum kommt Chirico nur bis Anfang der 20er Jahre vor, bis zu den Metaphysischen Innenräumen, aber die neoklassischen und gar neobarocken Stücke seither bleiben allgemein unbeanchtet. 

Es ist guter Ton, mit alten Vorurteilen aufzuräumen. Aber bei Chirico kommt man dabei nicht weit. 
Die postmetaphysischen Sachen sind, obwohl sie nun alle Titel tragen, die man verstehen kann, ganz nichtssagend. Er legt jetzt mehr Wert auf akribisches Handwerk, siehe obiges Selbstporträt mit Merkur, und bringt es stellenweise zu einiger Virtuosität; nur erkennt man nicht, wozu es gut ist. Doch seit er sich von der Renaissance dem Barock zuwendete - dem holländischen mehr als dem italienischen -, übernimmt er von Frans Hals dessen wüsten Strich, und wenn es nun auch bunt und expressionistisch zugeht, hat man nicht das Gefühl eines Zugewinns.

Die späte Rückwendung zu den 'metaphysischen' Motiven war ein Notausgang: Epigone seiner selbst. Die eigenen frühen Gemälde zu geglätteten und vergoldeten Skulpture klassizisieren!


Hektor und Andromache, 1917


 
Hektor und Abdromache, 1970

Es kommt nichts Neues hinzu, das man begrüßen könnte, nicht einmal die Faktur ist noch erwähnenswert. Die gelegentlichen Versuche, doch nochmal was Eigenes zustande zu bringen, machen verständlich, dass er auf dem Weg nicht beharrt hat.


Odysseus' Heimkehr, 1968

Aber das alles schmählert nicht im mindesten, dass seine Stücke aus dem zweiten Jahrzehnt zu dem Bedeutendsten zählt, das das 20. Jahrhundert hervorgebracht hat, und wenn man ihn einen Vorläufer des Surrealismus nennt, tut man ihm Unrecht, denn er war besser als sie (als die meisten).

JE 


 

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