Montag, 21. Dezember 2015

Der Holbein-Streit und der Anfang der Kunstgeschichte.

Selbstbildnis, um 1542
aus trajectoires

Faitiches der Kunstgeschichte

Ein deutsch-französischer Dialog über wiederkehrende Bildphänomene und andere Phantome
von Lena Bader


Ein Paradigma der Wissenschaftsgeschichte 
Kunstgeschichte in Bildern 
Kunstgeschichte der Reproduktion 
Nachbilder und andere Phantome
Das Geheimnis der Wahrheit 
ist folgendes: Es gibt keine 
Tatsachen, es gibt nur Geschichten. 
João Ubaldo Ribeiro, Brasilien Brasilien, 2013
Ein Paradigma der Wissenschaftsgeschichte

1 Als eigenständige akademische Disziplin etabliert sich die Kunstgeschichte erstmals im deutschsprachigen Raum. Ihre Geschichte beginnt mit dem sogenannten Holbein-Streit, einem aus heutiger Sicht hochaktuellen Bilderstreit, der im 19. Jahrhundert ausgehend von einer Fälschung entfachte. Den Anlass boten zwei Versionen der Madonna des Bürgermeisters Meyer von Hans Holbein d. J.: auf der einen Seite das damals berühmtere Werk aus der Dresdener Gemäldegalerie (Abb. 1), auf der anderen eine erst 1821 wieder aufgetauchte Fassung, die während der gesamten Debatte in Privatbesitz verbleibt, zunächst einige Jahre in Berlin, dann in Darmstadt (Abb. 2). DieDresdener Madonna galt bis dahin als unbestrittenes „Hauptbild deutscher Kunst“ (LZ, 1871: 368) und wurde in folgenreichen Gegenüberstellungen als Pendant der Sixtinischen Madonna gefeiert. Aufsehen erregende Ausstellungen, öffentlichkeitswirksame Pressetexte, unzählige Aufsätze und zahlreiche Reproduktionen wurden lanciert, um das Rätsel der Verdopplung zu entwirren. Die weniger populäre Fassung setzte sich schließlich durch: Heute gilt allein die Darmstädter Madonna als Original Holbeins. Sie machte zuletzt als „Deutschlands teuerstes Kunstwerk“ (Gropp, 2011) Schlagzeilen und hängt seit 2012 in Schwäbisch Hall. Die Dresdener Madonna wurde inzwischen Bartholomäus Sarburgh zugeschrieben.

Abb. 1: „Dresdener Madonna“: Bartholomäus Sarburgh, Kopie nach Hans Holbein d. J., Die Madonna des Basler Bürgermeisters Jakob Meyer zum Hasen, 1635-1637

2 Der Holbein-Streit war konstitutiv für die Institutionalisierung der Kunstgeschichte; er gehört zu Recht zu den kanonischen Themen der Wissenschaftsgeschichte. Grundsätzlicher könnten die Bestimmungen nicht sein: „Krise der Kunstgeschichte“ (Bätschmann, 1996: 87), „the most bitter and most extended [controversy] that has ever been aroused by a work of art“ (Haskell, 2000: 91), „eines der spannendsten Kapitel der deutschen Kunstgeschichtsschreibung“ (Kultermann, 1966: 27), „Gründungsmoment einer akademischen Kunstgeschichte“ (Beyer, 2010: 201) etc. Stichwort gebend war nicht zuletzt Max J. Friedländers frühe Überzeugung von der „Überlegenheit der historisch eingestellten Kenner über die den Schönheitsmaßstab des 19. Jahrhunderts anlegenden Künstler“ (Friedländer, 1946: 212). Infolge einer geradezu sensationalistischen Erzählung vom Triumph des Originals wurde die Debatte retrospektiv zum Signum für die „Kunstgeschichte auf den Weg zur Autonomie“ (Möseneder, 1993: 59) erklärt. Demnach sei die „Verwissenschaftlichung der deutschsprachigen Kunstgeschichte“ (Locher, 2001: 54) in der Absage an Geschmacksfragen und ästhetische Anschauungen begründet. Der Holbein-Streit wäre in dieser Perspektive ein strikter Attributionsstreit, dem das Fach seine Professionalisierung zu einer ‚Kunstgeschichte der Originale‘ verdanke. Diese quasi positivistische Lektüre ist wissenschaftstheoretisch betrachtet umso erstaunlicher, als sie selbst noch vor dem Hintergrund bildwissenschaftlicher Positionierungen fortgeschrieben wurde.

Abb. 2: „Darmstädter Madonna“: Hans Holbein d. J., Die Madonna des Basler Bürgermeisters Jakob Meyer zum Hasen, 1526/1528

3 Aus Diskussionen um „Aus-Rahmung“ (Belting, 1995: 8) und „Rahmenwechsel“ (Bredekamp, 1997: 60) der Kunstgeschichte ist auch der facheigenen Wissenschaftsgeschichte eine produktive Herausforderung erwachsen. Die Chance wäre allerdings vorschnell verspielt, führten ihre Bemühungen zu der prekären Unterscheidung einer Kunstgeschichte imZeitalter der Kunst und einer Kunstgeschichte im Zeitalter der Bilder. Die Tendenz scheint indes weit verbreitet: Je stärker jüngere Diskussionen die „ikonische Wendung der Moderne“ (Boehm, 1994: 13f) akzentuieren, umso eklatanter wird deren Ausblendung im Kontext der facheigenen Geschichtsschreibung (unterstützt). Auch der Blick auf den Holbein-Streit scheint durch die einflussreichen Erzählungen getrübt: Obwohl die Debatte einen umfassenden Bilderstreit um Theorie und Praxis der Reproduktion darstellt, wurde der Konflikt unter forcierter Fokussierung der Echtheitsfrage als bloß kennerschaftlicher Streit um zwei Kunstwerke rezipiert. Zur Revision des historischen Quellenmaterials bedarf es nunmehr eines theoretisch informierten Korrektivs. Hierfür bieten einige der in Frankreich im Umfeld poststrukturalistischer Theorien entwickelten Ansätze einen fruchtbaren Ausgangspunkt. Die sogenannten „Bildtheorien aus Frankreich“ (Alloa, 2011; Busch, Därmann, 2011) haben sich im Zuge des Iconic Turn als unverzichtbare Referenz für die deutschsprachige Kunstgeschichte etabliert; sie waren ein entscheidender Katalysator für bildkritische Projekte und folgenreiche Methodendiskussionen. Es lohnt, den Austausch auf einer zweiten Ebene weiterzuführen, um auch die Wissenschaftsgeschichte der Kunstgeschichte, die Historiografie ihrer Methoden- und Ideengeschichte, daran teilhaben zu lassen. Kurz: Es geht darum, der sich auftuenden Kluft zwischen Bild(-Theorie) und Kunst(-Geschichte) bzw. Bildkritik und Wissenschaftsgeschichte entgegenzuarbeiten. Drei ausgewählte Stationen aus dem Holbein-Streit sollen dazu im Folgenden als Ausgangspunkt dienen.

Abb. 3: Alfred Richard Diethe, Gesellschaft beim Betrachten der Holbein-Madonna, 1871

Kunstgeschichte in Bildern

4 Es war das erklärte Credo einer Kunstgeschichte als Anschauungsunterricht, die „Verbindung des Wortes mit der Anschauung von vornherein als Hauptsache festzuhalten“ (Schmarsow, 1891: 35). Erstaunliche Bildexperimente und höchst elaborierte Bilddiskussionen begleiten den Streit, wurden aber bisher zugunsten einer textorientierten Historiografie ausgeblendet. Auch die 1871 in Dresden organisierte Holbein-Ausstellung, im Rahmen derer die zwei Gemälde erstmals nebeneinander präsentiert wurden, war aus dem kunsthistorischen Anschauungsimperativ geboren: „the greatest display yet mounted of the works of any Old Master“ (Haskell, 2000: 92). Sie gilt gemeinhin als Höhepunkt, aber auch Endpunkt im Holbein-Streit (Bader, 2013: 102ff; Maaz 2014: 28ff). Das „berühmte und gefürchtete Madonnen-Turnier“ (Meyer, 1871a: 4554) war eine öffentliche Attraktion (Abb. 3). Zur Klärung der Streitfrage wurde zudem der erste kunsthistorische Kongress ins Leben gerufen. Das Ergebnis, auch das ein Novum, wurde in Form einer Presseerklärung bekanntgegeben. Drei Punkte resümieren die kollektive Bildanalyse: Erstens die Echtheit der Darmstädter Fassung, zweitens „nicht unerhebliche spätere Retouchen“, durch welche der „ursprüngliche Zustand […] getrübt sei“, und drittens die Bestimmung des Dresdener Bildes als „freie Kopie“ (ZfbK 1871: 355). Im Anschluss daran erscheint ein Positionspapier namhafter Künstler. Diese argumentieren für die Echtheit des Dresdener Bildes, um zugleich Zweifel gegenüber dem Gemälde aus Darmstadt anzumelden, da eine „gründliche Beurtheilung, wie weit dasselbe noch Original sei“ aufgrund des mangelhaften Erhaltungszustands kaum möglich sei (DA, 1871). Trotz prominenter Unterstützung setzte sich die Gegenerklärung nicht durch.

Abb. 4: Die Holbein-Madonna vor und nach der Restaurierung, Gegenüberstellung aus Knackfuß’ Deutsche Kunstgeschichte von 1888

5 Obwohl – oder vielleicht gerade weil – die Situation infolge der Dresdener Ereignisse ambivalent blieb, wurden von Seiten der späteren Forschung apodiktische Stellungnahmen favorisiert: die Zuschreibung des Originals, die Abschreibung der Kopie. Ein streng polarisierendes Muster durchzieht die Narration: Kunsthistoriker vs. Künstler, Original vs. Kopie, Echtheit vs. Schönheit. Allein die Wortwahl der zwei Presseerklärungen zeigt indes, dass die Frage weitaus komplexer war: In der Formulierung ‚freie Kopie‘ und dem Hinweis, der ‚ursprüngliche Zustand‘ des Originals sei gestört, so dass unklar sei, inwiefern das Bild ‚noch Original‘ sei, zeichnen sich die Komplikationen unmissverständlich ab. Opak formuliert, aber scharf angedeutet, bringen beide Communiqués die bildtheoretischen Herausforderungen, die sich notwendigerweise aus der Gegenüberstellung von 1871 ergaben, zur Sprache. Die Zuschreibung der Darmstädter Madonna hatte zu einer erheblichen Verkomplizierung der Frage geführt: Wenngleich ersichtlich war, dass die Dresdener Version aufgrund einer modernisierten Malweise für die Zeitgenossen des 19. Jahrhunderts überzeugender wirken musste, konnten stilhistorische Argumente dem verstörenden Vergleichseindruck nicht entgegenwirken. Am prägnantesten scheint die Irritation auf den Punkt gebracht in der wiederkehrenden Bemerkung, das Dresdener Bild sei ein „Wunder einer Copie“ (Edouard His, 1871, zit. nach Fechner, 1872: 22). Mit ihr setzt sich die anschauliche Erfahrung durch: Die Beobachtung bekundet sowohl Faszination als auch Verwirrung angesichts einer Kopie, die originaler zu sein schien als das Original selbst.

Abb. 5: Hans Julius Grüder, Kopie der Dresdener Madonna, 1860

Kunstgeschichte der Reproduktion

6 Es waren insbesondere die augenscheinlichen Unterschiede der zwei Fassungen, die das Authentizitätsdilemma anheizten. Ein Detail stach besonders hervor: Während das Darmstädter Kind zu lächeln schien, wirkte sein Pendant aus Dresden vergleichsweise melancholisch. Der kleine Unterschied betraf den Mittelpunkt der Komposition und wurde früh zur „Hauptschwierigkeit“ (Meyer, 1871b: 757) im Holbein-Streit erklärt. Aus heutiger Perspektive betrachtet müssen die damit verbundenen Diskussionen zwangsweise irritieren, da sie sich am Original nicht mehr nachvollziehen lassen, nachdem das Bild 1887 einer umfassenden Restaurierung unterzogen wurde. Die als „wahres Wunder“ gefeierte „Wiedergeburt“ (Muther, 1887: 723; Hofmann-Zeitz, 1888: 304) fand in Hermann Knackfußʼ Monografie zur Deutschen Kunst einen bemerkenswerten Niederschlag (Abb. 4). Hier wird das Original in einer Gegenüberstellung seiner zwei Zustände präsentiert, links im „getrübten Zustande“, rechts im „wiederhergestellten, ursprünglichen Zustande“. Vor dem Hintergrund der zeitgenössischen Momentfotografie und zeitgleich dazu stattfindender Diskussionen um Phänomene des Déjà-vu wirkt die bildhistorische Paarinszenierung umso brisanter: „Wer das Bild vor und nach der Wiedergeburt gesehen, der begreift kaum, daß er dasselbe Werk vor sich hat“ (Hirth, 1887). Nach der Restaurierung schien das Original der ‚freien Kopie‘ (des noch unübermalten Originals) auf irritierende Weise ähnlicher als zuvor. Das Lächeln des Christuskindes war nunmehr aus dem Gemälde verschwunden. Die in einer schier unvorstellbaren Fülle an Texten debattierte ‚Kinderfrage‘ wird heute nur noch in Reproduktionen aus der Zeit vor 1887 anschaulich. Die Geschichte der Holbein-Madonna nötigt den Wissenschaftshistoriker einem Bildhistoriker gleich die Geschichte ihrer Reproduktionen miteinzubeziehen. Die Knackfußsche Gegenüberstellung ist diesbezüglich symptomatisch: Indem sie nicht nur die Veränderungen amOriginal, sondern auch die Veränderung des Originals reproduziert, formuliert sie ein visuelles Problem. Die Montage ist Ausdruck eines dynamischen Bildbegriffs: Sie bringt historische Tiefenschichten einer verdrängten Bildgeschichte zur Anschauung und führt die Variabilität des Originals vor Augen, um die Rolle der Nachbilder aufzuwerten. Einem Palimpsest gleich scheinen Original, Kopie und Reproduktion aufeinander bezogen.

Abb. 6: Heinrich Alfred Schmid, Skizze zur Rekonstruktion der ursprünglichen Rahmung, 1896

7 Der Maler Hans Julius Grüder zählt zu den prominenten Advokaten des Dresdener Bildes. Wie der Katalog der Dresdener Gemäldegalerie festhält, gebühre ihm als Künstler eine „anerkennungswerte Competenz in dieser Angelegenheit“, da er selbst um 1860 eine Kopie der Holbein-Madonna erstellt habe. Sein Nachbild galt als wichtiges Argument im Holbein-Streit (Abb. 5). Die Kopie war eine Auftragsarbeit für das Baseler Museum. Aufmerksam verfolgten die Dresdener Kollegen den Produktionsprozess, regelmäßig berichteten sie nach Basel. Die Tätigkeit der Nachbildung wird dabei von Anfang an als Indiz der Kennerschaft verhandelt: Grüder habe sein Urteil gefällt, nachdem er sich mit „dem, einem geschickten und fleissigen Copisten nur möglichen, genauesten Studium des dresdener Bildes nach Darmstadt begeben hat, um auch das dortige Bild nicht nur in Augenschein zu nehmen, sondern dasselbe möglichst gründlich und vergleichend zu betrachten“ (Schäfer, 1860: 794). Das Augenmerk liegt weniger auf der äußeren Identität als auf der Erforschung des zu kopierenden Bildes. Es zählt der Arbeitsprozess: die jeder Kopie voraus- und zugrunde liegende Auseinandersetzung mit dem Original, die hier als vollgültiger Erkenntnisprozess Anerkennung findet. Grüder unterzeichnet die Gegenerklärung und verleiht ihr mit seinem eigenen ‚Wunder einer Copie‘ zusätzliches Gewicht. Parallelen zum Urheber des Dresdener Bildes sind nicht zufällig. Das Vorgehen Grüders wurde als eine Art Reenactment der früheren Reproduktion gefeiert, um das rezeptive Nachleben als Medium vertiefter Aufmerksamkeit zu würdigen. Daraus speist sich Grüders Stellungnahme im Holbein-Streit: Der Kopist wird qua seiner Kopiertätigkeit zur kunsthistorischen Autorität. Visuelle Argumentationen dieser Art waren von großer Bedeutung für die Erfolgsgeschichte des Dresdener Bildes. Angesichts ihrer Wirkkraft konnte selbst die 1887 erfolgte Restaurierung des Originals die Faszination für die Kopie nicht lindern. Der befremdliche Eindruck der Darmstädter Madonna schien sich zu erhalten.

Abb. 7: Heinrich Alfred Schmid, Bildmontage auf Grundlage einer Fotografie, 1933

8 Heinrich Alfred Schmid, Heinrich Wölfflins Nachfolger in Basel, begann um 1896 erste Bildmontagen zu entwerfen, um die Wirkung des Originals zu korrigieren. Der Kunsthistoriker erklärte sich den unvorteilhaften Eindruck daraus, dass dem Gemälde der Originalrahmen als „unveräußerlicher Teil“ (Schmid, 1945: 26) fehlte und entwarf daher eine Alternative zur späteren Barockeinfassung (Abb. 6 und 7). Kurz darauf konnte das Dresdener Bild Bartholomäus Sarburgh zugeschrieben werden; nun stand fest, dass die Kopie eine Fälschung war und in betrügerischer Absicht entstanden war. Das Interesse an der Wechselwirkung der zwei Fassungen aber war ungebrochen. 1954, als das Darmstädter Bild zur Leihgabe nach Basel ging, nutzte Hans Reinhardt die Gelegenheit, um sich seinerseits dem Thema zu widmen. Inzwischen war selbst der Barockrahmen zerstört, so dass auch Reinhardt nicht umhin kommt, ein Manko im Erscheinungsbild des Gemäldes zu konstatieren. Er vereinfacht den Entwurf Schmids und entwickelt daraus Argumente für eine ursprüngliche Hängung der Holbein-Madonna im Kappelenraum vom Baseler Landsitz des Bürgermeisters Meyer (Abb. 8). Die Beschreibung lässt keinen Zweifel an der Motivation des Kunsthistorikers: Abermals gilt es, dem Kontrast der zwei Gemälde durch Relativierung der Differenzen entgegen zu wirken. Der Bildmontage geht ein bemerkenswerter Bildprozess voraus: Um die originale Präsentation zu rekonstruieren, greift Reinhardt zunächst auf Grüders Kopie aus Basel zurück und hängt diese probeweise in das Gundeldinger Schloss (Abb. 9 und 5). Wie schon im Falle der Restaurierung führt die Arbeit am Bild dazu, eine Form von Ursprünglichkeit zu beschwören, die über das (aktuelle) Original hinausgeht: „Holbein muss seine Überlegungen der Situation gemäss angestellt haben. Ja, man gewinnt beinahe den Eindruck, als ob Holbein das Bild sogar an Ort und Stelle gemalt habe.“ (Reinhardt, 1955: 252f) Die Hypothese über die Entstehung des Gemäldes lässt sich nicht mehr vor Ort überprüfen, da das Gebäude kurze Zeit später zerstört wurde. Die bildhafte Dokumentation des Bildexperiments in situ ist somit ihrerseits eine Original-Reproduktion. Die Montage aber ist denkbar kurios. Mithilfe einer Kopie, die Grüder dazu motiviert (und legitimiert) hatte, sich gegen das Original auszusprechen, gibt Reinhardt vor, die authentische Erscheinungsform für das Original zu rekonstruieren. Die Interpretation des Originals führt über eine Kopie der Kopie: Die Annäherung an das seinem originalen Ort entnommene, zwischenzeitlich übermalte und anschließend restaurierte Original läuft über eine aus dem 19. Jahrhundert stammende originale Kopie nach der älteren, zunächst als Original verehrten (Dresdener) Kopie, die im 17. Jahrhundert ausgehend von dem noch unretouchierten Original erstellt worden war. Komplexe historische Bezüge fügen sich zu einem schwindelerregenden Netz bildhistorischer Zusammenhänge. Statt als Alternativen gegeneinander anzutreten, gehen Original und Kopie als bildnotwendige Gleichzeitigkeiten ineinander über. Wirkliche und künstliche Version, Fakt und Fiktion scheinen derart ineinander verstrickt, dass die Kategorisierungen ins Wanken geraten.

Abb. 8: Hans Reinhardt, Rekonstruktion der ursprünglichen Aufstellung in Basel, 1954

Nachbilder und andere Phantome

9 In seiner epochalen Studie zu den vier im August 1944 gemachten Fotografien in Auschwitz hat Georges Didi-Huberman einen Extremfall verdrängter Bildgeschichte in Erinnerung gerufen, um daraus grundlegende Beobachtungen mit Blick auf die visuelle Verfasstheit von Wissen und Erkenntnis abzuleiten.Die in Vergessenheit geratenen Nachbilder der Holbein-Madonna werden den Vergleich mit dem brisanten Beispiel nicht standhalten, aber vielleicht sind auch sie ein „historisches Symptom, welches das gewöhnliche Verhältnis eines Bildhistorikers zu seinem Forschungsgegenstand irritiert und neu zu bestimmen vermag“? (Didi-Huberman, 2007: 891) Die Reproduktionen sind weder wahr noch falsch – gerade darin erweisen sich die zeitgenössischen Aufnahmen als wichtige Kontrastfolie der Wissenschaftsgeschichte. Retuschen oder nachträgliche Eingriffe wurden nicht per se als veruntreuende Störung der Wirklichkeit gedeutet – sie konnten, wie im Falle der ersten Originalfotografien der Holbein-Madonna, von kunsthistorischer Seite gar als Mittel „zur Verdeutlichung der Composition“ (Bayersdorfer, 1872: 3f) geschätzt werden; desgleichen wurden Illustrationen nicht als bloße Abbilder abgewertet, sondern als „Wirkungsinterpretationen“ (Wölfflin, 1920: 74) gewürdigt. Auch künstlerische Kopien oder Fälschungen sahen sich nicht von vorneherein einem Dogma des Uneigentlichen unterworfen. All diese Bildphänomene können mit einer Formulierung Horst Bredekamps treffend als „Spuren einer wahren Fiktion“ (Bredekamp, 2004: 47) charakterisiert werden. Die Bilder sind nicht nur ihrerseits Originale – originale Reproduktionen aus dem 19. Jahrhundert – sie partizipieren aktiv an der Geschichte der Holbein-Madonnaund wurden von Anfang an entsprechend engagiert reflektiert. Als Indiz einerlongue durée kunsthistorischer Bilderfragen vermögen die frühen Original-Reproduktionen der Kunstgeschichte einen aktuellen Beitrag in der Diskussion um das Verhältnis von Bild und Kunst liefern. Die gleichen Argumente, die im 19. Jahrhundert für die Anerkennung des Dresdener Bildes sprachen, finden sich in der Auseinandersetzung mit den damaligen Reproduktionen wieder – sei es als Movens von Bildgeschichte (Abb. 4), als Prozess einer Kritik (Abb. 5) oder als Modus der Interpretation (Abb. 6-9). Die Kopie wurde nicht vom Original herabgesetzt oder gar verdrängt, im Gegenteil: Selbst nach der Holbein-Ausstellung von 1871 blieb der Wunsch nach einer „dauernden Nebeneinanderstellung“ der zwei Gemälde (Zahn, 1873: 161).

Abb. 9: Grüders Kopie der Dresdener Madonna im Gundeldinger Schloss, 1954

10 Es gilt, wie Jacques Rancière schreibt, die „Rationalität der Fiktion“ zu behaupten: „Fingieren bedeutet nicht, Illusionen hervorzurufen, sondern verständliche Strukturen zu entwickeln“ (Rancière, 2006: 572). Vehement wendet sich der französische Philosoph gegen den „Gegensatz zwischen Wirklichem und Künstlichem […], in dem sich Positivisten und Dekonstruktivisten gleichermaßen verlieren“ (Rancière, 2006: 613). Aus einer ähnlichen Haltung heraus hat Bruno Latour mit Blick auf Fragen der Dingforschung den Neologismus „Faitiches“ geprägt, um darauf aufmerksam zu machen, dass Fakt (fait) und Fetisch (fétiche) aus einem konstruktiven Prozess hervorgehen: Demnach sei „die Fabrikation sowohl bei Fakten als auch bei Fetischen als Ursache für Autonomie und Realität“ anzusehen. Seine Bedenken gegen die „erzwungene Alternative zwischen Fakt und Glauben“ (Latour, 2000: 336, 374) stehen gleichermaßen im Zeichen einer Überwindung ideologisch motivierter Dualismen. Analog dazu liegt für Didi-Huberman der Fokus in bildkritischer Perspektive auf der Dialektik des Sichtbaren (visible) und des Visuellen (visuell). Darin sei die „zweifache Ordnung aller Bilder“ begründet: „Sie sind abwechselnd Fetisch und Fakt […]. Sie sind weder reine Illusion noch stellen sie die gesamte Wahrheit dar, sondern bezeichnen jenen dialektischen Wechsel, der den Schleier und zugleich sein Zerreißen einschließt.“ (Didi-Huberman, 2007: 56, 1194) Seine Überlegungen liefern wichtige Argumente gegen eine unreflektierte Ideologie ‚falscher‘ Darstellungen. Mit Blick auf die charakteristische Doppelfunktion, die Bilder als Instrument und Gegenstand der Kunstgeschichte einnehmen, erscheinen die genannten Positionen umso bedeutender: Es gilt die Spannung von sichtbarer Information und visuellem Ereignis auszuhalten, statt sie vorschnell aufgrund von künstlerischen, technizistischen oder gar ideologischen Kriterien auszublenden.

vergrößern >>>>>>Original (jpeg, 13M) Abb. 10: Original-Reproduktionen der Holbein-Madonna, Auswahl aus den Jahren 1635 bis 1954

11 Für den Holbein-Streit war das Zusammenspiel von Bildkritik und Bildpraxis konstitutiv. Es resultierten daraus Fragen, die weit über das Authentizitätsdilemma hinausgehen und auf die Ursprünge einer Kunstgeschichte als Bildwissenschaft zurückführen. Fülle und Vielfalt kunsthistorischer Faitiches (Abb. 10) sind Programm: Der Holbein-Streit war kein Siegeszug des Originals, sondern eine Feier der Bilder. Darin liegt das wahrhaft originale ‚Wunder der Copie‘ begründet: Es fordert dazu auf, Kunst als Bild zu betrachten.

Notes

1 „un symptôme historique propre à bouleverser, donc à reconfigurer, la relation que l’historien des images entretient habituellement aves ses propres objets d’étude“ (Didi-Huberman, 2003, 76).
2 „Feindre, ce n'est pas proposer des leurres, c'est élaborer des structures intelligibles.“ (Rancière, 2002, 56)
3 „La notion de ‚récit‘ nous enferme dans les oppositions du réel et de l'artifice où se perdent également positivistes et déconstructionnistes.“ (Rancière, 2002, 61)
4 „Elles sont tour à tour le fétiche et le fait, le véhicule de la beauté et le lieu de l’insoutenable, la consolation et l’inconsolable. Elles ne sont ni l’illusion pure, ni la vérité toute, mais ce battement dialectique qui agite ensemble le voile avec sa déchirure“ (Didi-Huberman, 2003, 103).


Bibliographie

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Samstag, 19. Dezember 2015

Und was ich noch sagen wollte...

...über Wölfflins "Naturgeschichte" der Stilepochen:



... dass es eine Abfolge von Stilepochen – und folglich den Eindruck von einem Fortschritt in der Kunst – anscheinend nur im Abendland gegeben hat.

Das wäre in ästhetischer Hinsicht schon bemerkenswert genug. Ich füge aber noch hinzu: Dass das so ist, hat selbst keinen ästhetischen Grund. Der historische Grund ist vielmehr die Ausbildung einer Öffentlichkeit, und das ist gleichbedeutend mit dem Aufstieg der bürgerlichen Gesellschaft.




Dass der Geschmack der Individuen schwankt, ist offenkundig. Dass der Geschmack Erfahrungen sammelt, nicht minder. Danach schwankt er viel weniger. Wenn das Leben des Menschen nicht siebenzig, sondern hundertvierzig Jahre währete, wären seine Erfahrungen reicher und sein Urteil sicherer; vielleicht wäre sein Horizont weiter, vielleicht aber wären seine Kriterien enger. Mit andern Worten, sein Urteil wäre qualifizierter.

Und doch müsste er es am Ende seines Lebens mit sich ins Grab nehmen.




Eine Qualifizierung über die Generationen hinweg ist nur möglich, wenn die Akkumulation gleichzeitig in einer so großen Zahl von Individuen stattfindet, dass ein paar Ausfälle keine Lücken reißen. Es muss also mindestens im Kreis der herrschenden Klassen genügend Verkehr stattfinden und die Zugehörigkeit zu den Herrschenden muss so sehr der Legitimation bedürfen, dass keiner sich leisten kann, an der Geschmacksbildung nicht teilzunehmen; sich nicht leisten kann , weil er nicht nur herrschen, sondern seine Herrschaft (gegen die der Andern) auch repräsentieren muss.

Die Konkurrenz von Kirche, Aristokratie und städtischem Bürgertum im feudalen Westeuropa war der ideale Boden für die Ausbildung eines streitbaren herrschenden Geschmacks. Zu seinem Klimax wurde die Absolute Monarchie, aber mit der Revolution mischte sich auch der ungebildete Pöbel in die öffentlichen Angelegenheiten, an den Grenzen der guten Gesellschaft begannen die Avantgarden zu florieren, in die geschlossenen Öffentlichkeiten der Vornehmen brach die wüste Öffentlichkeit des Marktes ein...




Ein kollektives Subjekt hatte sich gebildet, das seine Launen, Sentimentalitäten und Exzentrizitäten hat wie jedermann, das aber ewig lebt und nichts vergisst; höchstens mal für eine Weile was verbummelt und sich freut, wenn es was wiederfindet. Und das sich alle Weil wichtigtut.

Nur im Abendland konnte es so kommen, und fast möchte man sagen: musste das so kommen.


12. 8. 2015





Freitag, 18. Dezember 2015

Wölfflins Formalismus.

aus alexanderstey
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Where it was that Heinrich Wolfflin managed to regain form
Heinrich Wolfflin (1864-1945) was sure of two things: firstly, that a systematic history of art was built upon the foundations of the psychology of perception; secondly, that artworks have their own formal language which is made up of a set of oppositions, called pairs, that structure the art of all ages.
Although it is clear that the appearance of art changes dramatically through time – Renaissance is very different to Impressionism for instance – certain categories do persist: compositions that are either closed or open, unified or multiple in conception, relatively clear in their presentation or do they evoke obscurity?

aus Heinrich Wölfflin, Kunstgeschichtliche Grundbegriffe, München 1917, (Vorsatzblat: Venedig, Palazzo Labia)

Wolfflin’s categories will probably now live forever, because they compare pictures together in the most common sense of ways, using dual projection, to contrast images side by side.
Describing the Raphael painting Miraculous Draught of Fishes which is housed in the V & A: the biographers might talk about feelings of loneliness and abandonment; the connoisseurs might talk of the individual aspects; while Wolfflin moved away from these to an understanding of the picture as a whole.
Raphael, The Miraculous Draught of Fishes (1515). Oil on canvas, 399 x 319 cm. Victoria & Albert, London
Details in Raphael’s masterpiece relate to counterparts elsewhere in the picture. For example, the shapes in the landscape create pictorial purpose, the lines follow clusters of figures organised in groups, and each part of the painting contributes to the stylistic character of the total image, in a manner that is greater than the sum of the parts. The emphasis on the relationship between formal elements is largely down to Heinrich Wolfflin, it has become one of the most credible ways of doing art history, and is known as formalism.
These famous pairs / fundamental characteristics, that were designed by Wolfflin always stayed the same, but his ideas about what causes art to change definitely did not.
Wolfflin decided from analysis of architectural forms, that we read the proportions according to our own body posture and mood. However, this was based on the assumption that the perception of the viewer was universal, rather than historically situated; the other problem was he couldn’t (yet) explain why a particular age, should choose certain stylistic principles over other periods, from history in art.
First, Wolfflin looked at bodily feeling from one period then another, e.g. a Renaissance hand was firm with articulated feeling, while a Baroque version was often more solid, heavy and restless.
Not only did Wolfflin think that feeling in art changed, but that it was responsible for changes in fashion and other spheres of life as well. Trying to find the cause of these changes was the problem to be addressed, but if it was thought to be a change in bodily feeling, that meant a change in style, was there not more too it?
Hence, he decided that purely artistic forms of vision, must change independently from feelings and other states of mind, thus many factors condition a new style in art; this is supposed to explain the transformation from Italian Quattrocento to Cinquecento art, where a new ideal of beauty was beginning to express itself.


aus Heinrich Wölfflin, Kunstgeschichtliche Grundbegriffe
Visual evidence in the picture by Raphael (above) suggested to Wolfflin that the gait of women changed from a stiff mincing walk to a tempo more akin to anandante maestoso.
This change of feeling however, wasn’t the only cause of the new style of art. The suggestion was that new pictorial forms came about, because of an independently occurring development in vision.
Wolfflin thought artistic vision improved in the sixteenth-century from the fifteenth-century. He thought artistic vision (which orders the chaotic mass of sensory perception) was better equipped for integrating a greater variety of perceptual phenomena, as it happens, in the sixteenth-century. Biologically, we were improving!
By the application of common beliefs about perception to these periods, Wolfflin was saying, the viewer could grasp greater variety, and more effectively: a picture as a unified whole.
This meant the viewer was presented with more clarity, thus the change in style was an improvement in technique and there are reasons. They belonged to the conditions; the mode of representation, for instance, such as the visual possibilities available to the artist.
The main area though is vision. Vision itself has a history, and by revealing the visual strata in paintings, it became hugely important to art historians like Wolfflin, thus he managed to provide a general set of descriptive terms – pairs – that captured forms visually in art; forms of an epoch. He has become quite famous for this!
Wolfflin argued, that when reading forms of expression, our state of mind makes the false assumption, that the same expressive methods are always available; he did believe both external and internal modes of explanation are justified.
Certain forms of beholding do pre-exist, then develop, but this depends on circumstances.
The forms of visuality according to Wolfflin are universally applicable; they are capable of describing the development of pictorial forms in different ages, countries and periods.


aus Heinrich Wölfflin, Kunstgeschichtliche Grundbegriffe
Although different forms dominated at different historical moments, they are still universally applicable, and operate in a cyclical fashion, moving from classical simplicity to baroque complexity.
This is a pattern that repeats itself throughout Western art history, thus, once the cycle has started, it runs its course; however when it reaches a state of complexity how does art return to adopting simplicity once again?
It cannot (apparently) be explained by art’s internal development, hence it is the wider and external factors that come into play helping Wolfflin with this problem.
He decided there was a return to the linear mode of vision around 1800; hence, this was part of the whole reappraisal of human values, culminating in the Romantic movement, which did respond to wider social change; thus, this was to set art history on the path to a new cycle of internal development.
Wolfflin then shifted his focus once again, and looked not just the cyclical ways of seeing, but partly the dependence upon racial difference between Northern European and Mediterranean people, and the affect this had.
This was part of his life long struggle in trying to identify the ultimate causes of historical change.
The age Wolfflin lived in had lost all senses of style in his opinion, and lacked any cultivated form of the Renaissance; he had an elitist aestheticism point of view, thus Empathy Theory was not dependent on classical learning but sensual projection and offered a conception of aesthetic experience; his history of artistic vision was motivated by a response to external social developments, rather than the logic of any internal argument, but the problem still lay in where to point the finger at ultimate causes.
Wolfflin and his art history
In order to demonstrate stylistic and historical shifts, we were given Wolfflin’s way of doing art history, using his now very famous and timeless ‘Pairs’ which everyone comparing paintings will at some time use.

ebd.
Wolfflin’s method is essentially comparative, and it begins by using pairs of images, that each embody a different set of visual principles.
Photography helped by showing slides, side by side, for comparison. He drew out characteristics, but colour and texture were neglected in the analysis as was originality, thus, his categories for stylistic description were ridiculed by his colleagues to begin with.
Wolfflin loved the features of classical art: moderation and form, simplicity and noble line, stillness of soul, and gentleness of sensibility.
He figured that if we take the opposite of each of these concepts, it would help explain the substance of the new style – the Baroque!
Wolfflin proceeded by describing changes in style using these pairs of opposites, from one era to the next.
Wolfflin studied the stylistic change of Roman architecture over time. He defined the opposites of ‘moderation and form, simplicity and noble line, stillness and gentleness’ and used the terms ‘painterliness, grand scale, and massiveness in tension with movement’.
Wolfflin, thus was clearly interested not so much in the style changes due to the functional requirements of the buildings he studied, but, in showing the emergence of the first set of his principles. Then, from the High Renaissance he was able to use them on the work of Leonardo, Michelangelo, Raphael and Andrea del Sarto.
In contrast to Quattrocento art, the clarity of presentation at the apex of High Renaissance, unifies a variety of visual elements. Then after 1520 Wolfflin saw artistic decline, thus, subsequent generations of artists began competing and striving for effect rather than style.
Wolfflin spoke of a generation of eclectics, using multiple theories about art, thus it was only with a new attention to nature taking place that a revival of the principles of classic art came in the ‘Germanic North of Italy’ and Wolfflin clearly had Venice and Titian in mind with this.
When he saw formal properties in art, Wolfflin identified the most systematic and comprehensive way of providing (in generally descriptive terms) a way to capture the development of artistic vision, across countries and ages; and this has been emulated ever since.
Because the properties embedded a cycle, Wolfflin saw them to be repeated over and over again, thus, restarting conveniently whenever the external conditions suitably arose; hence, he spent a lot of time comparing sixteenth and seventeenth-century art, across many European countries, using his five oppositions:
  1. linear / painterly
  2. plane vs. recession
  3. close or open
  4. multiplicity v unity
  5. absolute or relative clarity
For example, this is how they work.
By comparing Venus of Urbino (1538) by Titian, to the Toilet of Venus (1648) by Velazquez, it is possible to elucidate the contrast between ‘multiplicity versus unity’ which is the fourth set of pairs, above. Wolfflin was adamant that when a picture showed one of the categories it must also show the others on its side of the table; meaning that all artworks that have linear aspect, will also display plane, closed, multiplicity and absolute, to a lesser or greater degree; but, no painterly, no recession, no open, no unity or relative clarity!
Titian,Venus of Urbino (1538). Oil on canvas, 119.20 x 165.50 cm. Uffizi, Florence
Velazquez, Toilet of Venus (1648). Oil on canvas, 122.5 x 177 cm. National Gallery, London
Linear vs. Painterly –
On the one hand, both paintings have firm outlines, and both include material objects, however, each picture has a different emphasis placed upon the appearance of the world; the atmosphere is shifting. Wolfflin says there is clearly a contrast between the Renaissance work of Titian, and a similar painting by Velasquez from the Baroque period, more than a hundred years after. The figures in the early painting could be cut out, but the later one has the figures bound with other motives. Titian’s lady has a rhythm alone, whilst Velasquez completes his lady with what is added to the picture.
Plane vs. Recession –
The difference is identifiable, if looking at the three dimensional space at the back. Titian orders everything parallel so we read from side to side like a book; however, Velasquez pulls us into the background, zig-zagging our gaze from the centre outwards, thus her back is turned so we follow her glance from her perspective into the mirror and all around thereafter.
Closed vs. Open –
How the picture appears to the viewer in relation to itself. In Titian’s version the viewer must be around eye level with the woman looking down, thus the space is clearly defined – box like – for the viewer to confront in a very open manner almost like you could climb in and wander around. Spatial indication is absent in the Velasquez, hence it is very closed; thus, Wolfflin points out you are tempted to stand to the right to see the woman’s frontal reflection in the mirror and we could almost peek around the Velasquez one secretly speculating about the various parts of the painting, adjusting our viewing position, unlike the Titian which is hardly an attempt to be discrete.
Multiplicity vs. Unity –
Wolfflin tries to emphasize how Titan’s figure appears self sufficient in form, made up of clearly articulated parts, thus there is a variety in the painting like a dog, a cat, maids, pillows and a window all clearly visible; together, they are a unified whole. There is almost something hidden in the Baroque, disguised as Velasquez shows, perhaps behind the curtain.
Absolute vs. Relative Clarity –
Similar to the first pair, these show the difference between optical effects giving the subject precision, and painterly techniques for atmospheric effect. Titian’s brushstrokes are used to evoke the textual difference between the silky sheets of the bed and the smooth skin of the woman; Velasquez on the other hand, is much less concerned with material illusions, and instead employs subtle changes in tone and colour, which register the almost imperceptible change in the angles of the surfaces, and which consequently capture the reflection of light.
Using Wolfflin’s set of pairs, his descriptive terms can help us draw out an enormous range of observations in paintings, and this provides an ideal framework to delve deeper into the meaning, and cause, of change in art history!


Nota. - So verführerisch Wölfflins fünf Kategorienpaare erscheinen, man wird sie doch rein pragmatisch diskutieren müssen. Denn auf einen philosophischen Über- oder besser Unterbau wie die Kant'sche Kategorientafel müssen sie doch verzichten. 

Kants Kategorien waren eine halbe Sache. Er erklärt nicht, versucht nicht einmal zu erklären, wo er sie – bei ihm sind es vier mal drei – her hat, weshalb es genau so viele und nicht mehr und nicht weniger sind. Er hat gesucht, gesammelt, versucht, hin und her erwogen, manches verworfen, und dies ist eben übriggeblieben. Denn dass er sie auf eine irgend vertretbare Weise 'aus der Erfahrung' induziert hätte, kann er nicht glauben machen; und dass er sie aus logischen Prämissen deduziert hätte, gibt er gar nicht vor. Man weiß schlechterdings nicht, wo sie herkommen und wer oder was sie in die Welt gesetzt hat.

Tatsächlich markieren sie die Grenze, an der Kant selbst bei seiner transzendentalen Herleitung des tatsächlichen Bewusstseins der Menschen aus den urspünglichen Handlungsweisen der Intelligenz Halt gemacht hat. Er hätte weitergehen können, sollen, J. G. Fichte hat es an seiner Stelle getan, um schließlich bei der Tathandlung des 'sich-selbst-setzenden' Ich anzukommen (hinter die man tatsächlich nicht weiter zurück kommt). 

Darauf führt er freilich nicht 'die Welt' zurück, sondern – da folgt er Kant – nur unsere Vorstellungen (Erfahrungen, Begriffe, 'Bilder') von der Welt, denn die sind alles, was wir von der Welt kennen. Aber er führt sie aus ihnen zurück, das, was wir 'von der Welt wissen', ist das faktische Material, in dem er das absichtsvoll anschauende Subjekt freilegt. Das ist die erste, 'analytische' Strecke der Transzendentalphilosophie. Die zweite, 'synthetische' Strecke führt wieder zurück und rekonstruiert daraus das tatsächliche Bewusstsein; und unterwegs mag man, wenn man will, auf einer Wegetappe die 'Kategorien' wieder antreffen!

Irgendetwas Vergleichbares hat Wölfflin nicht unternommen. Wieviel seine fünf mal zwei Kategorien taugen, muss die Betrachtung an den Werken immer neu erproben. Sie dogmatisch der Betrachtung vorausschicken darf er nicht; aber eben das ist ihm wohl von Kritikern immer wieder nachgesagt worden.
JE


Montag, 14. Dezember 2015

Fast nichts; aber in Caravaggios Manier.





















Mitch Griffiths uses a traditional, almost forgotten style of painting, inspired by the light and composition of Old Master paintings, but he uses this style to depict the issues concerning 21st-century British society. His main subject is the transient and throwaway nature of contemporary culture, which is held in stark contrast to the permanence and indelibility of oil paint on canvas.
Artodyssey

Nota. – Einer von denen, die alles können, viel Talent haben und fleißig gelernt dazu; der aber, wie fast alle andern, nicht weiß, was er machen soll. Aber, ach herrje, er hat was zu sagen; tut das aber nicht, sondern malt – das kommt dabei her-aus. Enormer Aufwand für so'n bisschen! Malen wie Caravaggio ist nicht bloß eine Sache der Pinselführung (in Öl auf Leinwand). Aber er ist noch jung, Jg. 1971, er kann noch was draus machen.

Fällts Ihnen auf? Räume gestalten ist nicht seine Sache. Sonst müsste er nicht so plakativ sein. Beschränktheit oder Selbstbeschränkung? Vielleicht steckt da das Problem.
JE