Samstag, 31. August 2013

Das Bild und was es bedeutet.


aus Neue Zürcher Zeitung, 30. Januar 2010                                                       Paul Cézanne, La carrière de Bibémus, 1895


Zum Verhältnis von Diskurs und Malerei

Noch in der Gotik war die Schrift selbstverständlich Teil der Malerei. In den illusionistischen Bildräumen der Renaissance aber hatte sie keinen Platz mehr. Das änderte sich erst wieder mit der Kunst der Moderne, in der die Schrift auf neue Weise wieder auftaucht – nicht immer in eindeutiger Art allerdings.
 
Von Peter Bürger
 
Geprägt durch die Moderne, wie wir sind, erscheint uns alles Diskursive, d. h. das Gegenständliche und das Erzählende, immer noch als etwas der Malerei Fremdes – und dies obwohl mit Pop-Art und Neuen Wilden der Gegenstand und seither auch die Erzählung in die Malerei zurückgekehrt sind. Wie eng einst die Verschränkung von Bild und Schrift war, ist für uns daher schwer nachzuvollziehen.
 
Die religiöse Malerei des Mittelalters hatte die Bibel zur Voraussetzung. Sie war Darstellung biblischer Geschichten, die der Betrachter im Bild wiedererkannte. Allenfalls nebenher mag er die Schönheit der Komposition bewundert haben, vor allem ging es ihm darum, die Bedeutung des Dargestellten zu erfassen. Von der Verschränkung von Bild und Schrift zeugen in der gotischen Malerei nicht zuletzt die lesende Maria in der Verkündigung oder die Heiligen mit der Bibel in der Hand, aber auch das Motiv des die Madonna malenden Lukas, in dem der des geschriebenen Worts mächtige Evangelist als Maler erscheint.


Jan Gossaert-Mabuse, Der Hl. Lukas malt die Jungfrqu Maria

Störender Fremdkörper
 
Für die gotischen Maler ist das Bild so selbstverständlich Wiedergabe der Schrift, d. h. der Heiligen Schrift, dass sie Schriftzeichen ins Bild hineinnehmen, sei es als Spruchband, das zwischen dem Übersinnlichen und dem Irdischen vermittelt, zwischen dem Verkündigungsengel und Maria, sei es als Schriftzug mit dem Namen der dargestellten Heiligen. Das ändert sich erst in der Renaissance mit der Einführung des perspektivischen, auf den Blickpunkt des Betrachters ausgerichteten Bildraums. Jetzt wird das Bild zur illusionistischen Darstellung einer Szene. Es wird nicht mehr vornehmlich als Teil der unabgeschlossenen Heilsgeschichte gelesen, sondern als eine in sich abgeschlossene ästhetische Ganzheit betrachtet.
 
Das hat Konsequenzen für die Anwesenheit von Schrift im Bild. Diese muss nun motiviert werden (z. B. als Seite in einem aufgeschlagenen Buch), andernfalls würde sie vom Betrachter als ein die Illusion störender Fremdkörper empfunden. Diese Konstellation gilt weitgehend auch für die auf die Renaissance folgenden Jahrhunderte, in denen sich zunächst noch innerhalb des Historienbildes die neuen Gattungen des Stilllebens und der Landschaftsmalerei herausbilden. Da diese an die perspektivische Raumauffassung gebunden bleiben, schliessen sie die nicht motivierte Integration von Schrift in das Bild aus.

Botticelli, Zenobius wird getauft und zum Bischof geweiht, 1500 - 05

Erst als Georges Braque und Pablo Picasso in den Jahren vor dem Ersten Weltkrieg, ausgehend von einigen Landschaften des späten Cézanne, in denen der Raum keine Tiefe mehr zu haben scheint, sich von dem perspektivisch auf den Blickpunkt des Betrachters hin orientierten illusionistischen Raum verabschieden, tritt auch, was die Schrift im Bild angeht, eine Änderung ein. Indem die beiden Maler in der Phase des analytischen Kubismus ein Vokabular aus Flächenfacetten entwickeln, in denen unterschiedliche Ansichten des Gegenstands aufscheinen, leiten sie eine Revolution des seit der Renaissance geltenden Darstellungssystems ein. Gleichwohl behalten sie den Bezug zur Realität bei, wenn dieser auch nicht mehr in der gewohnten perspektivischen Sicht ins Bild tritt.
 
Gefahr der Verarmung
 
Nachdem so die Illusion, die seit der Renaissance die Malerei dem Betrachter vermittelte, aufgesprengt ist, kann nun auch die Schrift wieder ins Bild hineingenommen werden. Das geschieht im Kubismus durch die Einfügung von Buchstaben und Wortfragmenten, die als Formelemente eingesetzt werden, zugleich aber die Assoziationen des Betrachters auf den Gegenstand lenken, der in der deformierenden Darstellung nicht mehr unmittelbar erkennbar ist.

  Braque, Geige und Krug

In der Geschichte der modernen Malerei nimmt der Kubismus eine herausragende und zugleich paradoxe Stellung ein. Einerseits zerstört er ein Darstellungssystem, das 500 Jahre in Geltung gewesen ist, und ersetzt es durch ein anderes; andererseits schreckt er davor zurück, den Schritt zur gegenstandslosen Malerei zu vollziehen, der in den gegeneinander verschobenen und ineinander verkeilten Flächen des analytischen Kubismus angelegt schien. Man wird diese Entscheidung kaum überbewerten können, deutet sie doch darauf hin, dass Picasso und sein Mitstreiter Braque offenbar in der Preisgabe des Realitätsbezugs, und damit der Diskursivität des Bildes, die Gefahr einer Verarmung der Malerei sahen. In der Tat wird durch den in der Entwicklungslogik der modernen Malerei liegenden Schritt zur Gegenstandslosigkeit diese ja nicht nur von allem «Nicht-Malerischen» befreit, so dass sie sich ganz auf die ihr eigenen Mittel, Linie, Fläche, Farbe und Form, konzentrieren kann, sondern sie verliert auch etwas ihr Wesentliches: nämlich das Wechselspiel zwischen Darstellung und Dargestelltem, Schein und Wirklichkeit. Dieses Wechselspiel ist es, das den Blick des Betrachters belebt und Bedeutungszuweisungen ebenso ermöglicht wie die Konzentration auf die künstlerischen Mittel.
 
Arnold Gehlen hat in «Zeit-Bilder» schon 1960, auf dem Höhepunkt des Informel, erkannt, dass die Gegenstands- losigkeit die moderne Malerei vor erhebliche Probleme stellt, eben weil sie ihr den Wirklichkeits-Pol nimmt. Das abstrakte Bild, so seine These, sei in einem bisher nicht gekannten Sinne «kommentarbedürftig». Der aus dem Bild vertriebene Gegenstand siedle sich neben dem Bild als Begleittext an. In der Tat kann der Betrachter eines abstrakten Bildes nicht mehr zwischen Darstellung und Dargestelltem hin- und hergehen, er nimmt daher seine Zuflucht zum Kommentar. Was er dort findet, lässt sich aber schwer auf die Formenwelt des Bildes beziehen, Aus der Kluft zwischen den im Bild selbst nicht mehr vermittelten Ebenen der Farben und Formen einerseits und des Diskurses andererseits resultiert dann beim Betrachter der Eindruck der Beliebigkeit des Kommentars, der gleichwohl von der Abwesenheit des Gegenstands im Bild herbeizitiert wird.


Antoni Tàpies
 
Bilder ohne eigene Bedeutung
 
Nicht nur die Kubisten, auch bedeutende Maler aus der Zeit des Informel haben diese Problematik gespürt und daraus die Konsequenz gezogen, den Bezug zur Welt des Gegenstands und damit des Begriffs niemals ganz aufzugeben. So hat Antoni Tàpies Gegenstände in den noch feuchten Malgrund gepresst und Buchstaben und Zeichen ins Bild gesetzt, um dadurch Anhaltspunkte für eine semantische Deutung seiner Arbeiten zu geben.
 
Auch gegenstandslose Kunst lässt sich deuten. Da aber die Deutung nur am Verfahren ansetzen kann und dieses, nachdem der Maler es einmal entwickelt hat, kaum mehr Veränderungen unterliegt, lässt sich der Gehalt des Einzelwerks nicht bestimmen. Denn es ist die Anwesenheit des Diskurses im Bild, sei es als Erzählung, sei es als Gegenstand, die es ermöglicht, dem Einzelbild eine kommunizierbare Bedeutung zuzusprechen. Zwar vermögen Marc Rothkos vor einem monochromen Hintergrund schwebende Rechtecke oder Graubners Farbkissen beim Betrachter eine starke, wenngleich unbestimmte Stimmung auszulösen, und sie können ihn auch in eine meditative Versenkung versetzen, dem einzelnen Bild aber kommt keine nur ihm eignende Bedeutung zu.

Rothko

Bedeutungsaufladung
 
Gibt es aus der strukturellen Bedeutungsarmut des gegenstandslosen Bildes einen andern Ausweg als den Kommentar, der das angesprochene Problem schon deshalb nicht zu lösen vermag, weil er nicht in das Bild integriert ist? Man kann Cy Twomblys Verfahren, den Graphismen, aus denen seine Bilder bestehen, den Bildtitel als flüchtig hingeworfenen, aber lesbaren Schriftzug hinzuzufügen, als Versuch auffassen, dadurch das einzelne Bild mit einem besonderen Bedeutungsgehalt aufzuladen. Freilich, der Betrachter, der den Schriftzug «VIRGIL» zum Anlass nimmt, um in dem Bild nach Verweisen auf den römischen Dichter zu suchen, wird enttäuscht. Offenbar vertraut der Künstler darauf, dass der am oberen Bildrand verstümmelt, in der Bildmitte aber deutlich identifizierbare Name des römischen Dichters Gedanken an dessen Werk oder sogar Vorstellungen von der Kultur des Augusteischen Zeitalters beim Betrachter evoziert. Aber welche Gedanken? Welche Vorstellungen?



Cy Twombly, Virgil


Roland Barthes glaubt in den Schriftzügen des Bildes eine Anspielung auf eine Zeit altmodischer, in Musse betriebener Studien herauslesen zu können, entdeckt eine Nähe des Malers zum Zen-Buddhismus und in seinen Bildern einen «Mittelmeer-Effekt». Dergleichen Deutungen gehen über den Status von Einfällen nicht hinaus. Sie mögen anregend wirken, lösen aber das Problem nicht, dass dem Verlangen nach einer spezifischen Bedeutung des Bildes hier nur eine ganz unbestimmte, aus subjektiven Assoziationen bestehende Erfüllung zuteil wird.
 
Um Missverständnisse zu vermeiden, sei betont, dass natürlich von dem Maler kein Panorama des Augusteischen Zeitalters erwartet wird. In Cy Twomblys «VIRGIL» fehlt aber ein wie immer auch reduziertes Zeichen, das dem Betrachter ermöglichen würde, das Bild sowohl aus seiner Form wie aus gegenständlichen Verweisen heraus zu deuten. Der kulturell überdeterminierte Name im fast leeren Bildraum treibt den Kommentar entweder in falsche Bestimmtheit oder in schlechte Allgemeinheit. Dass der Maler seinem Bild einen Namen einschreibt, der eine Erzählung verspricht, sich aber mit dem blossen Schriftzug begnügt, dürfte sich letztlich von der modernistischen Dogmatik herleiten, die den Gegenstand als ein der Malerei fremdes Element aus dem Bild verbannt.
 
Komplexe Beziehung
 
Welche Möglichkeiten die Integration von Schrift ins Bild für eine Malerei bietet, die sich nicht mehr den von der Moderne aufgerichteten Tabus unterwirft, lässt ein Blatt von Schwontkowski erkennen. Wie Cy Twombly integriert auch er Schriftzüge ins Bild, aber anders als bei dem Wahlitaliener treten sie bei ihm mit figürlichen und dinglichen Zeichen in eine komplexe Beziehung, die sogar die Darstellung des Nicht-Darstellbaren erlaubt.
 
Das Blatt «Reception» wird von einer schwarzen Umrisszeichnung beherrscht, die sich etwas oberhalb der Bildmitte befindet: einem leicht schräg nach oben schauenden Profil, das mit Nase und Stirnansatz eine herunterhängende Glühbirne berührt. Der wie die Inschrift unter einem Emblem wirkende Schriftzug «40 WATT» und die am linken Bildrand von oben nach unten zu lesende Buchstabenreihe «HÔTEL» bilden in ihrer banalen Alltäglichkeit einen verstörenden Kontrast zu dem Pathos des zurückgeneigten Kopfes. Aber während der Betrachter sich an das einfache Pariser Hotelzimmer erinnert, in dem er als Student gewohnt hat, entdeckt er die Goldspuren an den Buchstaben des Titels. 

Norbert Schwontkowski

Jetzt bemerkt er auch, dass der goldgelbe Grund des Blattes auf den Goldgrund gotischer Altartafeln anspielt. Und mit einem Mal wird ihm bewusst, dass der englische Titel nicht auf den Empfangstresen eines Hotels verweist, sondern auf den Empfang einer geistigen Botschaft. Die karge Hotel-Situation wäre dann nur der Ort, wo sich ein Geschehen anderer Ordnung ereignet. Das Blatt behauptet nicht, dass es in unserer geistfeindlichen Zeit noch spirituelle Erfahrungen gibt, aber es deutet die Möglichkeit an, dass wir uns erneut mit Hilfe von Bildern über unsere Welt verständigen.


Prof. Dr. Peter Bürger hat bis 1998 an der Universität Bremen Literaturwissenschaft und ästhetische Theorie gelehrt.

Vilhelm Hammershøi, Wohnzimmer

Nota. - Versuchen wir mal ganz vorsichtig, uns dem Thema zu nähern. Lassen Sie's mich so sagen: Ich glaube, man wird der künstlerischen Intention Cy Twomblys nicht gerecht, wenn man über seine Werke - und namentlich dieses - so viele Worte macht. Mit Norbert Schwontkowski mag das anders sein, viel habe ich von ihm noch nicht gefunden. Worte machen ist aber das Geschäft sowohl der Kunsthistoriker als auch der ästhetischen Theorie. 

Bleibt die Frage, ob es so viele sein müssen.

Im vorliegenden Fall: Der Text ist bloß scheinbar komplex, in Wahrheit aber nur vertrackt und umständlich. Das liegt an der Prämisse - die Sprache des Autors ist ganz verständlich. Und die Prämisse ist: Sache der Kunst wäre es (irgendwie), 'uns mit Hilfe von Bildern über unsere Welt zu verständigen'. Und es ist klar: Wo es um Verständigen geht, wird ohne diskursive Rede nichts zu machen sein. Und mit diskursiver Rede wird zum Zwecke der Verständigung am meisten zu erreichen sein, wenn sie sich an die Schärfe des Begriffes hält und auf Bilder ganz verzichtet. Zum Zweck der Verständigung haben wir die Wissenschaft. Wenn man Kunst überhaupt braucht - was diskutabel ist -, dann jedenfalls zur Verständigung nicht.

Wenn die Bilder aber zur Verständigung über die Welt dienen sollen, dann müssen sie, wie der Begriff in diskursiver Rede, eine identifizierbare Bedeutung haben, die man aus ihnen lesen kann, so als hätte sie einer hinein geschrieben. Ja, und so war es auch in der Kunst bis zur Renaissance, und auch seither hat die Kunst sich erst langsam und unter Wehen aus ihrer Befangenheit in den mondänen Bedeutungen gelöst. Ich habe zu zeigen versucht, wie es insbesondere die Landschafts-Malerei war, die es erlaubt hat, das ästhetische Moment der Kunst von seinen thematischen  Verstrickungen zu entbinden. Sie zu befreien aus dem engstirnigen Dogma, sie habe 'der Verständigung über die Welt' zu dienen!

Die Freisetzung des Ästhetischen aus den Zweckmäßigkeiten ist ein Gewinn und kein Verlust. Und unter diesem Gesichtspunkt hat die zeitweilige Aufgabe der Gegenstände in der Malerei des zwanzigsten Jahrhundert in der Tat zu einer Verarmung geführt - aber ganz anders, als Peter Bürger es sich erklärt. Sache der Kunst ist es nicht, an der Stelle der von Zwecken verödeten Welt eine andere, schönere zu erfinden: auch dazu sind die diskursiven Disziplinen besser geeignet; sondern neben und außer der sattsam bekannten Zweckmäßigkeit der Dinge ihren ästhetischen Schein zur Anschauung zu bringen. Dazu könnten wir sie brauchen in einer Welt, in der die Arbeit aufgehört haben wird, der Sinn des Lebens zu sein. Aber dienen dürfte sie auch und gerade dann nichts und niemandem.

J.E. 

William Turner, Brennendes Schiff auf hoher See

Kunst als die Praxis des Ästhetischen.


Zwar sei die Kunst die augenfälligste und vordringliche Erscheinungsweise des Ästhetischen - aber nicht seine Bestimmung, schrieb ich vor ein paar Tagen sinngemäß; es müsse erst etwas hinzukommen, damit sie ihre überragende Bedeutung für das Menschenleben gewinnt.

Hinzu kommen muss der Phänotyp des Künstlers. Dessen, der sich vom pflichtgemäß seinem verordneten Zweck dienenden Arbeiter dadurch unterscheidet, dass er seine Lebenspraxis ausdrücklich keinem ihm äußeren Zweck unterwirft und nur das tut, was durch sich selbst gerechtfertigt ist - und das ist eben das Ästhetische.

Das ist offenbar keine logische, sondern eine historische Bedingung, und eine zudem, die erst seit recht kurzer Zeit gegeben ist; eine, die ihre Epoche eo ipso als die Moderne auszeichnet.

Mitgegeben ist freilich die - historische - Bedingung, dass die Arbeit, nämlich ihre durch funktionale Teilung und industrielle Kooperation vervielfältigte Produktivität, eine Stufe errreicht hat, wo die dringendste Notdurft befriedigt ist und die Menschen, wie Fichte sagt, durch die sich einstellende Langeweile bemerken, dass sie einen Geist haben, der betätigt zu werden wünscht.

So wie teils aus Notdurft, teils aus Überfluss die Wissenschaft aus der materiellen Produktion herausgewachsen ist und sich als autoritative Instanz über die Alltagsgesellschaft erhoben hat, so als ihr Antipode und Komplement die Kunst.

Freitag, 30. August 2013

Kunst entzweit den Menschen.


Kunst entzweit den Menschen.
Schiller 
Kitsch lässt ihn ganz bei sich sein – und sich dabei gefallen.

Vor dem Beginn der Moderne in der Romantik gab es keinen Unterschied von Kunst und Kitsch. Es gab lediglich gelungene und weniger gelungene Werke; gelungen nach der aufgewandten Kunstfertigkeit und gelungen nach dem darin waltenden Geschmack. Der Geschmack mochte mehr oder weniger gebildet sein – doch allein danach ließ sich ein guter von einem schlechten Geschmack unterscheiden.

Erst als die Menschen, nämlich die modernen Menschen ihre Entzweiung mit sich als ihre aufgegebene Bestimmung zu erachten begannen, konnten die Werke nach aufreizenden und nach versöhnenden unterschieden werden.

Der mit sich entzweite Mensch ist der reflektierende Mensch – das mit freiem Willen begabte souveräne bürgerliche Subjekt, das sich einer ganzen Welt gegenüber gestellt sieht; ohne zu wissen, was es dort verloren hat. Wer immer von den Zumutungen einer entzweiten Existenz Entspannung sucht, wird zu den versöhnenden Werken der Künstler greifen. Wann immer einer daraus einen Habitus werden lässt, kommt ein Kitschmensch zur Welt.

Nicht zuviel Schönheit macht den Unterschied. Sondern es gibt eine Schönheit, bei der einem nur wohl ist; und eine Schönheit, die einen außer sich bringt, und das kann auch eine Dvorak-Symphonie und auch ein Sonnenuntergang.

Wo das Selbst sich gefällt, ist Kitsch, und wo das Andre überwältigt, ist Kunst.

 
PS. Schillers Unterscheidung zwischen anspannender und schmelzender Schönheit bedeutet etwas anderes; aber vielleicht nicht etwas ganz anderes?

Donnerstag, 29. August 2013

Diskursiv oder anschaulich.


Es gibt ‚Gehalte’ des Erlebens, die – jedenfalls innerhalb derselben Kultur – einem jeden bekannt sind und über die er darum mit jedem andern sprechen kann, sofern sie sich über deren Benennung einigen. Sofern sie sie also gemeinsam ‚bezeichnen’ können; ohne daß nur einer von ihnen imstande wäre, den exakten Ort anzugeben, den sie im beweglichen System („Sprachspiel“) all der andern ‚gültigen’ Namen einnehmen – weil sie anscheinend gar nicht darinnen liegen, sondern irgendwo an seiner Grenze. Das sind, mit einem altertümlichen Wort zu reden, Existenzialien, die dem je individuellen Leben gewissermaßen als vorausgesetzt begegnen („Urphänomene“, nach Goethe); wie z. B. Liebe, Leidenschaft, Freiheit, Sinn, Verzweiflung, Schuld, Schönheit, Glück, Ehre und Anstand. (Übrigens auch Komik und… Wissen.) Ein jeder für sich ‚weiß, was gemeint ist’; nur sobald er es einem andern erklären soll, dann geht es ihm wie Augustinus mit der Zeit: Er kann es nicht sagen. Und je kritischer der Geist, der im öffentlichen Diskurs waltet, umso mehr neigen die ‚existenziellen’ Begriffe dazu, aus dem aktiven Wortschatz ganz zu schwinden. 

Daß sie sich seit drei Jahrtausenden – seit das Definieren begonnen hat – der Definition widersetzen, zeigt an, daß sie zur Exposition in diskursiver Wissenschaft nicht taugen. Sie können allenfalls in Bildern gezeigt und in Mythen erzählt werden, denn sie sind uns nie positiv gegeben, sondern immer als Problem. Wir ‚haben’ sie nicht, sondern wir ‚meinen’ sie nur. Das ist dann auch eine Form von Wissen (oder ‚Gewärtigkeit’), aber eben nicht Wissenschaft, sondern Kunst. Die Kunst „erscheint, als hätte sie gelöst, was am Dasein Rätsel ist“, steht bei Th. Adorno. Sie ist nicht das Leben, und sie ‚dient’ ihm auch nicht wie die Wissenschaften. Sondern sie stellt es dar – als sein Anderes, an dem es ‚sich selbst erkennt’. Ob nämlich ihre Verheißung nur eine Täuschung ist, sei selber ein Rätsel, fügte Adorno hinzu. Sie ist eine Lüge, nach Picasso, an der die Wahrheit deutlich wird. Das immerhin hat die Kunst mit der Wissenschaft gemein: daß sie das Andere des Lebens ist. „Wissenschaft ist Kunst, aber Kunst ist nicht Wissenschaft“, fand der ungarische Musiker Sándor Végh. Und wenn das Leben ‚bestimmt’ werden sollte (was es aber nicht nötig hat), so wäre es nur zu bestimmen als das Andere dieses Anderen. 

Bislang: Das Leben ist Arbeit [s. 4., Schluß]: bestimmt als Bestimmen. Aneignung der Welt, Ökonomie, Begreifen. Ist nun die Arbeitsgesellschaft am Ende? Je weniger ‚bestimmt’ die Welt nun ist, umso weniger erscheint der irreduzible Rest als unbestimmt! Umso weniger rätselhaft erscheint die Welt – nämlich was „an ihrer Grenze liegt“. Weniger rätselhaft – weniger ‚ästhetisch’? Ein Zeitalter der Neuen Anästhetik? (Schwätzer W. Welsch) 

Oder auch: Was dem „System“ zu Grunde liegt, kommt im System nicht vor. Von „darinnen“ kann man sich seiner nur so eben noch „erinnern“ (anámnesis), eigentlich: eräußern. Und zwar nicht so, als ob es einmal ‚da’ gewesen wäre und dann verloren ging, sondern wie wenn es wohl präsent, aber doch nicht gegeben ist. „Es“ hat dich mehr, als du „es“ hast; méthexis. Es ist das, worauf alles Andere deutet; sozusagen „die Bedeutung selbst“, vulgo Sinn des Lebens – worum es nämlich „allem Wissen zu tun ist“, welcher Modalität es auch sei. Da es den Begriffen zu Grunde liegt, kann es unter dieselben nicht gefaßt werden. Man kann es nur in Bildern „sehen lassen“ oder Geschichten davon erzählen. Das ist auch ein ‚Wissen von…’, aber ein anschauliches. 

Daß der Alltag, alias Werktag und materieller Verkehr der Menschen, in der „postindustriellen“ („Medien“-) Gesellschaft „remythisiert“, also neu „verzaubert“ würde – glaubt das jemand im Ernst? Nein, der Alltag schrumpft, nimmt weniger Platz ein im Leben, er wird weniger. Und mit ihm schrumpft die Erwachsenheit der Menschen. Wogegen der Sinn des Lebens bedeutender wird, nämlich unmittelbarer bedeutend. Das tägliche Leben wird unalltäglicher. Nicht, daß die Figuren, in denen vom Sinn des Lebens erzählt wird, unästhetischer würden. Nur wird ihre anschauliche Gegebenheitsweise nicht mehr in aggressivem Gegensatz stehen zum diskursiven Verstand; weil der jetzt weiß, wo er hin gehört und wohin nicht.

[Pädagogik ist Kunst und nicht Wissenschaft. Sie ist eine ästhetische Praxis und wo sie glückt, rechtfertigt sie sich aktual - hier und jetzt und anschaulich. Dabei ist sie nicht „das Leben“. Denn das, was sie in ihren Bildern zeigt und in ihren Mythen erzählt, ist nicht das Leben selbst, sondern - sein Anderes; ein Rätsel, an dem es kenntlich wird. Dies Rätsel hat die Pädagogik den Menschen zu vergewärtigen, solange sie in dem Alter sind, wo sie dafür noch Muße haben und das Rätsel noch lockt. Denn hinterher ist es zu spät.] 

Der Grund des Lebens ist problematisch: eine (unendliche) Aufgabe – nämlich eine, die sich dadurch „auszeichnet“, daß sie nie gelöst ist; „bestimmbar“ nur als Rätsel. – Geführt werden kann das Leben immer nur „so, als ob“ das Rätsel allbereits gelöst sei. Von diesem Als-ob gibt die Kunst uns ein Bild: „Schönheit“. Die moderne Kunst, als ‚die zu ihrer Bestimmung gelangte’, zeigt zugleich, daß ihre Lösungen Schein sind. Je positiver das Zeitalter, umso problematischer („subversiv“, „kritisch“) seine Kunst: 19. Jahrhundert! Mit der Romantik kommt „das Schöne“ in Verruf – als etwas, das die Kunst zu entlarven habe. – Am Ende des 20. Jahrhunderts scheint – mit der „Postmoderne“ – die Kunst diesen ihren positiven Widerpart verloren zu haben: Weder „Das Rätsel ist gelöst“, noch wird die „schöne“ Lösung denunziert; sondern: J'm'en fous, anything goes! Es gibt gar keine Rätsel für die, denen eh’ alles wurscht ist. – Daß nicht alles wurscht ist, kann mittlerweile nur die Kunst zeigen. Oder auch, das Leben läßt sich nur ästhetisch rechtfertigen.


Mittwoch, 28. August 2013

Das Motiv in Fotografie und Malerei.

Alex McLean

In den Jahren 2007-2008 habe ich mich, obwohl ich selber nicht fotografiere, an den Bild-Diskussionen der FotoCommunity* beteiligt; einer Plattform, wo (einige) Berufsfotografen und (viele) Amateure ihre Aufnahmen öffentlich ausstellen können. Die FC hat verschiedene ‘Kanäle’, unter anderm einen für Landschaftsfotos. Während meiner Beschäftigung mit der Bedeutung der Landschaftsmalerei für die Freisetzung ‘des Ästhetischen’ im Welt- und Lebensverständnis der Moderne stieß ich auf die Frage, ob sich die Gesichtspunkte, die ich in der Geschichte der Landschaftsmalerei herausgefunden hatte, ebenso in der Landschaftsfotografie bewähren würden; also die Frage, was davon spezifisch zur Landschaft, und was spezifisch zur Malerei gehört.
 
Hier ein Auszug aus einem Brief:

Inge Rambow 
7. 9. 07 
…Ich suche auf Bildern nicht nach einer Aussage.
 
Ich muß vorweg sagen: Ich bin an die FC durch ein eigentümliches, fast ‘theoretisches’ Erkenntnisinteresse geraten. Ich suche dort im Gegenteil nach Bildern, die ‘gar nichts aussagen’. Oder anders gesagt, ich suche nach dem rein-Ästhetischen an den Bildern. Darunter verstehe ich Dasjenige, was vom Bild sichtbar bleibt, wenn man von allen möglichen Bedeutungen außerhalb des Bildrahmens abgesehen hat; also von Allem, was sich irgendwie aufs ‘wirkliche Leben’ bezieht – und aus diesem Grund irgendwie meine Vor- oder Nachteile betrifft. Also Das, was nicht ‘interessiert’, sondern ‘bloß erscheint’. Nach Kant (das ist mein Fach, den darf ich nicht nur, den muß ich zitieren) ist “das Schöne” (=der damals übliche Name für das ästhetisch-Erhebliche) dasjenige, das ‘so erscheint, als ob’ es seinem Zweck restlos entspricht, ohne offenbar aber einen Zweck überhaupt zu haben! ‘Zweckmäßigkeit ohne Zweck’ oder, schlichter gesagt, das, was als Zweck seiner selbst erscheint, das ist das ästhetisch Gerechtfertigte, das rein-Ästhetische. 

Olaf Otto Becker 

Dabei handelt es sich im Grunde nur um eine ‘Idee’, denn streng genommen ‘gibt es’ das rein-Ästhetische natürlich nicht. Schon die Farben selbst haben (von irgendwelchen hirnphysiologischen Vorgängen ganz abgesehen) immer irgendeine ‘lebensweltliche Bedeutung’. Weiß ‘bedeutet’ zum Beispiel für einen Eskimo sicher etwas anderes als für einen Amazonasindianer, so wie umgekehrt grün. Nun, und erst Rot oder Blau oder Gold! Von Schwarz nicht zu reden. Ebenso macht es einen Unterschied, ob regelmäßige geometrische (‘Kunst’-) oder unregelmäßige (‘Natur’-) Formen verwendet werden. – Das Ästhetische ist also besten falls relativ ‘rein’ und nicht absolut. Dieses relativ Reine aber kann man ‘finden’, wenn man es darauf ‘abgesehen hat’! 

Beate Güldner

Mit der “Gemäldegalerie” in meinem Fotohome versuche ich darzustellen, wie die (unbewußte) ‘Suche nach dem rein-Ästhetischen’ die Bildende Kunst – das war damals hauptsächlich die Malerei – auf den Weg der Abstraktion geführt hat: das bloße Verhältnis von Flächen, Farben, Linien und Hell-Dunkel-Werten. Wobei man immer im Kopf behalten muß: Auch ein “rein abstraktes” Bild kann ‘wild’ oder ‘harmonisch’ , ‘heiter’ oder ‘düster’ wirken – und hat also immer noch einen ‘Bezug zum wirklichen Leben’ und seinen Interessen. Wie gesagt: Das rein-Ästhetische ‘gibt es’ am Ende doch nicht. Deshalb hat sich die Abstrakte Malerei schließlich als Sackgasse erwiesen (die allerdings erst gegangen werden mußte, um sich erweisen zu können; und was damals entstanden ist, war Kunst, während es bloß dekorativ wäre, wenn es heute entstünde. XY aus der FC, der als Fotograf auf meiner Buddy-Liste steht, malt solche Bilder, aber ich trau mich nicht, ihm was dazu zu sagen.) 

Nelly Nolte

Ja, soviel zur Malerei. Aber in der FC geht’s ja gerade nicht um Gemälde, sondern um Fotos, und mir ist klar, daß meine Sehweise dort nur am Rande eine Rolle spielen darf. Das Fotografieren ist entweder – für ganz viele – ein ‘Hobby’ oder – für einige – ein Broterwerb; und wenn einer sie im Stillen für (s)eine Kunst hält, traut er’s sich nicht zu sagen. Und sie ist es auch wirklich nur (würde ich sagen) im äußersten Fall. Nämlich in einigen, nicht sehr häufigen Glücksfällen, sofern man es nicht darauf anlegt. (Denn wenn einer mit der Kamera ‘Kunst’ machen will, kommt fast immer nur Kitsch oder Manierismus oder manierierter Kitsch zustande; dafür findet man in der FC reichlich Beispiele.) 


Antja Wagler

Das Foto hängt in ganz anderer Weise als das Gemälde am Gegenstand. Der Maler sitzt vor einer kahlen Fläche, und alles, was am Ende zu sehen sein soll, muß er selber dazutun; was er nicht haben will, läßt er einfach weg. Der Fotograf hat sein ‘Motiv’. Er hat es selbst gewählt, wohl wahr. Aber er hat es nun mal, ‘wie es ist’. Will er was daran ändern, muß er was draufsatteln, sei’s vorab durch die Kameraeinstellung, sei’s danach mit Photoshop. Wenn er dann sein Motiv so verändert, daß man’s nicht wiedererkennt, darf man ruhig fragen: Wieso hat er’s dann gewählt? Soll er’s doch wegwerfen und sich ein andres wählen! 

Will sagen: Durch die bildnerische Technik, die er gewählt hat – die Fotografie eben – hat der Fotograf sich darauf eingelassen, aus Dingen, die da sind, dasjenige herauszuholen, was ihm bedeutend erscheint; bedeutend genug, um es gegebenenfalls mit den Möglichkeiten der modernen Technik so hervorzuheben, wie es auf ‘natürliche’ Weise nicht möglich wäre. (Wenn er stattdessen was ganz anderes zeigen will, soll er zu Pinsel und Farbe greifen.) 

Jörg Bierwirth

Aber da liegt ein Haken: Für den Maler (nämlich wenn er ein Künstler sein will) ist es klar, daß sein Gemälde Kunst sein soll. Und da erwartet man heute (zu recht), daß nur das Ästhetische ihm ‘bedeutend’ genug ist, um es auf die kahle Fläche aufzutragen. Ist es die Sensation, das Dekorative, die Anekdote, ein Witz, die ihm ‘bedeutend’ sind, so wird man von Gebrauchskunst oder Kunsthandwerk reden. Dem Fotografen muß dagegen klar bleiben, daß sein Foto einen Gegenstand darstellt. Und dafür gibt es eine ganze Reihe von Legitimationen, wovon die Kunst die allerletzte ist, nämlich im glücklichen Ausnahmefall. Die Fotografie ist auch als Reklame gerechtfertigt, als Illustration, als entlarvende Kritik (an der Zeit, an der Kultur), als Reportage und bestimmt noch einiges andere, aber vor allen Dingen eben auch hier: als Hobby, zur Erinnerung, als Kuriosum. Und aus allen diesen Motiven heraus kann man seine Fotos in der FC veröffentlichen. Das ist mir mit meinem Blickwinkel klar und ich bemühe mich bei meinen Kommentaren (meistens) um Takt. Aber veröffentlichen heißt: an die ÖFFENTLICHKEIT bringen. Und da lauere auch ich mit meinem Blickwinkel, damit muß man rechnen. Daß einige beleidigt waren, das nehme ich mit philosophischer Gelassenheit. 

Matthias Jakob


*) Die FC hat seither nachgelassen. Aber ein paar gute Bilder finden sich immer wieder.




Dienstag, 27. August 2013

Schwebende Realität.



Frei sein ist die Tendenz des Ich – das Vermögen, frei zu sein, ist die produktive Imagination – Harmonie ist die Bedingung ihrer Tätigkeit – des Schwebens zwischen Entgegengesetzten. Sei einig mit dir selbst ist also Bedingungsgrundsatz des obersten Zwecks: zu sein, aber frei zu sein. Alles Sein, Sein überhaupt ist nichts als Freisein – Schweben zwischen den Extremen, die notwendig zu vereinen und notwendig zu trennen sind. Aus diesem Lichtpunkt des Schwebens strömt alle Realität aus – in ihm ist alles enthalten – Objekt und Subjekt sind durch ihn, nicht er durch sie.
 
Ichheit oder produktive Imaginationskraft, das Schweben bestimmt, produziert die Extreme, das wozwischen geschwebt wird. Dieses ist eine Täuschung, aber nur im Gebiete des gemeinen Verstandes. Sonst ist es etwas durchaus Reales; denn das Schweben, seine Ursache, ist der Quell, die Mater aller Realität, die Realität selbst.

aus: Novalis, “Fichte-Studien”; in: Gesammelte Werke, Herrliberg-Zürich 1945, Bd. 2; S. 170

Montag, 26. August 2013

Die Entstehung der Landschaftsmalerei aus dem Geist des Nominalismus.

le Mont Ventoux
aus Neue Zürcher Zeitung 24. 6. 06

Der Blick auf die Welt
Francesco Petrarca und Jan van Eyck – die Entstehung der Landschaftsmalerei aus dem Geist des Nominalismus 

Von Karlheinz Stierle

Das Erscheinen der Landschaft in der Malerei des 15. Jahrhunderts markiert eine Schwelle, die sich weder als Bruch mit dem sogenannten Mittelalter noch als Rückkehr zur Antike zureichend erfassen lässt. Die Landschaft als Ausdruck einer neuen Weltzuwendung beruht auf «mittelalterlichen» Voraussetzungen, die die neuen Landschaftsbilder überschreiten, ohne die sie aber auch nicht möglich geworden wären.

In seinem vielbeachteten Essay «Landschaft» (1974) hat Joachim Ritter versucht, das Wesen der neuzeitlichen Landschaftserfahrung auf den Begriff zu bringen. Der zentrale Satz dieser gedankenreichen Bemühung um das Wesen der modernen Landschaftsauffassung lautet: «Natur als Landschaft ist Frucht und Erzeugnis des theoretischen Geistes.» Darin verknüpfen sich zwei Thesen, die sich wechselseitig erläutern: 1. Landschaft ist eine Erscheinungsweise von Natur im Gegensatz zu Kultur. 2. Natur ist als Landschaft nicht einfach gegeben, sie ist ein Produkt, und zwar «des theoretischen Geistes».

Einsatzpunkt von Ritters Überlegungen ist der berühmte Brief an den Pariser Theologen Dionigi di Borgo San Sepolcro am Anfang des 4. Buchs der «Familiares». Petrarca berichtet von der Besteigung des Mont Ventoux, die er am 26. April 1335 gemeinsam mit seinem Bruder unternommen habe. Für Ritter steht Petrarca, auf dem Hochplateau des Berges angekommen und das faszinierende Schauspiel («spectaculum») der sich bis zu den fernen Horizonten reichenden Landschaft wahrnehmend, in der Tradition der griechischen theoria als einer «anschauenden Betrachtung». Petrarca, wie Ritter ihn sieht, «ersteigt, alle praktischen Zwecke hinter sich lassend, den Berg, um auf dem Gipfel, getrieben allein von dem Verlangen zu schauen, in freier Betrachtung und Theorie an der ganzen Natur und an Gott teilzuhaben».
Andrea del Castagno: Petrarca
Die epochale Bedeutung dieses Augenblicks und dieses Akts läge dann darin, dass Petrarca auf der Höhe des Ventoux erstmals Natur als Landschaft erfahren hätte und diese hier erstmals dem theoretischen Geist entgegengetreten wäre. Die Antike machte die Erfahrung der Natur, nicht aber der Landschaft. Deren wahre Stunde scheint Ritter erst gekommen, als die Naturwissenschaft sich der Natur bemächtigt und diese Unterwerfung die Möglichkeit einer interesselosen Naturbetrachtung freisetzt, die sich jetzt als Betrachtung der Landschaft konkretisiert.

Petrarca hat zweifellos am frühesten die Erfahrung von so etwas wie Landschaft gemacht und vielfältig dargestellt. Er markiert damit den Beginn einer Erfahrung, die in der Malerei des 15. Jahrhunderts zu einer triumphal ins Bild gesetzten neuen Erschlossenheit der Welt wird. Aber was sind die gedanklichen Voraussetzungen dafür, dass überhaupt Welt zur Landschaft werden kann? Was musste geschehen, dass Landschaft in den Horizont der Sichtbarkeit trat und diese Sichtbarkeit im Medium der Sichtbarkeit, der Malerei, zu ihrer Darstellung kommen konnte?

FÜLLE UND VIELFALT DES EINZELNEN

Die Panoramalandschaft, auf die von der Höhe des Mont Ventoux Petrarcas Blick fällt, ist nicht, wie Ritter meint, einfach Natur, sondern ein unendliches Zusammenspiel von Natur und menschlicher Kultur. Für Ritter sucht Petrarca bei seiner Betrachtung der Welt Teilhabe «an der ganzen Natur und an Gott». Dies ist Petrarcas Text nicht zu entnehmen. Im Gegenteil, statt des grossen, oben und unten, sinnliche und göttliche Welt umfassenden Ganzen eines der theoretischen Betrachtung sich offenbarenden Kosmos sieht Petrarca vor allem die unendliche Fülle des Einzelnen. Das Eine, zu dem Augustinus ihn im imaginären Zwiegespräch des «Secretum» führen möchte, zerfällt ihm in unabsehbare Vielfalt.

Es scheint, als gebe es eine noch immer nicht zureichend erschlossene Affinität zwischen Petrarca und der von Paris ausgehenden neuen philosophischen Bewegung des Nominalismus, die in Wilhelm von Ockhams philosophischer Legitimierung des Einzelnen und Besonderen ihren eigentlichen Zielpunkt hat. Petrarca, der sich lebhaft für die neuesten Entwicklungen der Pariser Philosophie und Theologie interessierte, hatte wohl keine Mühe, sich mit der neuesten Schulrichtung der Pariser Philosophie vertraut zu machen.

Das Wirkliche ist das Einzelne: «Omnis res extra animam est realiter singularis et una numero.» ( Jedes Ding ausserhalb der Seele ist in Wirklichkeit einzeln und eins an der Zahl.) Der Satz aus Ockhams «Liber sententiarum» ist symptomatisch für eine neue Sicht der Welt. Während aber die sich immer noch in scholastischen Bahnen bewegende Philosophie des Nominalismus die Erfahrung des Einzelnen allgemein postuliert, ist die Signatur von Petrarcas vielgestaltigem Werk die Erfahrung des Einzelnen in seiner unabsehbaren Vielfalt. Petrarcas Welt ist nicht ein wohlgeordneter Kosmos, sondern ein Meer der Kontingenz.

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EINZELDINGE IM WIDERSTREIT

Davon legt ein Werk das beredteste Zeugnis ab, das Petrarcas frühester europäischer Erfolg war und das heute so gut wie vergessen ist, sein «De remediis utriusque fortunae» (Über die Heilmittel gegen Fortuna in beiderlei Gestalt). Insbesondere die Einleitung des zweiten Teils, die unter dem heraklitischen Motto «Omnia secundum litem fiunt» (Alles ist im Kampf) steht, ist die grandiose Evokation eines Schauplatzes, auf dem alle Einzeldinge in unablässigem Widerstreit begriffen sind. Die 1532 in Augsburg erschienene deutsche Übersetzung fasst die Essenz von Petrarcas Betrachtung des Kampfs aller Dinge gegeneinander zusammen unter dem Diktum:

Alls was auff Erden schwebt und lebt, Je eins dem andern widerstrebt.

Unüberhörbar ist in dem «je eins» die zentrale Erfahrung der Singularität vernehmbar, die Ockhams Nominalismus zur philosophischen Zentralkategorie gemacht hatte und die bei Petrarca in einem neuen Diskurs der Singularität und Pluralität ihre Sprache findet. Die Freisetzung des Singulären entkleidet die Welt ihrer Bindung an das Exemplarische, in dem Einzelnes und Allgemeines sich durchdringen, aber auch einer vertikalen Seinsordnung, die sich von den niedersten Seinsregionen stufenförmig bis zu der erhabensten Sphäre des dreieinigen Gottes erhebt. Die Priorität des Besonderen vor dem Allgemeinen gibt Ersterem das Faszinosum der bestürzenden Neuheit, aber auch das Bedrängende einer unabsehbar gewordenen Präsenz des Vielfältigen. 

Diese radikal neue, durch keine theoria mehr in Schranken gehaltene Erfahrung scheint der Hintergrund zu sein, auf dem erst die Petrarcasche Entdeckung der Landschaft, wie sie im Ventoux-Brief zur Darstellung kommt, ihren akuten Sinn erhält. Was Petrarca jenseits aller Planung und Erwartung von der Höhe des Mont Ventoux erblickt, ist nicht Natur, schon gar nicht eine kosmische Ordnung, sondern Vielheit des Einzelnen, in die Schwebe gebracht als ein sich bis zum fernen Horizont erstreckender Teppich – und zwar vermöge des Blicks, der subjektiv das Einzelne aus seiner Vereinzelung zu einer Kohärenz neuer Art erlöst. Das Unge-heuerliche dieser neuen Erfahrung lässt Petrarca zur stärksten Formulierung greifen: «obstupui» (ich staunte).
staunen

ÄSTHETISCHE ERFAHRUNG

Petrarcas Blick auf die Welt ist rein innerweltlich, während er die Erfahrung des Überwirklichen, ganz Augustinus folgend, in die Innerlichkeit oder Ausserweltlichkeit des Gedächtnisses verlegt. Petrarcas Erfahrung der Landschaft geht aber in der blossen Wahrnehmung von Innerweltlichkeit nicht auf. Die Verknüpfung des Einzelnen in der Wahrnehmung verdankt sich nicht mehr der Faktizität, sondern der weltverwandelnden Kraft des subjektiven Blicks. Landschaft ist nie sie selbst, sie ersteht erst in ihrem Wahrgenommensein. Erst der Blick setzt Nähe und Ferne, aber auch den Ausschnitt der Wahrnehmung. In ihm vereinigen sich die Daten des vielfältig Einzelnen zu einer Totalität zweiter Ordnung, die der Macht des welterschliessenden Blicks entspringt.

Nur so, in der je einzelnen Blicknahme, kann aber auch die zur Anblickhaftigkeit zusammentretende Landschaft ein Maximum ihrer Selbstbezüglichkeit erreichen und eine innere Pluralität, ja Polyphonie gewinnen, die die Landschaft erst zu einer ästhetischen Erfahrung macht. Nicht zufällig steht die Wahrnehmung landschaftlicher Polyphonie mit der Erfindung polyphoner Musik in einem epochalen Zusammenhang. 

Landschaft im modernen Sinn, wie sie in Petrarcas Ventoux-Brief erstmals in Erscheinung tritt, setzt die Entbindung der Landschaftselemente aus ihrem funktionalen Zusammenhang und damit die Entdeckung der Landschaft als Erscheinung der Vielfalt der Welt voraus. Es ist die zusammenhangsetzende, raumkonstituierende Macht des Blicks vom erhabenen Standort, die dem Erblickten eine Selbstbezüglichkeit neuer Art verleiht. Was geschieht, wenn die Erfahrung des freigesetzten Vielfältigen Bild wird, lässt sich bei dem Maler erkennen, der die Möglichkeiten der Bildwerdung der Landschaft am tiefsinnigsten durchdacht und am kunstreichsten ins Werk gesetzt hat und ohne den die Entwicklung der Landschaftsmalerei im 15. Jahrhundert nicht denkbar wäre, Jan van Eyck.

An Jan van Eycks wohl schon vor 1420 entstandener Miniatur der Taufe Christi durch Johannes den Täufer im Turin-Mailänder Stundenbuch (Turin, Museo civico) und seinem etwa 1430 gemalten Bildnis des Kanzlers Rolin (Louvre) wird die neue Landschaftskonzeption besonders deutlich. Die Darstellung der Taufe Christi, eine Bas-de-page-Miniatur von kleinstem Format zur Miniatur der Geburt Johannes des Täufers, ist für den heutigen Betrachter in ihrer landschaftlichen Tiefenwirkung und ihren im Wasser sich spiegelnden, fein abgestuften Lichteffekten von erstaunlicher Modernität.

 van Eyck, Taufe Christi, Turin-Mailänder Studenbuch


MODELL-MINIATUR
  
Die Sonne, die als weisse Taube ihre Strahlen auf die Gruppe des Täufers und des im Wasser stehenden Christus richtet, ist zugleich die wirkliche Sonne, deren Licht mit seinen Schatten und Wasserspiegelungen über der ganzen Landschaft liegt. Die Landschaft setzt sich von ihrem Sinnzentrum, der Taufe Christi, frei und gewinnt in Tiefe und Breite ein Eigenleben als Vergegenständlichung eines einheitstiftenden Blicks, der das in mikroskopisch kleinen Einzelheiten sich manifestierende Vielfältige der Landschaft in die Schwebe bringt und das Sinnzentrum wie ein akzidentielles Geschehen inmitten einer dyna-misch bewegten Welt erscheinen lässt. So steht diese Landschaftsminiatur oder Miniaturland-schaft in der unauflösbaren Spannung zwischen einer offenen Landschaft als Schauplatz des Einbruchs des Überwirklichen in die Welt des unendlich Vielfältigen und der Bindung des Vielfältigen an eine Ordnung, deren Evidenz nur noch eine ferne Erinnerung zu sein scheint.

Jan van Eycks Modell einer neuen Landschaftskonzeption aus dem Geist des Nominalismus findet ihre grandiose Einlösung mit dem Bild des Kanzlers Rolin, dem in der intensiven Bibelmeditation die Erscheinung der Gottesmutter mit dem Jesuskind zuteil wird. Auch hier ist, durch eine geniale Bilderfindung, die Epoche machen sollte, das religiöse Sinnzentrum zugleich gesetzt und ausser Kraft gesetzt. Denn wenn der Betrachter sich von dem betenden Kanzler im Vordergrund und der ihm erscheinenden königlichen Gottesmutter mit dem Jesuskind löst, so fällt sein Blick durch drei von zwei freistehenden Säulen abgeteilte Säulen-bogen auf eine weit offene Landschaft, deren ferner Horizont von der im hellsten Licht liegenden Alpenkette gebildet wird. Im mittleren Bogen erscheint ein breiter, von fern her-kommender Fluss, über den eine Brücke führt; sie verbindet eine reiche gotische Stadt mit einem bescheidenen Dorf oder einer Vorstadt auf der anderen Seite.
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Hat der Betrachter sich einmal diesem Blick überlassen, wird er wie von einem Sog erfasst, hinausgezogen in eine offne Landschaft, in der er sich in einer unübersehbaren Fülle der Einzelheiten verlieren kann. Er kann sich aus diesen lösen und das Ganze der Landschaft erfassen, doch muss er sich wiederum auch von dieser lösen, wenn er im Blick des betenden Kanzlers die Gottesmutter erblicken will. So macht der Betrachter die Erfahrung inkompatibler Blickrichtungen und mit ihnen des inkompatiblen Verhältnisses von Hinwendung zur religiösen Innerlichkeit und Erfahrung der Erschlossenheit der Welt.

CHRISTUS AUF GOLGATHA

Kaum Zweifel dürfte darüber bestehen, dass Jan van Eyck die Bilddarstellung des gekreuzigten Christus auf Golgatha inmitten einer Landschaft erfunden hat, die sich zur Weltlandschaft weitet. Obwohl das van Eycksche Original verloren zu sein scheint, spricht eine ganze Familie von Bildern des Kruzifixus mit Blick auf eine weite Landschaft eindeutig die Bildsprache van Eycks. Kreuz und Kreuzestod stehen gegen die Indifferenz der Welt in ihrer Vereinzelung, die als Einheit der Landschaft sich allein dem Betrachter darbietet. Er löst sich aus dem Anblick der Vielfalt und vermag dennoch nicht mehr den Kreuzestod als alleiniges Sinnzentrum zu erfahren.

Die in Vereinzelung zerfallende Welt, die der Blick in die Schwebe eines allein noch durch den Blick selbst garantierten Ganzen bringt, wurde von Petrarca erstmals aus der Abstraktheit eines scholastisch-nominalistischen Theorems in die Sphäre sinnlicher Anschaubarkeit gehoben. Aber es ist Jan van Eyck, der als Erster die Erschlossenheit der Welt als Landschaft zur Erfahrung des denkenden Auges gemacht und damit der Malerei des 15. Jahrhunderts ein unerschöpfliches Thema gegeben und aufgegeben hat. Gegenstand dieser neuen Malerei ist die Welt, nicht die Natur. In der Geschichte der Wahrnehmung und ihrer ästhetischen Steigerung ist damit ein Kapitel aufgeschlagen, das über antike theoria weit hinausführt und einen ästhetischen Spielraum eröffnet, dessen Möglichkeiten sich bis heute nicht erschöpft haben.
 Jan van Eyck, Kreuzigung
Karlheinz Stierle besetzte bis zu seiner Emeritierung den Lehrstuhl für Romanische Literaturen an der Universität Konstanz. Zu seinen letzten Publikationen gehört «Francesco Petrarca. Ein Intellektueller im Europa des 14. Jahrhunderts» (2003).

about "Landschaft"...

Carl Rottmann, Griechische Grabstätte
Über die Entbindung des Ästhetischen aus seinen sachlich-thematischen Zusammenhängen
durch die Landschaftsmalerei;
von der Renaissance bis zur Klassischen Moderne.
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Was ich hier versuche, ist keine Kunstgeschichte; ist nicht einmal einfach eine Geschichte der Landschaftskunst, sondern eine – wie man früher sagte – pragmatische Geschichte der Landschaftsmalerei: eine, die ‘zeigen soll’, dass, wie und warum gerade die Landschaft das Sujet war, an dem und durch das sich eine ‘rein-ästhetische’ Kunst aus der kultisch-repräsentativen Bildnerei des Mittelalters herausarbeiten konnte; dass die Landschaft, kurz gesagt, derjenige Gegenstand  war, der sich am ehesten zur Abstraktion eignete; aber eben nicht zur Abstraktion vom Gegenstand, sondern zur Abstraktion von der Gegenständlichkeit des Gegenstands – und das ist nicht dasselbe.
Jochen Ebmeier, den 7. 4. 09
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Sonntag, 25. August 2013

Francesco Guardi, 1712-1793. Eine Abbitte.


Ich habe ein schlechtes Gewissen. Nicht nur habe ich einem Meister die gebührende Achtung versagt. Ich habe ihn sogar an der Stelle übersehen, wo er zwingend hingehört hätte, in dem Abschnitt über Engländer und Italiener.

Nicht zu reden von den Einträgen über William Turner.

Guardi gehört der Generation unmittelbar vor Turner an, er malt noch ganz aus dem Geist des Rokkoko. Aber es ist nicht mehr der Geist der Schäferidylle, sondern schon das Vergnügen am Schaurigen, aus dem die Romantik sich nährte. Über den älteren, dann den jüngeren Canaletto führt über Guardi eine direkte Spur zu Turner. Denn dass jener bei seinen vielen Venedigaufenthalten dessen Kunst nicht kennen gelernt hätte, ist kaum vorzustellen.

30. 5. 2010


aus Neue Zürcher Zeitung, 2. 12. 2010:

von Marion Löhndorf

... Der Figurenmaler Francesco Guardi (1712 bis 1793) fand erst spät, um 1758, zur Vedutenmalerei. Sein eindrucksvolles Werk – das unter genauer Kenntnis desjenigen Canalettos entstand, ohne ihn stilistisch je zu kopieren – markiert ein letztes glanzvolles Schlusskapitel der Blütezeit des Genres: Der Markt der kaufkräftigen aristokratischen Touristen war bereits weitgehend erschöpft, als Guardi den Höhepunkt seines Schaffens erreichte. Guardi war nicht wie Canaletto an Präzision interessiert und an dessen majestätisch-klarer, optimistischer Sicht einer Welt von unerschütterlicher Eleganz, einer Welt, die in Ordnung ist. Guardis Venedig-Ansichten zeichnen sich weniger durch Akkuratesse als durch atmosphärische Dichte aus. Sein nervöser Pinselstrich, der seine Gebäude leicht erzittern zu lassen scheint, weist schon voraus auf die romantische Sensibilität des 19. Jahrhunderts. Guardis Werke erinnern an Rilke und Thomas Mann, die in der Stadt eine theatralische, fast unwirkliche Traumkulisse sahen. Canalettos Venedig als in gleissendes Licht getauchte Stätte der Perfektion und Schönheit war bei Guardi schon zum Ort der Vergänglichkeit geworden.