Kurze Weltgeschichte der Kunst.
Es führt in die Irre, das Ästhetische durch die Kunst zu definieren, wie es von Hegel bis Gadamer immer wieder versucht wurde. Aber es führt auch in alle möglichen Sackgassen, die Kunst durch das Ästhetische bestimmen zu wollen. Haute Cuisine ist ein Kunst, und doch essen wir nicht um des Geschmacks willen. Na ja, manchmal schon. Aber wenn es sein müsste, würden wir auch dem Geschmack zum Trotz essen.
Ohne Essen hätte unsere Spezies nicht überlebt (und keine andere), ohne Kunst womöglich doch, und wenn an der Kunst gar nichts Ästhetisches wäre, wollte sie keiner haben. Ohne das Ästhetische würde es keine Kunst geben, aber das Ästhetische würde es auch ohne Kunst geben - nur hätten wir es womöglich nicht erkennen gelernt, und für uns wäre es also nicht...
Die Frage, ob das Ästhetische durch die Rolle bestimmt ist, die es in der Lebenspraxis spielt, ist nicht die Frage, welche Stellung die Kunst in der Gesellschaft hat und wie wichtig sie in meinem Leben ist. Das Ästhetische ist geradezu dadurch definiert, dass es keine Rolle in der Lebenspraxis spielt: als dasjenige, was übrigbleibt, wenn man alle nützlichen Dinge und alles Nützlich an den Dingen abgezogen hat (was restlos gar nicht möglich ist, denn wenn es stimmt, dass Grün meine Nerven beruhigt, während Orange sie aufregt, dann kann ich zumindest diese Farben niemals 'rein ästhetisch erleben'). Das Ästhetische ist der bestimmte Gegensatz zum Nützlichen.
Die Kunst steht dazu in einem Verhältnis der Teilhabe, méthexis: "Ein bisschen" stand die Kunst "immer auch" im Gegensatz zum Ökomischen, zur materiellen Produktion, und wenn noch dem praktischsten Utensil eine gute Form gegeben wird, dann wird sie doch als das Uneigentliche daran erkannt; siehe La Fontaines Fabel von dem geschnitzten Bogen.
Das ist ein zaghaftes, tastendes, stets unsicheres Verhältnis; es ist nämlich seinerseits 'nichts als' ein Ausdruck der prekären Stellung des Künstlers gegenüber dem Arbeiter. Originär ist die Kunst dadurch entstanden, dass sich ein gesellschaftlicher Stand von Menschen ausgebildet hat, die ihren Lebensunterhalt dadurch bestritten, dass sie ästhetisch-ausgezeichnete Dinge herstellten, die sie gegen nützliche Dinge eintauschten, die die Andern herstellten – oder gegen ihre allgemeinen Stellvertreter, das Geld. Je wohlhabender die Andern werden, umso weniger müssen die Künstler auf deren profane Bedürfnisse (etwa nach hübschen Illusionen) Rücksicht nehmen – denn umso weiter können jene über dieselben hinausschauen.
Mit der Sackgasse der Abstraktion, mit dem Ende der Avantgarde, mit der Beliebigkeit des Alles-schon-mal-Dagewesenen klingen solche Debatten wie Nachrufe. Mit einbrechender Dämmerung steigt die Eule der Minerva auf uns sieht, was Kunst einmal gewesen ist und welchen Beitrag zur Ästhetisierung der Welt sie einmal geleistet hat.
Samstag, 28. März 2015
Mentor Huebner, Selbstporträt, 1946 aus Über Ästhetik.24.
Oskar Becker, Von der Abenteuerlichkeit des Künstlers...[Alexander-Verlag, Berlin 1994]
[hat das Verdienst, das Wesen der ‚Kunst’ nicht aus dem Werk zu bestimmen, sondern aus dem Künstlertum!]
a) Der Künstler sei die ‚eigentlichste’ Gestaltung des Menschen - weil er jederzeit vom Mißlingen bedroht ist. (‚Der Mensch’ ist bei Becker, wie bei allen Heideggerianern, der bürgerliche Mensch; ist auch richtig, insofern dieser in jenem endlich „seine Bestimmung gefunden“ hat.)
b) Das Ästhetische ist darum die geheimnisvollste Region des Geistes, weil darin sein (absurder) Symbolismus am unmittelbarsten, nämlich anschaulich erscheint: Daß die Dinge, außer dem, wie sie erscheinen, auch noch Etwas bedeuten sollen (tiens: so ‚fast wörtlich’ bei Lotze, Ästhetik, §§ 5-7! Daß allerdings diese vorgängige Annahme auf der Sprachlichkeit unseres Bewußtseins beruht, steht bei ihm natürlich nicht.); so daß „eigentlich“ das Ding nur ein Zeichen für seine Bedeutung ist: ‚Alles Vergängliche ist nur ein Gleichnis’ - à supposer: für das Unvergängliche, welches es „bedeutet“ (Faust II, Schluß). Wobei sich die Frage einschleicht: Wer hat die Dinge „bedeutet“?! -
Das ästhetische Erleben hat die Eigentümlichkeit, daß die „Erscheinungen“ unmittelbar als bedeutsam ‚erlebt’ werden; nämlich die einen als „bedeutsamer“ als die andern - das, was herkömmlich Schönheit genannt wurde. (Es ist die Frage „Was soll das bedeuten?“, die das Werk zu einem Kunstwerk macht.)
(Das ästhetisch-Bedeutsame wurde so lange als schön bezeichnet, um nicht zu sagen: „definiert“
{Allein das Schöne wurde so lange als ästhetisch-bedeutsam empfunden…}, als allgemein die Erwartung herrschte, das ästhetische Erleben habe eine Aufgabe zu erfüllen: nämlich Erscheinung und Bedeutung (anschaulich!) „zur Übereinstimmung zu bringen“; „Einheit von Form und Inhalt“, wie das völlig bedeutungsleer bei Hegel ausgedrückt ist. Hingegen wird seit der Romantik zunehmend „hingenommen“, wenn die Erscheinung („Stoff“) ihre Bedeutung („Idee“) verfehlt (desavouiert: Ironie) und beide unvereint neben einander stehen bleiben. Seit zugegeben wird, daß auch der Zwiespalt ästhetisch bedeutsam ist, ja bedeutsamer gar als die Harmonie, hört ‚das Schöne’ auf, „Maß und Substanz“ des Ästhetischen zu sein. (Rosenkranz, Ästhetik des Häßlichen: rein phänomenale Registratur, aber er erkennt, daß eben nicht allein das Schöne Inhalt der Ästhetik ist.)
Seither kann eingesehen werden: Nicht das Häßliche sei der Gegensatz des Schönen, sondern das Langweilige, das Bedeutsame vs. das Triviale. (ders. Becker, Baudelaire, S. 31)
Kunst ist, was Künstler tun; zum xten.
Wir leben in einer Epoche, wo - nicht allein, aber auch nicht zuletzt - die Neuen Medien dafür sorgen, dass kein Bild mehr an die Öffentlichkeit gelangen wird, das nicht - so oder ein bisschen anders - schonmal dagewesen ist. Alles, was in der zeitgenössischen Kunst etwas taugt, von Gerhard Richter über Cy Twombly* bis zu den amerikanischen Hyperrealisten, sind nur Variationen zu dem Thema Was kann man heute noch malen? Und ihr jeweiliger anschaulich-ästhetischer Gewinn besteht eben in der Variation und nicht im Werk. Mit andern Worten: Wenn es je sinnvoll gewesen wäre, 'Kunst' an der Qualität (Washeit) ihrer Produkte zu definieren - dann ist das heute vorbei.
Man hätte sagen können: Kunst ist eine bildnerische Praxis, die, wenn sie gelingt, die Augen der Zeitgenossen öffnet für ästhetische Qualitäten, die zuvor noch nicht sichtbar waren.
Richard Estes, Urban Landscapes, bridge
Das ist verführerisch, aber es ließ immer die Frage offen: Wer oder was entscheidet darüber, was in der Kunst gelungen ist und was mißraten? Und das ist ein Fass ohne Boden. Was Kunst ist, definieren zu wollen durch ihre ästhetische Qualität, läuft darauf hinaus, Kunst nicht definieren zu können. Und recht besehen war das auch der Zweck der definitorischen Übung; denn sie ging immer aus von den unmittelbar Interessierten: den Künstlern selbst und ihren... nun ja, Agenten. Diente das epochale Werk Giorgio Vasaris etwa nicht der Propagierung - Marketing heißt das heute - des aufkommenden Manierismus in der italienischen Malerei? Wird einer behaupten, er habe sich um 'Objektivität' überhaupt bemüht? Er postulierte die Maßstäbe, denen er in seinem eigenen Werk selber gefolgt war und weiter zu folgen gedachte. Anders ist Kunstgeschichte unter dieser Prämisse auch gar nicht möglich, und darum wurde sie auch niemals ohne Interesse betrieben.
Kunst war erstens ein sozialgeschichtliches Phänomen und wurde zweitens zu einer kulturellen Instanz. Da ist zuerst das Aufkommen des Künstlers als Phänotyp. Als Professioneller nämlich, zünftig organisiert und gegen andere Berufsgruppen privilegiert. So jedenfalls im Abendland, wo Kunst in specie entstanden ist, unterm Protektorat einer feudalen Amtskirche zunächst und bald auch zum Lob und Preis weltlicher Herrschaft. Ihre Entfaltung verdankt sie nicht unwesentlich ebendieser ambivalenten Stellung als Dienerin zweier Herrn mit konkurrierenden Interessen. Und erst recht ihren Aufstieg - parallel zum Aufstieg des Gelehrtenstandes - zur autoritativen Instanz, die wie die Wissenschaft eine autonome Stellung zwischen den Mächten geltend macht. Und nur darum konnte die eine nichts als die Wahrheit und die andere das Schöne selbst zu ihrem (fast) ausschließlichen Geschäft machen und den Zwiespalt des menschlichen Geistes als reflektierende Absicht und als zweckfreie Betrchtuung objektivieren. Wie der Erfinder und der Gelehrte erscheint der Künstler mit der Renaissance als Held, der mit den Aristokraten auf Du ist, seit die (in Italien) keine Blaublütler, sondern nur noch Parvenüs sind.
Tizian, Selbstporträt, 1547
Natürlich hält diese Stellung der folgenden Entwicklung zur bürgerlichen Gesellschaft nicht stand, denn zwischen Bourgeoisie und Bourgeoisie ist schlecht schweben. Als Geschäftspartner stehen weder der Künstler noch der Gelehrte dem Kapitalisten ebenbürtig gegenüber, denn während Kirche und weltliche Herren auf die öffentliche Repräsentation ihrer Herrschaft durch Schönheit und Wissen dauerhaft angewiesen waren, kann der Bourgeois als Privatmann auf die Hohe Kunst verzichten und sich mit einem kitschigen Surrogat begnügen. Der Wissenschaftler konnte sich als Supervisor des Technikers unabkömmlich machen, was sich der Kapitalist als Geschäftsmann etwas kosten lässt, aber dem Künstler blieb nur das Abenteuer der Bohème; wenn er nämlich auf der Kunst um ihrer selbst willen beharrte und sich zum Serienfertiger wohlfeiler Massenware zu vornehm blieb. (Vorher gab es keine Unterscheidung zwischen Kunst und Kitsch).
So entstand die Avantgarde, seit der Romantik eigentlich, und der Romantiker verstand den Künstler als Genie,und rückblickend verklärte Ludwig Tiecks Franz Sternbald noch den Zunftgesellen der mittelalterlichen Malerwerkstatt dazu.
Als Kunst gilt seit rund hundert Jahren nur noch das, was zu der Frage Ist das überhaupt noch Kunst? Anlass gibt. Kunst ist avantgardistisch - oder akademische Afterkunst. In den fünfziger, sechziger Jahren waren erkennbare Gegenstände auf den Bildern regelrecht untersagt. Abstrakt war nicht erst die Avantgarde, sondern noch der Tross.
Willi Baumeister, Zwei Laternen, 1955 (Avantgarde oder Tross?)
Die Abstraktion musste sich bald totlaufen, denn bloße Farben und Formen sind erschöpflich, und Varianten im Mikrobereich sind irgendwann langweilig. Bleibt das dekorative Bemalen von Leinwänden in Wandgröße, aberoriginell ist das nun auch nicht mehr. Wohl oder übel müssen die Gegenstände wieder hergenommen werden - wenn man schon das Malen nunmal nicht lassen kann. Welch eine Verlegenheit! Man sieht sie allenthalben. Ihr von Sotheby und Christie's gekrönter König ist Gerhard Richter, der offenkundig alles kann (wie kein zweiter), aber ebenso offenkundig nicht weiß, was er wollen soll.
(Merke: Das Tafelbild hat es nicht immer gegeben.)
*) Der überrascht Sie an dieser Stelle? Es ist ja auch kein ästhetisches Urteil. Was er gemacht hat, "taugt" nur als Variation zu diesem Thema. - Na ja, ein paar Sachen taugen schon noch etwas mehr.
Gerhard Richter, Seascape (Wave), 1969
Kommt Kunst vor Ästhetik?
aus Kraftlose Chimären...gar nicht um Ästhetik, sondern um Kunst. Wenn sie auch beide "irgendwie" miteinander zu tun haben, sind sie doch nicht dasselbe. Wohl hat in unserer Geschichte erst das Kunstschöne die Augen für das Naturschöne geöffnet, weshalb sich die Landschaftsmalerei erst im bürgerlichen Zeitalter entfalten konnte. Aber 'das, was' die Kunst an der Natur Schönes zu sehen lehrte, hatte sie nicht selbst gemacht, sondern nur aufgefunden. Sie hat uns ein Auge nicht erst eingesetzt, sondern lediglich unsern Blick gewendet.
Es muss also möglich sein, was Kunst ist, zunächst historisch zu fassen, wo wir diskursiv und zwingend argumentieren dürfen, bevor wir ihr Verhältnis zu 'dem Ästhetischen' betrachten, über das wir nur in Bildern reden können. Daraus mag erhellen, ob ihr Verhältnis außer einem historisch-kontingenten auch ein sachlich notwendiges ist.
Und hier kann ich mich glücklicherweise kurz fassen: Kunst ist das, was Künstler machen. Kunst wird dann zu einer kulturgemeinschaftlichen Instanz - über die eo ipso öffentlich gestritten werden kann -, wenn sich ein gesellschaftlicher Stand ausbildet, der von der Kunst und - da es sie anders nicht gäbe - für die Kunst lebt. Das kann er nur, wenn und weil 'das Ästhetische' in der Kultur neben dem Brauchbaren schon ein eignes Gewicht angenommen hat. Das Ästhetische entsteht nicht aus der Kunst, sondern aus den höheren Bedürfnissen, sobald die niederen Bedürfnisse erst einmal besorgt sind. (Dass die höheren Bedürfnisse zunächst nur die Bedürfnisse der oberen Klassen sind, gehört zu den Tücken unserer selbstgemachten Geschichte.) Erst dann kann sich die Produktion des Schönen oder sonstwie ästhetisch Erheblichen neben der und gegen die Produktion von Brauchbarem als besondere Erwerbsweise festsetzen; als Kunst im Unterscheid und im bestimmten Gegensatz zur Arbeit.
Kunst und das Einmalige.
Honoré Daumier, Conseils à un jeune artisteMusik sei nicht zu unbestimmt, um in Worte gefasst zu werden, hat Felix Mendelssohn gesagt, sondern zu bestimmt.
Heute würden wir sagen: Das Musikstück – und jedes Kunststück – ist überbestimmt. So sehr bestimmt, dass es durch allgemein-geltende Zeichen eben nicht sicher erfasst und vollkommen re-präsentiert werden kann. Das Kunststück ist singulär. De singularibus non est scientia - Von einem Einzigen gibt es kein Wissen, sagten die Scholastiker. Das, was ganz allein auf der Welt so ist, wie es ist, das kann durch kein Anderes – Bekanntes – auf der Welt beschrieben werden. Es ist lediglich quale; schon quid wäre zu viel gesagt, weil das an ein Verhältnis zu Anderem glauben lässt.
*
Das ist eine erkenntnislogische Sache. Was hat das mit Kunst zu tun? Dies, dass Kunst als solche keine Erkenntnis ist. Als solche, das heißt: sofern sie um ihrer selbst und nicht um eines ihr äußeren Zweckes willen besteht. Das ist aber bei den Werken und sogar den einzelnen künstlerischen Gattungen ganz verschieden. Selbst die Musik, die nur hörbar ist, solange sie erklingt, hat man ein 'Programm' verkünden lassen. Es stört aber meistens, und man tut der Musik und sich einen Gefallen, wenn man es übersieht.
Nicht übersehen lässt sich das Programm, das Thema, die Absicht in den bildenen Künsten. Das Bild als Zeichnung kann ganz unbemerkt zum Zeichen werden für etwas, das nicht es selber ist. Wenn der Betrachter es so nimmt, tut er der Kunst kein Unrecht, das gehört zu ihren Unwägbarkeiten, aber vielleicht dem Künstler, der es nicht so gemeint hat, und sich selber, den der damit von der ästhetischen Qualität des Werks ablenkt.
Und wenn der Künstler selber es so gemeint hat?
Die Verbindung von Zeichnung und Zeichen ist nicht bloß ein Wortspiel. Die Zeichnung ist am Bild das, was am deutlichsten zeigt, was gemeint ist. Der Umriss der Dinge und Figuren, ihre Binnenlinien sind dasjenige, war das Gezeigte im Raum situiert. Die Zeit steht im Bild zwar still, aber dennoch kann das Bild eine Geschichte erzählen, indem es nämlich eine Szene daraus darstellt.
Raum und Zeit sind nun die beiden Merkmale des Wirklichen, mit und in dem wir leben und unsere Interessen haben. Das Wirkliche, das, was uns interresiert, ließe sich auch in Worte fassen, die das spezifische Medium der scientia sind. Was immer sich in Worte fassen ließ, war mit Anderm zu vergleichen und positiv oder negativ oder sonstwie in Beziehung zu setzen. Es war dann kein Einzelnes, sondern etwas, an dem ich Interesse haben und von dem ich wissen kann.
Darf der Künstler es dann in ästhetische Gewänder kleiden und womöglich unerkannt dem Betrachter in die Sinne schmuggeln? Das kann er machen, wenn er sich nicht dabei geniert. Aber die Betrachter - es gibt eben doch einen Fortschritt in der Kunst - haben es im Laufe der Jahrhunderte immer weniger zu schätzen gewusst und teils als Agitprop, teils als Kitsch und teils als Agitpropkitsch verschmäht.
“Ist das überhaupt noch Kunst?”
Die Frage “Ist das überhaupt noch Kunst?” hat zur stillen Voraussetzung, dass die Antwort jeweils über den Rang des Werks entscheidet. Ihr liegt also offenbar eine Hochachtung für ‘die Kunst’ zu Grunde; nämlich sofern sie “wahr” ist.
Ist dem von Natur aus so? Es hat seinerseits eine historische, empirische Voraussetzung; dass sich nämlich in den westlichen, bürgerlichen Kulturen seit der Renaissance die Kunst zu einer gesellschaftlichen Instanz entwickelt hat! Eine Instanz, die gegenüber dem Rest der Gesellschaft Autorität hat – sonst wäre sie ohne Sinn (und es gäbe sie nicht).
‘Die Kunst’ besteht damit als Gegenstück, als Gegensatz zu ‘der Wissenschaft’, die ihrerseits in den modernen Gesellschaften Autorität beansprucht.* Beide Instanzen verstehen sich – und werden verstanden – als Spiegel undGewissen der Welt. Jede, wohlbemerkt, für sich. Aber entstanden sind sie miteinander, im ‘Prozess der Zivilisation’. Und darum gelten sie auch immer nur mit-, wenn auch gegeneinander.
•Februar 11, 2009
*) Und beide stehen notabene im Gegensatz zur Arbeit.
Das Schöne ist die Lösung eines artistischen Problems
José Villegas Cordero, Self-Portrait aus Rohentwurf, 31.... Die Bildung der ‚Kunst’ zu einem besonderen [‚Lebensbereich’?] [‚Dimension’?] ist ein Erzeugnis der (westlichen) Moderne (Renaissance). - Indes: Die „Verselbständigung“ der Kunst ‚besteht’ in nichts anderem,als daß sie zu einem Problem wird: „Was ist überhaupt Kunst?“!
a) Das Schöne ist die Lösung eines artistischen Problems; b) das artistische Problem: Was ist Kunst? c) Das Schöne ist die Antwort auf die Frage: Was ist Kunst. d) Das Schöne ist das, was durch Kunst entstand; Kunst ist, was Schönes schafft; das Naturschöne ist das, was so aussieht, als ob ein Künstler es erschaffen hätte... Wodurch aber wird ein Problem zu einem „artistischen“? Dadurch, daß ein Künstler es sich stellt! Nämlich die Frage: Was ist das Schöne? - Ein Existenzialist avant la lettre. Atemberaubend. - Aber in meinen Worten kann ich es so sagen: Das Schöne „ist“ nur als Problem, und wer es sich „zum Beruf macht“, ist ein Künstler.
Genauer besehen ist aber auch die ‚Verselbständigung’ der Kunst ‚nichts anderes’ als die Herausbildung des Künstlers zu einem besondern Phänotyp („Existenzweise“) - wiederum seit der Renaissance. Daß aber Kunst zum Problem wird, ‚setzt sich zusammen’ a) aus der ‚Verselbständigung’ des Künstlers; und b) dem Vordringen des „ästhetischen Erlebens“ auf Kosten des ökonomischen Bedürfnisses (d. h. Fortschritt der ‚Freiheit’). - Beides gehört in der „ästhetischen Theorie“ gesondert betrachtet; um sich hernach (evtl.) als „zwei Seiten derselben Medaille“ zu erweisen, nämlich ‚Wachstum und (ipso facto) Selbstüberwindung der Arbeitsgesellschaft’; Eingreifen des Überflusses ins Reich der Notwendigkeit.
Kunst ist die reine Form der Tätigkeit: Tätigkeit aus Freiheit.
...
Kunst findet immer die Kritik, die sie verdient.
Kunst findet immer die Kritik, die sie verdient.
G. von Max, Die Kunstrichter
Was ist Kunst? Der phänomenale Ansatzpunkt für die Beantwortung dieser
beliebten Frage ist ein doppelter; erstens hat sich in der bürgerlichen
Gesellschaft in den letzten fünfhundert Jahren ein Stand
ausgebildet, der für die und von der Kunst lebt und in einem
spezifischen Gegensatz zum Arbeitnehmer steht; und zweitens, was
freilich die Voraussetzunge des ersten ist: Die Kunst hat sich in der
bürgerlichen Gesellschaft zu einer öffentlichen Instanz ausgebildet,
die in Gegensatz und Widerspruch zu jener andern Instanz steht: der
Wissenschaft, und beide rechtfertigen sich als Gegensatz zum
Wesentlichen: der Ökonomie.
Das ist eine phänomenale, historische, "übersummative" Beschreibung der Kunst: denn sie ist nicht nur mehr, sondern auch etwas Anderes als die Summe der Werke. Darum taugt sie leider nicht zur Beantwortung der marktrelevanten Frage: "Ist das denn überhaupt Kunst?" Will sagen: Darf ich darauf rechnen, dass der Geldwert erhalten bleibt und hopefully steigt?
Und an wen geht die Frage? An den Kritiker. Aber im Detail kann die Kritik das gar nicht beantworten; denn sie ist nicht nur mehr, sondern auch etwas Anderes als die Summe ihrer Rezensionen. Sie ist öffentliche Instanz, nämlich immanente Instanz der Kunst selbst. Sie gehören zueinander, wie seit der Jenaer Romantik aktenkundig ist. Und das im übrigen nicht erst, seit der Kunstmarkt eine bürgerliche Angelegenheit ist: Die Kardinäle, die den Caravaggios ihre Avantgardismen abgekauft haben, waren zugleich die wahren Kenner und Kritische Instanz; und als solche bestimmten sie wie im Kunstbetrieb unserer Tage den Marktwert.
Das ist eine phänomenale, historische, "übersummative" Beschreibung der Kunst: denn sie ist nicht nur mehr, sondern auch etwas Anderes als die Summe der Werke. Darum taugt sie leider nicht zur Beantwortung der marktrelevanten Frage: "Ist das denn überhaupt Kunst?" Will sagen: Darf ich darauf rechnen, dass der Geldwert erhalten bleibt und hopefully steigt?
Und an wen geht die Frage? An den Kritiker. Aber im Detail kann die Kritik das gar nicht beantworten; denn sie ist nicht nur mehr, sondern auch etwas Anderes als die Summe ihrer Rezensionen. Sie ist öffentliche Instanz, nämlich immanente Instanz der Kunst selbst. Sie gehören zueinander, wie seit der Jenaer Romantik aktenkundig ist. Und das im übrigen nicht erst, seit der Kunstmarkt eine bürgerliche Angelegenheit ist: Die Kardinäle, die den Caravaggios ihre Avantgardismen abgekauft haben, waren zugleich die wahren Kenner und Kritische Instanz; und als solche bestimmten sie wie im Kunstbetrieb unserer Tage den Marktwert.
Die Kunst im Leben.
Velázquez, Triumph des BacchusEinstmals muß die Kunst der Künstler ganz in das Festebedürfniß der Menschen aufgehen: der einsiedlerische und sein Werk ausstellende Künstler wird verschwunden sein: sie stehen dann in der ersten Reihe derer, welche in Bezug auf Freuden und Feste erfinderisch sind.
____________________________
Friedrich Nietzsche, Fragmente I [81]
Nota. - Anfangs ist Kunst eine sonntägliche Angelegenheit. Sie steht in einem bestimmten Gegensatz zur Arbeit und hat eine spezifische Nähe zu Müßiggang und Spiel. Der eigentümlich Stoff der Kunst, das Ästhetische, ist noch ganz den Zwecken des Werktags unterworfen. Sie steht am Rande der Gesellschaft; ihr gegenüber, am andern Ende, steht sie Wissenschaft. Im neunzehnten Jahrhundert, mit dem Aufkommen der großen Industrie, beginnen sie beide, die Gewissheiten des täglichen Lebens zu untergraben. An beiden Rändern entsteht hinter den langen Kolonnen der Marktgänger eine Avantgarde.
In dem Maße, wie die Arbeit aufhört, Sinn des Lebens zu sein, hört die Kunst auf, ihr polemisch entgegenzustehen; sie wird unanstößig und die Avangarde geht selber zu Markte. Gemalt und gebildhauert wird nur noch für Milliardäre. Das verwaiste Ästhetische muss sich andere Fürsorger suchen. Das wird ihm so schwer vielleicht nicht fallen, denn mit der Entwertung der Arbeit verblassen deren Zwecke, und das Ästhetische sickert in den Alltag ein. Da bringt es nicht immer Meisterwerke hervor, vieles ist richtiger Mist, und dann ist abfällig von Massenkultur die Rede, oft nicht zu Unrecht, aber wer will an die Masse höhere Anforderungen stellen als an die Eliten?
Es wird wohl nie der Werktag zum Festtag und niemals ein jeder zum Künstler werden. Aber die Finder und Erfinder des Ästhetischen werden ein breiteres (und mannigfaltigeres) Publikum finden als die früheren Eliten.
Wie anspruchsvoll die Massen sind, hängt dann freilich davon ab, was ihnen von den Könnern geboten wird.
JE
Jeder Mensch ein Künstler?
Descamps
"Jeder Mensch ein Künstler!": Wenn das wäre, dann wäre kein Mensch ein Künstler. Dann gäbe es keine Kunst. Denn der Unterschied zwischen Kunst und Arbeit müsste dann entfallen. Arbeit ist subaltern: Sie unterliegt einem Zweck, wenn sie den nicht erfüllt, ist sie wertlos. Kunst ist Spiel: Sie hat keinen Zweck, sie geschieht um ihrer selbst willen. Idealiter; denn solange die Künstler vom Verkauf ihrer Werke leben müssen, mischt dieser Zweck sich immer störend ins Spiel der Kunst mit ein.
Vorausgesetzt ist: Kunst als gesellschaftliche Instanz, die ihren Anghörigen den Status Künstler verschafft, entstand im Gegensatz und als Gegensatz zur Arbeit; und solange Arbeit in der Ausführung fremdbestimmter Zwecke besteht, bleibt ihre Selbstständigkeit gerechtetfertigt und gehört die Verteidigung ihre Autonomie zum Künstlertum dazu.
In einer Welt aber, wo die ausführenden und schließlich gar die die Ausführung planenden Tätigkeiten von klugen Maschinen besorgt werden. bliebe dem lebendigen Arbeiter nur das Entwerfen der Zwecke als Tätigkeitsbereich. Der Unterschied zum Spiel des Künstlers verblasst. Dann würden die verbleibenden Arbeiter wirklich ein bisschen zu Künstlern, während die große Masse, die dann keine Arbeit mehr hat, ihre Zeit ohnehin mit Spielen verbringen müsste. Kunst als besondere Instanz würde entfallen.
Architektur ist keine Bildende Kunst.
Seit in der Malerei das historisch-motivisch-Thematische hinter das rein-Ästhetische zurückgetreten ist, wurde das Neue allerdings zu einer notwendigen Bedingung der Bildenden Kunst. Nicht mehr sein Gegenstnd kann das Werk rechtfertigen, sondern allein seine ästhetische Qualität. Und die muss, je mehr man "alles schon mal gesehen hat", eineneue sein: Der Künstler rechtfertigt sich, indem er dem Publikum die Augen öffnet für etwas, das vorher nicht sichtbar war.
Da müssen sie sich seit gut einem halben Jahrhunderet immer fester an den Finger saugen, damit was kommt, und die Unken im Tümpel lassen vernehmen: "Das Tafelbild ist erschöpft, mit der Malerei geht es zu Ende."
Die Architektur ist keine Bildende Kunst, sondern ein nützliches Handwerk. Sie schafft Räume, die für Zwecke bestimmt sind. Wenn sie ihrem Zweck gerecht werden, gefällt es dem Bauherrn - aus Interesse. Aber Bauwerke stehen - je größer sie sind, umso auffälliger - in der Öffentlichkeit. Die Öffentlichkeit fragt, soweit sie nicht selber zu den Nutzern zählt, nicht nach der Funktion, sondern "ob es in seine Umgebung passt". Darüber kann gestritten werden; aber nicht dafür baut der Architekt ein Haus, sondern damit es eben seinen Zwecken entspricht.
Repräsentation gehört zu den möglichen Zwecken eines Bauwerks (und eines Gemäldes, solange Kunst auch aus Interesse gefallen sollte). Dies auf der einen, der zwie- oder mehrspältige Anspruch der Öffentlichkeit, 'dass es in seine Umgebung passt', auf der andern Seite eröffnet der Architektur einen weiten ästhetischen Spielraum; macht sie aber nicht zu einer Bildenden Kunst. Macht die Architekten nicht zu Künstlern, aber womöglich zu mehr als das. Anders als jene können sie nämlich nicht in Beliebigkeit versacken. Denn ihrem Zweck entsprechen müssen die Bauwerke nun einmal, da führt kein noch so einfallsreicher Weg vorbei, und irgendwie aussehen werden sie auch, selbst wenn dem Baumeister gar nichts einfiel.
Das ist eine Herausforderung, um die, vielleicht ohne es zu wissen, mancher Künstler den Architekten beneidet. Denn dass es für sie keine Herausforderungen mehr gibt, sieht man den Werken so vieler Maler leider an.
JE
Zeichnung, Symbol, Kunst.
Der Mensch ist das Tier, das zeichnen kann. Ludwig Klages.
Die Zeichnung ist zunächst nicht Abbild, sondern Symbol. Das Kind, das einen Kopf, einen Bauch, zwei Beine und zwei Arme kritzelt, gibt den Menschen nicht so wieder, “wie er ist”, sondern es bringt Linien zu Papier, die einen Menschen bedeuten. Dieses Bild ist Symbol für etwas, das damit gemeint ist. Es ist eine Aufforderung an die Vorstellung, das Ihre hinzu zu tun. Das ist dem Kind auch gewärtig, denn es fragt: “Kann man das erkennen?” Es hat den Menchen nur be-zeichnet, und weiß das.
Es ist keine Sache der handwerklichen Technik. Der versierte Künstler mag immer noch mehr und mehr Details hinzufügen, bis zu fotographischer Genauigkeit. Und doch sieht der Betrachter nur, worauf es der Maler abgesehenhatte – und tut in seiner Vorstellung gegebenenfalls das Seinige hinzu. Der Mensch kann zeichnen, weil er auf etwas absehen kann.
Das ist der Charakter der bildenden Kunst bis zur Renaissance. Erst seither gehören “Schönheit und Natürlichkeit”, wie Vasari sagt, zunächst neben und dann vor der Bedeutung des Bildes zu den Erwartungen, die an die Werke gestellt werden. Zuvor, seit dem Wiederentstehen einer figürlichen Kunst nach dem Untergang des römischen Reichs, hatten die Bilder lediglich ‘eine Geschichte zu erzählen’; eine biblische Geschichte oder eine Heiligenlegende, die den des Lesens (und des Lateins) unkundigen Menschen die Lehren ihrer Religion veranschaulichen konnten.
Ästhetische Gesichtspunkte standen ganz im Dienst dieser – außerästhetischen – Bedeutung. Was immer die religiöse Botschaft verdeutlichen konnte, wurde in Dienst genommen, und noch das geschmackliche Gefallen wurde ein Mittel der Erbauung. Selbst wo – in der Hochgotik – das Dekorative nicht länger verschmäht wird, bleibt die Kunst symbolisch: ‘bedeutend’. Unabhängig von Farben und Formen bleibt sie ‘Zeichnung’.
Seit der Renaissance hat sich das Verhältnis langsam, aber stetig umgekehrt.
Auf dem Höhepunkt der Renaissance wurde der Buchdruck erfunden. Nicht übrigens, um die Herstellungskosten von Büchern zu senken und die Kunst des Lesens unters Volk zu tragen, sondern aus ästhetischen Gründen. Das erste gedruckte Buch war Gutenbergs Bibel. Die unvermeidlichen Abweichungen zwischen und vor allem innerhalb der handschriftlichen Kopien profanierten die überzeitliche Geltung von Gottes Wort. Diesem Übelstand konnten die beweglichen Lettern abhelfen. Aber die Zeit wusste aus der Erfindung das ihr gemäße zu machen. Die Reformation konnte nur darum den Glauben auf “nichts als die Heilige Schrift” gründen, weil sie inzwischen überall zu haben war.
Gutenbergs Bibel war wie die gleichzeitigen Handkopien noch von bunten Bildern erfüllt, und lange mochte man nicht ganz darauf verzichten, denn auf das Lesen allein war noch kein Verlass. Doch die Revolution des Buchdrucks hat den Bedeutungen der Begriffe im geschriebenen Wort ihre wahre Heimstatt erschaffen. Auf die Dienste der Kunst waren sie nicht mehr angewiesen. Die konnte allenfalls noch als Verzierung, als Prunk hinzutreten. Aber das entwertete sie und die Künstler. Geistliche und weltliche Würdenträger mögen selten darauf verzichten, aber auf dem sich entfaltenden Markt fanden die Künstler inzwischen andere Abnehmer ihrer Werke, und eine rein-ästhetische Kunst wurde möglich, die “nichts als sich selbst bedeuten” und gefallen wollte.
Das dafür am besten geeignete, weil von allen lebenspraktischen Bedeutungen am wenigsten durchzogene Sujet war “die unberührte Natur”, die lediglich zu zeichnen war – aber noch von mythischen Gestalten durchgeistert, die sie gegebenenfalls gegen die Ansprüche der wirklich herrschenden Religion in Schutz nehmen konnten.
Die erste bürgerliche Revolution den Geschichte, die Unabhängigkeit der Niederlande, schaffte einen Markt, auf dem auch das nicht mehr nötig war. Es entstand die Landschaftsmalerei als selbstständiges Genre. Und in der Vordergrund trat die Zeichnung selbst. Denn das bloße Abbild ist an sich ohne Symbolik; es ist lediglich ästhetisch. Die Vorstellung, dass Kunst lediglich um ihrer selbst da sei, konnte sich seither breitmachen.
In den Bedeutungen ist eingefangen, was, wieso und wozu die Dinge für mich sind. Von den Bedeutungen abstrahieren ist von mir selbst absehen. Die Dinge so ansehen, wie sie ohne allen Bezug auf mich und lediglich ‘an sich’ erscheinen, heißt sie ästhetisch ansehen. “Im ästhetischen Zustand ist der Mensch null”, sagt Schiller. Weil der Mensch gelernt hat, die Bedeutungen der Dinge von ihrem Anblick abzusondern und in begrifflichen Systemen zu objektivieren, konnte er einen bloßen Anblick der Dinge gewinnen, der ihnen ihre Bedeutungen für sich lässt. Erst die Verwissenschaftlichung des Lebens hat die Voraussetzung geschaffen für eine Ästhetisierung der Welt.
Mehr über Form und Inhalt.
Spitzweg.Mancher Leser mag von meinem gestrigen Eintrag enttäuscht gewesen sein; die Überschrift ließ mehr erhoffen. Mehr ist in dem Thema aber nicht drin, jedenfalls nicht, wenn es um Kunst geht. Denn dies ist immerhin klar geworden: Es geht um das, was gemeint ist; ob es die Form bekommen hat, in der es ein anderer so verstehen kann, dass er es ebenfalls meinen könnte - nämlich sofern er es meint! An jener Bedingung führt nun nichts vorbei.
Eine Vorstellung in eine solche Form bringen, dass ein jeder sie sich zu eigen machen muss, ist Anspruch der diskursiven Rede; idealtypisch: die Wissenschaft. Nicht jede Vorstellung passt aber in diskursive Rede, und manch eine erweist sich geradezu als falsch, sobald man sie dort hineinzuzwingen versucht. Das liegt dann an den Vorstellungen! Die diskursive Rede ist wie ein Sieb. Sie hält nur fest, was festhaltbar ist. Man muss es immer auf den Versuch ankommen lassen, vorher kann man es nicht wissen. Aber man kann es, wenn man diskursiv eingeübt ist, ahnen. Die diskursive Rede hat ihre Regeln, und die akademischen Formen lassen wenig Freiheit.
Was diskursiv nicht festhaltbar ist, mag Gegenstand der Kunst werden. Deren Formen sind, spätestens seit Anfang des zwanzigsten Jahrhunderts, frei und - ja, so ist es - beliebig. Da gibt es kein Sieb. Der Publikumsgeschmack zeigt nur an, was "geht", und auch das muss man jedesmal wieder ausprobieren. Dabei spielt es keine Rolle, ob irgendwer versteht, was gemeint ist. Wenn die Kasse stimmt, haben Form und Inhalt des öffentlichen Geschmacks zu einander gepasst, unabhängig von den Vorstellungen, die der Künstler sich gemacht hat. Es soll sogar den tragischen Fall geben (das kommt aber auch in diskursiver Wissenschaft vor), dass das große Publikum ganz etwas anderes versteht, als gemeint war, und es mit Beifall aufnimmt. Mancher Künstler macht aus der Not eine Tugend und behält die gewählte Form bei; immerhin als Geschäftsmann ist er dann erfolgreich. (Und wenn er Glück und die Kunst Pech hat, schließt sich sein Geschmack schließlich dem Publikum an.)
Letzteres kommt in diskursiver Wissenschaft nicht vor. Da will der Erfinder Recht behalten, und wenn er sein Leben lang in den Wind redet. Mit dem Künstler verbindet ihn die Hoffnung auf die Nachwelt.
Das Ästhetische ist keine "Kompensation".
N. N.
...Bemerkenswert an diesem Beitrag ist etwas, das gar nicht darinsteht. Dass nämlich das furiose Raumgreifen des Ästhetischen in der Neuzeit eine Kompensation sei für den verlorenen Zauber der Mythen und frommen Mären, verliert hier an Plausibilität. Es unterstellt, dass die metaphysischen Verkleidungen, in die die Welt vor der epochalen Säkularisierung gewandet war, deren Rätsel für die große Masse der Menschen gelöst hätten, und dass nach deren Fortfall ein Fehlbedarf entstanden sei, der mit schönem Schein ausgeglichen werden musste.
Für die große Masse der Menschen hatten die metaphysischen Bauwerke nie eine Bedeutung gehabt, und dass sie die Rätsel der Welt gelöst hätten, haben die Gelehrten, denen sie bekannt waren, selber nicht geglaubt. Für die große Masse der Menschen sind die Rätsel des Daseins bis heute so ungelöst wie je, und sie haben sich darin eingerichtet wie je. Und auch für die Wenigen, die daraus ein Problem machen, blieb alles beim Alten.
Bleibt als Ergebnis nur dies: Das Vordringen des Ästhetischen in die alltägliche Lebenswelt der großen Masse mussseinen eigenen Grund gehabt haben.
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Und zwar diesen.
Sein ästhetisches Vermögen ist nichts, was der Mensch erst in der Geschichte erwerben musste. Es ist eine Seite - eine Saite - des poietischen, wertsetzenden, produktiven Vermögens der Einbildungskraft, die allein erst dasAufrichten der Menschheit ermöglicht hat. Doch war es in der rund zwölftausend Jahre lang andauerndenArbeitsgesellschaft so reichlich mit Ackern und Schachern beschäftigt, dass für mehr als den reinen Brotwerwerb keine Muße blieb. Die spezisch ästhetische Dimension der Einbildungskraft war in weitesten Teilen der Menschheit brachgelegt.
Es musste erst ein hinreichend großer Überfluss entstehen, der einer hinreichenden Anzahl Individuen nach getaner Arbeit genügend Energien übrig ließ, die sie an Dinge verwenden mochten, deren Nutzen nicht flach auf der Handliegt; erst dann konnte das Ästhetische auf breiter Front Eingang ins tägliche Leben finden und selber Teil der materiellen Reproduktion werden.
Das Ästhetische ist keine Kompensation eines erfahrenen Verlustes, sondern ein Gewinn, eine Freisetzung, eine Entbindung. Es ist der Beginn von etwas Neuem.
Wie das Ästhetische in die Welt gekommen ist.
Wissen kommt nicht zustande ohne Absicht. Erst wenn ich an die Dinge meine Absich herantrage, bekunden sie ihre Eigenschaften - nämlich wie sie zu dem, worauf ich es abgesehen habe, 'Stellung nehmen'; alias was sie bedeuten. Von einem Ding "an sich" gibt es schon darum nichts zu wissen, weil es in dem Moment aufhört, "an sich" zu sein, als es meiner Absicht begegnet. Ohne meine Absicht bedeutet es nichts. Doch ihm ohne Absicht begegnen kann ich nicht.
Richtiger gesagt: kann ich nicht natürlich, sondern nur künstlich. Kann ich erst durch Reflexion.* Nämlich wenn ich absichtlich von den Absichten - allen möglichen Absichten - durch freien Entschluss, nicht natürlich, sondern künstlich, absehe und das Ding betrachte, wie es 'sich zeigen' würde, wenn ich es ohne Absicht betrachten könnte. Wenn ich also von mirabsehen würde. So entsteht kein Wissen von Etwas, sondern lediglich Anschauung von Erscheinung.
Wenn ich mich absichtlich in den ästhetischen Zustand versetze: "In dem ästhetischen Zustand ist der Mensch Null", sagt Schiller. "An sich" sind die Dinge, wie sie ästhetisch (er)scheinen. Sie sind das Kunstprodukt der Reflexion, die ihrer selbst entsagt.
Mit andern Worten, ästhetisches Erleben ist nicht möglich ohne vorheriges Wissen und nicht ohne Hintergedanken. Es ist ein modernes Phänomen. Und dass uns die Bilder, die wir in diesem Zustand sehen, hinterher immer so vorkommen, als ob sie 'etwas zu bedeuten' hätten, ist kein Wunder.
*) "Zum Bewusstsein der Anschauung erhebt man sich nur durch Freiheit."
J.G. Fichte, Versuch einer neuen Darstellung der Wissenschaftslehre, SW I, S. 533
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