Mittwoch, 9. Dezember 2015

Das Pendel von Form und Ausdruck.

Polyklet

131. Das Aufregende in der Geschichte der Kunst. — Verfolgt man die Geschichte einer Kunst, zum Beispiel die der griechischen Beredtsamkeit, so geräth man, von Meister zu Meister fortgehend, bei dem Anblick dieser immer gesteigerten Besonnenheit, um den alten und neuhinzugefügten Gesetzen und Selbstbeschränkungen insgesammt zu gehorchen, zuletzt in eine peinliche Spannung: man begreift, dass der Bogen brechen  muss und dass die sogenannte unorganische Composition, mit den wundervollsten Mitteln des Ausdrucks überhängt und maskirt — in jenem Falle der Barockstil des Asianismus — einmal eine Nothwendigkeit und fast eine Wohlthat war.

Barberinischer Faun

144. Vom Barockstile. — Wer sich als Denker und Schriftsteller zur Dialektik und Auseinanderfaltung der Gedanken nicht geboren oder erzogen weiss, wird unwillkürlich nach dem  Rhetorischen und  Dramatischen greifen: denn zuletzt kommt es ihm darauf an, sich  verständlich zu machen und dadurch Gewalt zu gewinnen, gleichgültig ob er das Gefühl auf ebenem Pfade zu sich leitet, oder unversehens überfällt — als Hirt oder als Räuber. Diess gilt auch in den bildenden wie musischen Künsten; wo das Gefühl mangelnder Dialektik oder des Ungenügens in Ausdruck und Erzählung, zusammen mit einem überreichen, drängenden Formentriebe, jene Gattung des Stiles zu Tage fördert, welche man  Barockstil nennt. — 


Nur die Schlechtunterrichteten und Anmaassenden werden übrigens bei diesem Worte sogleich eine abschätzige Empfindung haben. Der Barockstil entsteht jedesmal beim Abblühen jeder grossen Kunst, wenn die Anforderungen in der Kunst des classischen Ausdrucks allzugross geworden sind, als ein Natur-Ereigniss, dem man wohl mit Schwermuth — weil es der Nacht voranläuft — zusehen wird, aber zugleich mit Bewunderung für die ihm eigenthümlichen Ersatzkünste des Ausdrucks und der Erzählung. 

Dahin gehört schon die Wahl von Stoffen und Vorwürfen höchster dramatischer Spannung, bei denen auch ohne Kunst das Herz zittert, weil Himmel und Hölle der Empfindung allzunah sind: dann die Beredtsamkeit der starken Affecte und Gebärden, des Hässlich-Erhabenen, der grossen Massen, überhaupt der Quantität an sich — wie diess sich schon bei Michelangelo, dem Vater oder Grossvater der italiänischen Barockkünstler, ankündigt —: die Dämmerungs-, Verklärungs- oder Feuerbrunstlichter auf so starkgebildeten Formen: dazu fortwährend neue Wagnisse in Mitteln und Absichten, vom Künstler für die Künstler kräftig unterstrichen, während der Laie wähnen muss, das beständige unfreiwillige Ueberströmen aller Füllhörner einer ursprünglichen Natur-Kunst zu sehen: diese Eigenschaften alle, in denen jener Stil seine Grösse hat, sind in den früheren, vorclassischen und classischen Epochen einer Kunstart nicht möglich, nicht erlaubt: solche Köstlichkeiten hängen lange als verbotene Früchte am Baume. — 


 
E. L. Kirchner, Rückkehr der Tiere, 1919

Gerade jetzt, wo die  M u s i k  in diese letzte Epoche übergeht, kann man das Phänomen des Barockstils in einer besonderen Pracht kennen lernen und Vieles durch Vergleichung daraus für frühere Zeiten lernen: denn es hat von den griechischen Zeiten ab schon oftmals einen Barockstil gegeben, in der Poesie, Beredtsamkeit, im Prosastile, in der Sculptur eben so wohl als bekanntermaassen in der Architektur — und jedesmal hat dieser Stil, ob es ihm gleich am höchsten Adel, an dem einer unschuldigen, unbewussten, sieghaften Vollkommenheit, gebricht, auch Vielen von den Besten und Ernstesten seiner Zeit wohl gethan: — wesshalb es, wie gesagt, anmaassend ist, ohne Weiteres ihn abschätzig zu beurtheilen, so sehr sich Jeder glücklich preisen darf, dessen Empfindung durch ihn nicht für den reineren und grösseren Stil unempfänglich gemacht wird. 
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Nietzsche, Menschliches, Allzumenschliches. N° 131; 144


Nota. - In der Kunstgeschichte kursiert eine Trivialität, nämlich dass fast wie nach dem Naturgesetz des Pendelschlags auf eine Epoche des Klassizismus stets ein Epoche des Expressionismus folge; und Paradesbeispiel ist der Übergang und Umschlag der italienischen Renaissance ins Barock. Das Ärgerliche an dieser Trivialität ist, dass sie nach bloßem Augenschein einiges für sich hat.


Es sei aber hinzugefügt: Das kann natürlich nur sein, wo die Geschmacksbildung in der Öffentlichkeit stattfindet – und wo sich folglich Stile ausbilden können.
JE
Schlemmer, Geländer

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