Dienstag, 31. März 2015

Ästhetisch philosophieren?


attisch, ca. 630 v. Chr

Dies Blog ist kein Selbstzweck, es gehört zu einem Konvolut von einem guten halben Dutzend. Ich bin kein Kunsthistoriker und habe es nie werden wollen, ich mag mich nicht einmal einen Kunstfreund nennen. Ich sehe gerne schöne Bilder, das ist alles. Nur weiß ich nicht immer, ob ich das, was mir ins Auge springt, schön nennen soll oder irgendwie anders. Es ist nicht einmal so, dass mir alles gefällt, was ich bemerkenswert finde. Ich sehe mir manches länger oder öfter an und mache mir auch mal Gedanken.

Soviel zu meinem Geschmack. Der ist aber weder Gegenstand noch Motiv dieses Blogs. 

Mein eigentliches Interesse ist philosophisch, und es ist mir widerfahren, dass sich meine Philosophierungen, anscheinend ganz von alleine, zu einem System zu einander gefügt haben; mein bewusster Beitrag besteht nur darin, dass ich gern einen Überblick behalte und wünschte, dass eins zum andern passt.

Dass gerade ein Denken, das im Kopf zu einem System geworden ist, ganz schlecht zu einer systematischen Darstellung in Schriftform taugt, ist selber ein philosophisches Thema, das aber hier nicht hergehört. Doch das Internet und seine verlinkten Blogs erlauben neuerdings eine fragmentierte Darstellung, die aber dennoch zusammenhängend, weil synchron ist.

Dürer

Die Philosophierungen und die Fichtiana, die einander erläutern, bilden den harten Kern des Konvoluts. Daneben stehen Blogs zu bestimmten Wissensgebieten, auf denen sich meine Philosophierungen bitte praktisch bewähren sollen. 

Die hiesigen Geschmackssachen haben eine Sonderstellung. Das Ästhetische wäre so ein besonderes Wissensgebiet, auf dem eine Philosophie sich behaupten müsste. Und meine ganz besonders: An ihrem empirisch-anthropologischen Ausgangspunkt steht 'das Ästhetische' als die ausgezeichnete Qualität des spezifisch menschlichen poietischen Vermögens, alias der produktiven Ein- bildungskraft, wie es bei Kant und Fichte heißt. Und an ihrem spekulativ-transzendentalen Endpunkt steht 'das Absolute' als die ästhetische Idee schlechthin. Das Ästhetische ist nicht nur ein möglicher Gegenstand meines 'Systems'. Es ist gewisserma- ßen sein beständiges Hintergrundrauschen.

Jochen Ebmeier
























Kandinsky, Far away, 1930 









  

Nicht nur die griechischen Götter.

aus scinexx

Terrakotta-Armee war knallbunt
Die chinesischen Tonkrieger bekommen ihre ursprünglichen Farben zurück

Grün geschminkte Gesichter und bunte Gewänder: Die Krieger der berühmten Terrrakotta-Armee waren einst enorm farbenprächtig. Erst beim Ausgraben ging ihre Farbenpracht verloren und sie wurden eintönig graubraun. Wie diese Figuren zur Zeit ihrer Erschaffung aussahen, haben deutsche und chinesische Restauratoren in jahrelanger Detailarbeit entschlüsselt und rekonstruiert. Die Rekonstruktionen enthüllen einen erstaunlichen Farb- und Detailreichtum.



Generäle, Bogenschützen, Infanteristen, Offiziere, Wagenlenker: Sie alle stehen oder knien lebensgroß in der Grabanlage des ersten Kaisers von China, Qin Shihuangdi. Aus 7.300 Figuren, so schätzen Experten, besteht die berühmte Terrakotta-Armee. Wie groß die GESAMTE Grabanlage jedoch tatsächlich ist, weiß niemand. Denn bisher wurden 200 Beigabengruben auf einer etwa 50 Quadratkilometer großen Fläche um den mächtigen Grabhügel entdeckt – es könnte aber noch einige mehr geben.

Von grau-braun zu knallbunt

Die Krieger der berühmten Terrakotta-Armee sind heute eintönig grau-braun gefärbt, doch das war nicht immer so. Schillernd bunt waren die beeindruckenden Krieger, hatten nachgebildete Pferde und Wagen und waren sogar mit echten Waffen ausgestattet. Werden die Figuren aber bei den Ausgrabungen der feuchten Erde entnommen, verdunstet das Wasser aus dem damals verwendeten und die Grundierung löst sich – die Krieger verlieren ihre Farbe.


Um die ursprüngliche Farbgebung zu rekonstruieren, hat Catharina Blänsdorf von der TU München gemeinsam mit chinesischen Kollegen mehr als zehn Jahre lang Farbreste analysiert. Es gelang, die ursprüngliche Bemalung von insgesamt 55 Figuren zu rekonstruieren – und die ziemlich bunt: Vor allem Blau, Grün, Rot, Violett, Rosa und Weiß zierten die Krieger, seltener auch Akzente in Schwarz und Ocker.


Aufwändige Ornamente

Die Kleidung bestand aus Gewand, Untergewand, Hose und Schienbeinschutz. Alle diese Elemente waren unterschiedlich gefärbt und bei bestimmten Figuren waren die Panzer mit Mustern versehen, wie Blänsdorf herausfand. Die aufwändigen Ornamente geben den Wissenschaftlern zum Teil immer noch Rätsel auf. "Sie lassen sich grob in geometrischeFormen, wie etwa Rauten, Sterne oder Blüten und zoomorphe Formen wie Vögel, Drachen und Phönix unterteilen", erklärt die Restauratorin.

Erstaunlich detailreich: Rückenansicht des Gewands eines Generals

Uniformen existierten in der Armee nicht. Der Rang wurde durch die Kopfbedeckung und die Panzer gekennzeichnet. Die Generäle etwa trugen eine Kappe, die mit Fasanenfedern geschmückt war. Ihre Panzer besaßen kompliziert verschnürte Platten, Besätze mit Mustern und Seidenstoffe auf Brust und Rücken. Bei den Wagenoffizieren bedeckt der schürzenartige Panzer nur den Bauch und ist auf dem Rücken mit überkreuzenden Bändern befestigt. Diese waren in zwei Streifen geteilt, von denen vorderseitig der eine den Panzer säumt, der andere den Halsausschnitt. Sie trugen Kappen mit einem eckigen, abgewinkelten Streifen auf dem Kopf.

Faszinierende Detailgenauigkeit

Jede der Figuren ist einzigartig. So besitzen manche Generäle einen kleinen Wohlstandsbauch, aber auch unter den Infanteristen befinden sich stämmige Männer. Es ist den Künstlern gelungen, die Gesichtszüge so realistisch nachzubilden, dass sich verschiedene Lebensalter darin abzeichnen. Einer der knienden Bogenschützen hat als Alleinstellungsmerkmal sogar ein grün geschminktes Gesicht.

Durch Pinselstriche erzeugten die Künstler dieser Federstrukturen

Die Maler erzeugten mithilfe der Pinsel Strukturen, die sich vom Hintergrund plastisch abheben. Auf diese Weise bildeten sie zum Beispiel Federn nach. An bestimmten Stellen des Körpers, wie etwa an den Schultern, sieht es aus, als würde das Muster des gemalten Kleidungsstücks sich etwas verziehen – so wie es in der Realität der Fall wäre. "Auch Augenbrauen und Schnurrbärte sind auf diese Weise realistisch dargestellt", sagt sie.

Die Forscher arbeiten nun an einer Methode, wie sich bei Ausgraben neuer Figuren der alte Lack erhalten lässt. Eine Möglichkeit ist das Auftragen von Polyethylenglycol (PEG), das das verdunstende Wasser im Lack ersetzt und diesen so stabilisiert. Der Nachteil dieser Methode: Die Figuren wirken dunkler als im Original. Auch können bei dieser Behandlung noch Risse im Lack auftreten, wenn das Wasser schneller verdunstet als das Lösungsmittel aufgetragen wird. Eine bessere Konservierung der Farben, aber auch die Erhaltung der bereits ausgestellten Figuren sind Herausforderungen, die noch vor den chinesischen Denkmalschützern liegen.

(TU München , 20.03.2015 - NPO)


Nota. - Auch die griechische Plastik war ursprünglich nicht von vornehmem Weiß, sondern knallbunt.
JE

Samstag, 28. März 2015

Kurze Weltgeschichte der Kunst.


Es führt in die Irre, das Ästhetische durch die Kunst zu definieren, wie es von Hegel bis Gadamer immer wieder versucht wurde. Aber es führt auch in alle möglichen Sackgassen, die Kunst durch das Ästhetische bestimmen zu wollen. Haute Cuisine ist ein Kunst, und doch essen wir nicht um des Geschmacks willen. Na ja, manchmal schon. Aber wenn es sein müsste, würden wir auch dem Geschmack zum Trotz essen.

Ohne Essen hätte unsere Spezies nicht überlebt (und keine andere), ohne Kunst womöglich doch, und wenn an der Kunst gar nichts Ästhetisches wäre, wollte sie keiner haben. Ohne das Ästhetische würde es keine Kunst geben, aber das Ästhetische würde es auch ohne Kunst geben - nur hätten wir es womöglich nicht erkennen gelernt, und für uns wäre es also nicht...


Dürer

Die Frage, ob das Ästhetische durch die Rolle bestimmt ist, die es in der Lebenspraxis spielt, ist nicht die Frage, welche Stellung die Kunst in der Gesellschaft hat und wie wichtig sie in meinem Leben ist. Das Ästhetische ist geradezu dadurch definiert, dass es keine Rolle in der Lebenspraxis spielt: als dasjenige, was übrigbleibt, wenn man alle nützlichen Dinge und alles Nützlich an den Dingen abgezogen hat (was restlos gar nicht möglich ist, denn wenn es stimmt, dass Grün meine Nerven beruhigt, während Orange sie aufregt, dann kann ich zumindest diese Farben niemals 'rein ästhetisch erleben'). Das Ästhetische ist der bestimmte Gegensatz zum Nützlichen.

Die Kunst steht dazu in einem Verhältnis der Teilhabe, méthexis: "Ein bisschen" stand die Kunst "immer auch" im Gegensatz zum Ökomischen, zur materiellen Produktion, und wenn noch dem praktischsten Utensil eine gute Form gegeben wird, dann wird sie doch als das Uneigentliche daran erkannt; siehe La Fontaines Fabel von dem geschnitzten Bogen.



Das ist ein zaghaftes, tastendes, stets unsicheres Verhältnis; es ist nämlich seinerseits 'nichts als' ein Ausdruck der prekären Stellung des Künstlers gegenüber dem Arbeiter. Originär ist die Kunst dadurch entstanden, dass sich ein gesellschaftlicher Stand von Menschen ausgebildet hat, die ihren Lebensunterhalt dadurch bestritten, dass sie ästhetisch-ausgezeichnete Dinge herstellten, die sie gegen nützliche Dinge eintauschten, die die Andern herstellten - oder gegen ihre allgemeinen Stellvertreter, das Geld. Je wohlhabender die Andern werden, umso weniger müssen die Künstler auf deren profane Bedürfnisse (etwa nach hübschen Illusionen) Rücksicht nehmen - denn umso weiter können jene über dieselben hinausschauen.

van Goyen

Es kommt dann so weit, dass die Künstler übermütig werden und meinen, gar nicht für die Andern zu schaffen, sondern für die Kunst selbst. Umso virulenter wird gestritten, was das Wesen der Kunst ist, und umso mehr wird sie selber mit dem Ästhetischen verwechselt. 

Mit der Sackgasse der Abstraktion, mit dem Ende der Avantgarde, mit der Beliebigkeit des Alles-schon-mal-Dagewesenen klingen solche Debatten wie Nachrufe. Mit einbrechender Dämmerung steigt die Eule der Minerva auf uns sieht, was Kunst einmal gewesen ist und welchen Beitrag zur Ästhetisierung der Welt sie einmal geleistet hat.
  
Kandinsky



Können war unwichtig; Hauptsache, man hatte etwas zu sagen.

Peter Pongratz, Ausstellung Essl Museum





















aus Die Presse, Wien, 28. 3. 2015                                                                                                  Pongratz, o.T.?

Essl-Museum: 
Ein Vorläufer der Jungen Wilden
Seine wilden Bilder haben die Malerei der Punk-Generation vorweggenommen, meint Peter Pongratz. In Klosterneuburg ist der Vergleich jetzt möglich.

von Sabine B. Vogel

Die Ateliers waren geschlossen, die Kunst fand auf der Straße statt. So radikal wie diese Ansage waren die Siebzigerjahre natürlich nicht. Aber es war tatsächlich ein Jahrzehnt des massiven Umbruchs in der Kunst. Besonders hart traf die Suche nach neuen Ausdrucksformen die Malerei. Akademische, realistische Stile waren nicht zuletzt durch den Sozialistischen Realismus verpönt, der als staatlich verordneter Stil in kommunistischen Ländern diskreditiert war. Abstraktion war zwar genauso politisiert, aber immerhin als Stil der westlichen Länder, und galt damit als Ausdruck von Freiheit. Was aber, wenn Maler sich aus diesem Stellvertreterkrieg auf dem Feld der Kunst heraushalten wollten? Diese Frage findet man gerade in den beiden Ausstellungen im Essl-Museum in Klosterneuburg bestens beantwortet. Denn hier sind zeitgleich die große Retrospektive von Peter Pongratz und eine Zusammenstellung der Jungen Wilden zu sehen.
Pongratz, Heldenplatz 1988/89

In den frühen Achtzigerjahren reagierten die jungen Maler auf die Ablehnung der Malerei mit einem frechen, bewusst dilettantischen Stil, der ein wenig der Attitüde des Punk ähnelte. Können war unwichtig, Hauptsache, man hatte etwas zu sagen – und sei es nur die Behauptung, Maler zu sein. Mit breitem Pinsel, groben Strichen und vor allem in großer Schnelligkeit entstanden Mengen von Bildern. Die Menschen sind nur angedeutet, die Leinwand ist komplett zugedeckt, die Frage der Komposition eine spontane Entscheidung. Schon bald hießen die Maler dieser neuen Entwicklung Junge Wilde. Der Mut zur Malerei wurde belohnt, der Kunstmarkt florierte. „Hunger nach Bildern“ hieß die einflussreiche Publikation dazu passenderweise (Wolfgang Max Faust, Gerd de Vries, 1982). 
Pongratz, One morning in May, 2015

Auch in der Sammlung des Essl-Museums ist dieser Stil gut vertreten, die 32 jetzt ausgestellten Werke stammen durchgehend aus den eigenen Beständen: Siegfried Anzinger, Erwin Bohatsch, Gunter Damisch, Alois Mosbacher, Hubert Scheibl, Hubert Schmalix, Otto Zitko. Die Auswahl ist gut getroffen, man sieht deutlich, wie dieselbe Attitüde zu höchst unterschiedlichen Bildern führt. Zudem entwickelten sich alle sieben weiter, sie sind – anders als manche ihrer deutschen Kollegen – noch heute bestens im Geschäft.

Überzogen naive Heiligenbilder

Aber waren sie wirklich die Ersten, die sich diese freche Attitüde leisteten? Peter Pongratz sieht das anders. Seine bewusst kindliche, wilde Malerei habe das bereits früh vorweggenommen. Bekannt wurde der 1940 geborene Künstler mit der legendären Ausstellung der „Wirklichkeiten“. Zusammen mit Martha Jungwirth, Kurt Kocherscheidt und den anderen Malern nahm er bereits Ende der Sechzigerjahre eine eigenständige künstlerische Position ein, die bis heute Abstraktion und Gegenständlichkeit verbindet. Dabei führte ihn seine Suche nach Extrawegen durchaus ins Extreme wie in seinen „Heiligenbildern“ (1969–71): Die damals scharf abgelehnten Devotionalienbilder greift er einerseits affirmierend auf, zerbricht aber die Bejahung in der überzogen naiv-kitschigen Darstellung.
Pongratz, Selbstporträt, badend. 2013

Gleichzeitig entstanden Landschaften in einer stilistischen Mischung aus Phantastischem Realismus und Gugging-Kunst. Solche Sprünge durchziehen sein gesamtes Werk bis heute – und darauf ist Pongratz stolz. Denn er wollte sich nie einengen lassen, erklärt Kurator Günther Oberhollenzer. Natürlich gibt es formale Leitmotive wie die dynamisch-wilden Kompositionen, die zeichnerischen Elemente, die Kritzeleien und das fast zwanghafte Füllen der gesamten Bildfläche – etwas, was die Jungen Wilden ebenfalls praktizierten, allerdings nicht kleinteilig wie Pongratz, sondern als bewusst große Geste.
Pongratz, Hellhound on my trail, 2013

„Keine Rezepte. Keine Vorschriften. Keine Moden. Keine Ideologien. Kein Kompass. Keine Landkarten. Und vor allem keine Dogmen, weder für den Künstler noch für den Betrachter“, so beschreibt Pongratz seine eigene Position im Katalog. Um das zu unterstreichen, entschied er sich für eine unkonventionelle Hängung im Essl-Museum: Statt chronologisch sind die Bilder in Werkgruppen angeordnet. Damit sind die Sprünge in seinem Werk unübersehbar und als bewusster, vielleicht sogar konzeptueller Ansatz deutlich. Pongratz: „Man kann mir allerhand nachsagen, aber einseitig bin ich nicht.“

Peter Pongratz. Eine Retrospektive: bis 7.Juni.




Erwin Bohatsch Das gefundene Herz 1985 
aus: Essl-Museum

Die Wilden Jahre  

Ab Ende der 1970er-, Beginn der 1980er-Jahre haben junge Künstler international auf die theorielastigen Positionen und Diskurse der 70er-Jahre mit einer heftigen, unbekümmerten zeitgeistigen Malerei geantwortet. Die sogenannten „Neuen Wilden“ waren oft noch Studenten, die ganz frech expressiv und gestisch aus dem Bauch heraus malten und schnell produzierten.

Siegfried Anzinger o.T. 1981 

Das löste einen regelrechten Hype unter internationalen Sammlern aus, der Mitte der 80er-Jahre zusammenbrach, was besonders für einige der Vertreter aus Deutschland zu schweren künstlerischen Krisen führte. In Österreich war die Situation differenzierter, da es eine viel ungebrochenere Malereitradition gab und die Abstrakte Kunst auch für die “Neuen Wilden“, die international gesehen fast ausschließlich figürlich malten, eine Option war.


Hubert Scheibl o.T. 1985

Anders als die Ausstellung „Neue Wilde – Eine Entwicklung“ im Essl Museum 2004, die den Schwerpunkt auf die künstlerische Weiterentwicklung der damaligen Proponenten legte, widmet sich diese Ausstellung ganz den heftigen, vom schnellen Malduktus getriebenen Werken der frühen 80er-Jahre aus der Sammlung Essl. Es sind Arbeiten, die selten gezeigt werden, aber heute wieder spannend sind in ihrer kompositorischen und formalen Frechheit und Unmittelbarkeit der Malerei. 

Kuratorin: Viktoria Tomek


Hubert Schmalix Nackter Mann 1982

bis 31.Mai.

Nota. - Es soll nicht heißen, meine Ansicht, die Avantgarde sei mit der 2. Hälfte des 20. Jahrhunderts entschlafen, rühre nur daher, dass ich die allermodernste Kunst gar nicht kenne. Wie Sie hier sehen können, schrecke ich vor nichts zurück.
JE



Freitag, 27. März 2015

Stimmen zu Hans Erni.


aus nzz.ch, 27.3.2015, 14:09 Uhr                                                                                                      Selbstbildnis, 1946

Stimmen zum Künstler Hans Erni
Immer virtuos und meistens unverstanden
Dass der am 21. März verstorbene Künstler Hans Erni bei einem Stil blieb, den er im Grunde in den vierziger Jahren schon voll ausgebildet hatte, machte ihn der Fachwelt verdächtig. Sein Publikum aber fand Hans Erni dennoch. Ein kontroverses Bild des Künstlers zeichnen auch sechs prominente Zeitgenossen, die ihn gekannt und sich auf Bitten der «NZZ» im Rahmen eines kurzen Statements zu ihm geäussert haben.


Leitfigur schweizerischer Geschmacksgeschichte

Von Hans-Jörg Heusser

Kunstkritik und Kunstgeschichtsschreibung haben mit Hans Ernis Werk, aber auch mit seinem Erfolg ein Problem – in mancher Hinsicht bis heute. Sein Schaffen passt nur in den Anfängen in das – immer noch nachwirkende – Schema einer Kunstgeschichte als Geschichte der «Avantgarde». Spätestens mit seinem «Landi»-Wandbild von 1939 hat Erni bewusst der Avantgarde-Ideologie abgeschworen und sich einer grundlegend anderen Kunstauffassung und einem anderen Publikum zugewandt. Er ist ein anti-avantgardistischer Apostat. 

Ein Teilstück des"Landi"-Wandbildes; heute im Museum.

Mit seiner figurativen, oft allegorischen Ideenkunst sprach er ein Publikum an, das weit in jene breiten Schichten hineinreicht, deren Vorstellungen von Kunst der schwedische Kunsthistoriker Sven Sandström in seiner geschmackssoziologischen Feldstudie «A Common Taste in Art» (1977) zum Untersuchungsgegenstand gemacht hat. Sandström befragte darin zahlreiche Exponenten des «non public of art», einer Bevölkerungsgruppe, die sich kaum je mit Kunst beschäftigt hatte, zu Beispielen damaliger schwedischer Gegenwartskunst. Er kam zum Schluss, dass es eigentlich kaum jemanden gibt, der keine Vorstellung von Kunst hat – allerdings gehen diese Vorstellungen in vielen Fällen von einer grundsätzlichen Ablehnung der «modernen Kunst» aus. Sandströms Befund vermag vielleicht zu erklären, warum Ernis Schaffen weit über das eigentliche Kunstpublikum hinaus ein derart grosser, jahrzehntelanger Erfolg beschieden war und immer noch ist.

Allerdings nicht bei der «Fachwelt», die gegen Ernis Werk und oft auch gegen seine Person zum Teil heftig polemisierte. Angesichts seiner «Apostasie» erstaunt das nicht, denn Apostaten stellen das gesamte Credo, von dem sie abgefallen sind, infrage. Doch seit dem Dahinwelken des Modernismus und dem Beginn der postmodernen «Säkularisierung» gibt es keine Instanz und keine Normvorstellung mehr, die den einzig richtigen und wahren Kunstgeschmack zu bestimmen und zu legitimieren vermöchte. Was auf dem Kunstmarkt erfolgreich ist, gilt als Kunst. 

Pollock, N° 3

Hans Erni aber war und ist auf dem Markt erfolgreich – wenn auch vorwiegend bei einer ganz bestimmten, aber grossen Geschmacksgruppe. Diese Feststellung führt zur Frage, ob diejenige Kunst, welche die Fachwelt für die wahre und einzige Kunst hält, nicht ebenfalls die Kunst einer bestimmten Geschmacksgruppe sein könnte. Das Ende der Kunstgeschichte wäre eine solche geschmackssoziologische Relativierung nicht, aber vielleicht der Beginn einer neuen Betrachtungsweise, die dem «Phänomen Erni» besser gerecht zu werden vermöchte. In einer – noch zu schreibenden – Geschmacksgeschichte der Schweiz im 20. Jahrhundert wäre Hans Erni wohl eine Leitfigur.

Dr. Hans-Jörg Heusser ist Kunsthistoriker und Publizist in Zürich. Er war bis August 2010 während rund zweier Jahrzehnte Direktor des Schweizerischen Instituts für Kunstwissenschaft (SIK/ISEA).


Cheval blanc, Lithographie 1960


Leichthändiger Zeichner

Von Guido Magnaguagno

Ein frischgebackener Kunsthaus-Kurator lancierte mit einer Truppe ehemaliger Mitstudenten 1981 die folgenreiche Ausstellung «Dreissiger Jahre Schweiz – ein Jahrzehnt im Widerspruch». Der Katalogautor des Abschnitts «Wandmalerei», heute Direktor des Rietbergmuseums, setzte dabei alle Hebel in Bewegung, um das als verschollen geltende «Landi»-Prunkstück «Die Schweiz – das Ferienland der Völker», eine Art gemalte Monumentalcollage, ausfindig zu machen. Aber auch der Künstler konnte nicht weiterhelfen. Schliesslich entdeckten wir es verstaubt im SBB-Bahnschuppen von Romanshorn. Wir stellten dann etwa 10 Laufmeter der insgesamt 90 mal 5 Meter aus. Hans Erni war hocherfreut.

Er beehrte mit seiner Frau Doris die Vernissage und lud uns zu sich nach Meggen ein. Er war charming. Am besten gefiel uns, dass er jeden Morgen seinen Home-Pool durchpflügte. Das sah man ihm auch an. Mit damals bereits 72 Jahren schaute er wie einer jener weissgewandeten oder nackten Götterjünglinge aus, die er so leichthändig zeichnete. Auf eine seltsame Art verehrten wir ihn, den anachronistischen Humanisten. Wohl aber auch, weil unter seinen rund 300 Plakat-Würfen Ikonen herausragen wie 1944 derjenige für die Gesellschaft Schweiz - Sowjetunion. Wie das «Landi»-Panorama, heute restaurierter Schatz des Landesmuseums, strahlt es als Höhepunkt realistisch-figurativer Schweizer Kunst einer Epoche bis ins Heute.

Guido Magnaguagno ist freier Ausstellungsmacher und Publizist in Zürich. 2000–2009 war er Direktor des Museums Jean Tinguely in Basel.

Vier Elemente

Homo universalis, Homo politicus

Von Peter Fischer

Wir verlieren mit Hans Erni eine Ausnahmeerscheinung. Auch, was seine Rezeption betrifft. Einhellig die Zustimmung der Massen, einhellig die Kritik der Kunstszene. Hatte er als 20-Jähriger noch alles «richtig» gemacht, 1931 in Paris die kubistische Künstlergruppe «Abstraction-Création» mitbegründet und 1935 für das Kunstmuseum Luzern die legendäre Ausstellung «These – Antithese – Synthese» organisiert, stellte der Auftrag für ein Wandbild für die Landi 1939 in Zürich einen folgenschweren Wendepunkt in seiner Künstlerkarriere dar. Erni erlag der Verführungskraft seiner Kunst. 

In einer eigentlich sehr komplexen Komposition vermittelte er in einfachem Stil und mit klaren Motiven ein anspruchsvolles, überraschendes Bild der aktuellen Schweiz, notabene, ohne am Vorabend des Zweiten Weltkriegs der Versuchung zu erliegen, einen mythen- und klischeebehafteten Nationalgeist heraufzubeschwören. Das «Landi»-Bild vermochte die Massen zu begeistern, und Erni sagte sich fortan zugunsten der Verständlichkeit von der radikalen Abstraktion seines Frühwerks los.


Seine breiten Interessen – am klassischen Bildungsgut ebenso wie an den neuesten technischen Errungenschaften – hätten ihn in der Renaissance zum Homo universalis gemacht. Trotz dieser ganzheitlichen Geisteshaltung war und blieb Erni aber ein Kind des 20. Jahrhunderts. Die Fülle der Interessen und Themen setzte bei ihm eine unbändige Schaffenskraft in Gang. Erfolg bei den Massen war ihm wichtig, da die Kunst dann erst wirkungsvoll seine Mission vermitteln konnte. Grundfragen des Menschseins wollte er darlegen, wozu auch ganz einfache Dinge gehören wie körperliche Ertüchtigung oder die natürliche kreatürliche Schönheit – man denke an seine ungezählten Pferdeleiber. 

Erni wollte aber auch auf die grossen aktuellen Probleme des Menschseins aufmerksam machen. Insofern war er ein äusserst politischer Mensch, wenn auch nicht im Sinne der Parteipolitik – als Kommunist wurde er von der offiziellen Schweiz nach dem Zweiten Weltkrieg zwanzig Jahre lang zu Unrecht beschimpft und verfemt –, sondern aus einer zutiefst humanistischen Überzeugung heraus. So zählen denn auch die Bilder und Plakatgestaltungen seiner zweiten Lebenshälfte zu Anliegen der Völkerverständigung oder im Zuge der beginnenden Ökologiebewegung nicht nur zu seinen meistbeachteten, sondern auch eindrücklichsten. Ein grosser Künstler und ein grosser Menschenfreund ist von uns gegangen.

Peter Fischer ist der Direktor des Zentrums Paul Klee in Bern. Zuvor war er von 2001 bis 2011 der Direktor des Kunstmuseums Luzern und dort Kurator der Retrospektive zum 100. Geburtstag von Hans Erni.

Ta panta rhei, Genf, Palais des Nations

Aussergewöhnliche Virtuosität

Von Gottfried Honegger

Die Stadt Zürich hat mir im Jahre 1948 den Auftrag gegeben, im Helmhaus Zürich eine Ausstellung zu gestalten unter dem Titel «Die Schweiz 1848 / 1948 – vom Staatenbund zum Bundesstaat». Als Konservator hat der Stadtpräsident Konrad Farner bestimmt. Es ist eine schreckliche Geschichte, ich musste Farner in meiner Wohnung verstecken, weil er dauernd zum Tode verurteilt wurde. In diesem Rahmen habe ich auch Hans Erni kennengelernt. Wir beide bewunderten Konrad Farner als ein kulturpolitisches Genie, das uns in keinem Moment bedrängte mit seiner Ideologie, dem Kommunismus.

Hans Erni ist eine aussergewöhnliche Erscheinung, nicht nur in der Schweiz, sondern im gesamten Kunstbereich. Ich selbst liebte ihn für sein Engagement, für seine Treue zur Kultur, für sein ungeheuerliches Können. Ja, er war eine nationale Figur. Aber nun – warum haben wir uns getrennt? Es gibt in der Kunst verschiedene Ebenen, eine davon ist die Virtuosität, die dem digitalen unsinnlichen Fernsehbild nahesteht. Ja – Hans Erni besass eine aussergewöhnliche Virtuosität. Virtuosität heisst virtuoses Können ohne ethische (ja, ethische) Verantwortung. Er konnte alles und machte alles.

Verantwortung

Dieses virtuose Können hat mich beunruhigt. Am Anfang war ich neidig, deprimiert, dass mir diese Begabung fehlt. Bis ich durch einen Musiker, einen Pianisten, mir bewusst wurde, was Virtuosität ist. Virtuosität ist Klavierspielen ohne Noten. Virtuosität ist ein unkontrolliertes Können, ein Können ohne Leiden, ohne Skrupel. Dieses virtuose Können hat ihn auch distanziert von der anderen Seite, von jenen, die an der Kunst auch litten, die sich Sorgen machten, die ein Zeitbild gestalteten. Die aber glaubten, dass nur Kunst Kunst ist, die aus der Erde der Gesellschaft aufblüht als Zeitzeichen, als Mahnmal, als Hoffnung und Schönheit.

Gottfried Honegger ist Grafiker, Maler und Plastiker in Zürich.



Ungedeutetes Phänomen

Von Cäsar Menz

Die ewige Jugend seiner krausköpfigen Jünglinge und die Linienherrlichkeit ihrer weiblichen Geschwister, die seine Werke bevölkern und seine Bildthemen illustrieren, erfreuen ein breites Publikum und stossen auf das Missfallen, ja die Verachtung der Kunstkritik. Sie lassen vergessen, dass Erni in den dreissiger und vierziger Jahren in seinem politischen Engagement Werke schuf, die Skandale Hirschhornscher Dimension auslösten, und die von ihm geschaffenen Banknotenentwürfe, die zu den schönsten gehören, die unsere Nationalbank je hätte herausgeben können, der politischen Zensur zum Opfer fielen. 

Fünf Pferde, 1956

Erni der Avantgardist, Erni der «Kommunist», Erni der Humanist, Erni der Künstler, der das Herz der Massen erobert. Ein langes Künstlerleben hat viele Facetten. Noch ist es der Kunstgeschichte und Kunstkritik nicht gelungen, das Phänomen Erni in seinen Widersprüchen auszuleuchten. Die Frage, warum sich ein Künstler, der lange zur Avantgarde der Schweizer Kunst gehörte, dessen Kunst und Gesinnung den Politikern verdächtig vorkam, ab den sechziger Jahren zum Publikumsliebling und beinahe zum Staatskünstler entwickelt hat, der mit seinen virtuos angelegten Werken gefallen wollte, bedarf der Klärung. Dabei wären nicht nur die Kunsthistoriker, sondern auch die Historiker und Soziologen gefordert.

Cäsar Menz ist der ehemalige Direktor der Genfer Musées d'art et d'histoire.


Lange hinschauen.

Von Peter von Matt

Ob er gelegentlich unterfordert war? Auffällig ist, wie harmlos seine vielen Liebespaare, spielenden Pferde und antikisierenden Szenen anmuten, während in die Arbeiten, die in die Breite wirken mussten, ganz andere Energien einschossen. Er hat Plakate geschaffen, die zu den Ikonen der Gattung in der Schweiz zählen. Armut und Not, die Gefahren für Luft und Wasser, der drohende Atomkrieg

rücken darauf bedrängend nahe. Seine griechischen Jünglinge und Mädchen sind seltsam blass, aber für das Titelblatt des Romans «Sokrates träumt» des Luzerner Schriftstellers Josef Vital Kopp warf er einen Sokrates aufs Papier, der, auf dem Bauche liegend, eine Pranke vorgestreckt, den Betrachter fixiert, als würde er ihn gleich mit der nächsten Frage anspringen.

Im Kunsthaus Luzern ist gegenwärtig Ernis grosses Gemälde «Ikarus-Lilienthal» von 1941 ausgestellt. Man steht davor, studiert den stürzenden Jüngling und die merkwürdigen schwarzen Flügel. Erst später, beim Suchen im Internet, merkt man, dass diese die genaue Wiedergabe von Otto Lilienthals «Segelflugapparat» sind, in dem der Konstrukteur 1896 den Tod fand. Vor allem aber erschrickt man, wenn man entdeckt, dass der antik-moderne Ikarus im Bild selbst auf eine Wand gemalt ist, von der die Farbe bereits abblättert. Der junge, von den Surrealisten geprägte Erni hat die Betrachter schroff provoziert, malerisch und intellektuell. Das kann auch im späteren Werk wieder aufblitzen. Dann schaut man lange hin.

Prof. Peter von Matt 
lebt als Germanist und Schriftsteller in Dübendorf bei Zürich. Bis 2002 lehrte er als Professor für Neuere Deutsche Literatur an der Universität Zürich.



Mittwoch, 25. März 2015

Ist Illusion das Wesen der Kunst?


aus nzz.ch, 24.3.2015, 05:30 Uhr

Eine Verteidigung der Künste
Die Wunder der Illusion

von Wolfgang Sofsky  

Der Sophist Gorgias notierte vor zweieinhalb Jahrtausenden zur Wahrheit der Künste: «Derjenige, der täuscht, hat mehr recht als der, der nicht täuscht, und der Getäuschte andererseits versteht mehr als der, der nicht getäuscht wird. Wer täuscht, hat nämlich mehr recht, weil er ausgeführt hat, was er versprach; der Getäuschte aber versteht mehr: Denn schön lässt sich hinreissen von der Lust der Worte, was nicht empfindungslos ist.» – Täuschungen machen sehen, und wer vom Zauber der Kunst hingerissen ist, dem öffnen sich Augen und Ohren. Er gerät in Welten, deren Konturen deutlicher erkennbar sind als diejenigen, in denen er Tag für Tag lebt.

Das Ästhetische als eigene Wertsphäre

Auch für Karl Heinz Bohrer bildet die Illusion das Wesen der Künste, doch nicht, weil sie zu Erkenntnissen verhilft, sondern, weil nur die Täuschung jenes Wundern und Erstaunen ermöglicht, die das wahre ästhetische Erlebnis auszeichnen. Bohrer, fast drei Jahrzehnte lang Herausgeber des «Merkur» und zuletzt in Stanford Gastprofessor, war stets für unzeitgemässe Betrachtungen gut. Immer schon missfiel ihm der falsche Moralismus in Politik und Gesellschaft, der krude Aktualismus des Regisseurtheaters oder die Verkümmerung der Kulturwissenschaft zu Ideologiekritik oder historistischer Kontext-Forschung, die mit dem individuellen Kunststück nichts anzufangen weiss. Wer nur die Moral einer Geschichte im Auge hat, der hat für den Klang der Wörter, den Rhythmus der Verse, die Magie der Bilder, für Farben, Formen, für ästhetische Wirkungen weder Geist noch Sensorium.

Um die Rettung des Ästhetischen als eigener Wertsphäre geht es Bohrer, jenseits von gut und böse, von wahr und falsch, von nützlich und unnütz. Auch der jüngst erschienene Band, «Ist Kunst Illusion?», der Vorträge und Aufsätze aus den letzten Jahren versammelt, errichtet Grenzmarken. Sie sollen die Künste vor den Übergriffen der Geschichte, der Psychologie und Moral retten.

Bohrers Gewährsleute sind nicht unbekannt: Novalis, Brentano, Baudelaire, Nietzsche, Bataille oder auch Heinrich von Kleist, dessen «Michael Kohlhaas» er nicht als Lehrstück über die fatalen Folgen des moralischen Rigorismus liest, sondern als Exemplum «imaginativer Intensität». Der «gottverdammte, entsetzliche» Mordbrenner stürzt im Kleistschen Text von Augenblick zu Augenblick. Er erbleicht, errötet, gerät ausser sich, bewegt sich knapp vor dem Abgrund. Doch was Bohrer als Schreibweise eines rätselhaften Ausnahmezustands identifiziert, widerspricht der moralischen Lesart nicht, sondern bestätigt sie. Unbedingt ist die Wut zur Rache. Kohlhaas ist kein Prinzipienreiter, er agiert im Sog der Vergeltung, die ihr Ende nicht in Ausgleich oder Strafe findet, sondern in Vernichtung rundum.

Schon Ovids «Metamorphosen» glaubt Bohrer als frühes Beispiel einer reinen, ausgekühlten Ästhetik lesen zu können. Ob das Ende des Jägers Aktaion, des Sängers Orpheus oder des Satyrs Marsyas – Ovidius spart selten mit grausigen Details. Doch fehle Ovid, so Bohrer, nicht nur das Pathos der attischen Tragödie, er lasse jede theologische oder moralische Bedeutung hinter sich. Diese Lesart will nicht recht überzeugen. Viele Verwandlungen fallen deshalb so blutrünstig aus, weil sie Strafen der Götter darstellen, verhängt als Vergeltung für Hochmut oder Frevel an der natürlichen Ordnung. Nicht selten tendiert die lustvolle Schilderung der Zerstörung ins absurd Groteske. Nicht distanzierte Schreckensästhetik, sondern verzerrende Demontage des alten Heldenpathos bildet den Hintersinn vieler Metamorphosen, nicht zuletzt die Entlarvung göttlicher Willkür.

Auch von Geschichte und Erinnerung sucht Bohrer das Ästhetische abzusetzen. Gewiss gilt die poetische Erinnerung nicht Tatsachen, sondern dem Erlebnis literarischer Figuren. Sie schildert keine historischen Begebenheiten und singt auch keine Elegien der Vergänglichkeit. Sie ergreift vielmehr den verlorenen Augenblick, die entschwindende Gegenwart. Zeithistorische Stoffe oder autobiografische Prosa erlangen erst dann künstlerischen Wert, wenn sie die Zeitmodi Vergangenheit und Zukunft abzublenden verstehen, zugunsten einer ewigen Gegenwart, einer Epiphanie des Augenblicks, eines Zustands jenseits der Zeitläufte. Diese Ästhetik des literarischen Präsentismus zielt nicht nur gegen dekorative Ideenprosa, gegen dokumentarische Berichte oder gegen beschauliche Novellistik. Sie würde, wäre sie konsequent, das Prinzip der Erzählung verabschieden. Jede Narration operiert mit Abfolgen, mit kausalen Bedingungen, mit einem Nacheinander in der Zeit. Früheres erlangt Bedeutung durch Späteres, absolute Gegenwart ist sinnlos. Die Abfolge der Sätze, Eindrücke, Gedanken und Phantasien ist unhintergehbar. Noch in einem diskontinuierlichen Nacheinander von Szenen, Bildern, Symbolen ist die jeweilige Gegenwart niemals Gegenwart allein. Alle Rede vom reinen Jetzt widerspricht der Struktur der Zeit und dem inneren Zeitbewusstsein der Rezeption. Dem Horizont der Zeiten entkommt auch die Sehnsucht nach dem erfüllten poetischen Augenblick nicht.

Fiktionen

Bohrers Abwehr kunstfremder Übergriffe errichtet unnötige Deutungsbarrieren. Gewiss lässt sich über ästhetische Formen, Empfindungen und Erfahrungen nur urteilen, wenn diese überhaupt ins Wahrnehmungsfeld rücken. Die Farben und Gestalten, die Klänge und Rhythmen, die überraschenden Verschiebungen des Wirklichkeitssinns, das Erstaunen beim Öffnen des Vorhangs, beim ersten Akkord, bei der ersten Zeile, beim Auftritt der tönenden Maske, die Entrückung von der Alltagswelt, das Widerfahrnis des Erhabenen, die «Offenbarung» des Schönen, die plötzliche Ergriffenheit durch schmerzvolle Konsonanz, aber auch das Glück unverhoffter Einsicht: Alle diese Modi der ästhetischen Erfahrung sind zunichte, wenn nur geschrien oder geflüstert wird, wenn allein die plumpe Aktualisierung zählt, wenn sofort nach der Bestätigung der eigenen, meist «progressiven» Vorurteile gesucht wird. Aber dies ist kein Grund, die Wahrheitsfrage der Künste in toto zu verabschieden. Gorgias hatte bekanntlich nicht für Lügen und Irreführung plädiert, sondern für Fiktionen. Fiktionen indes können in einem gewissen Sinne wahr sein, obwohl sie niemals abbilden, darstellen oder beschreiben, was gerade der Fall ist.

Karl Heinz Bohrer: Ist Kunst Illusion? Hanser, München 2015. 160 S., br., Fr. 27.90.


Nota. - Es führt in die Irre, das Ästhetische durch die Kunst zu definieren, wie es von  Hegel bis Gadamer versucht wurde. Aber es führt auch in alle möglichen Sackgassen, die Kunst durch das Ästhetische bestimmen zu wollen. Haute Cuisine ist ein Kunst, und doch essen wir nicht um des Geschmacks willen. Na ja, manchmal schon. Aber wenn es sein müsste, würden wir auch dem Geschmack zum Trotz essen.

Ohne Essen hätte unsere Spezies nicht überlebt (und keine andere), ohne Kunst womöglich doch, und wenn an der Kunst gar nichts Ästhetisches wäre, wollte sie keiner haben. Ohne das Ästhetische würde es keine Kunst geben, aber das Ästhetische würde es auch ohne Kunst geben - nur hätten wir es womöglich nicht erkennen gelernt, und für uns wäre es also nicht...

Die Frage, ob das Ästhetische durch die Rolle bestimmt ist, die es in der Lebenspraxis spielt, ist nicht die Frage, welche Stellung die Kunst in der Gesellschaft hat, und wie wichtig sie in meinem Leben ist. Das Ästhetische ist geradezu dadurch definiert, dass es keine Rolle in der Lebenspraxis spielt: als dasjenige, was übrigbleibt, wenn man alle nützlichen Dinge und alles Nützliche an den Dingen abgezogen hat (was restlos gar nicht möglich ist, denn wenn es stimmt, dass Grün meine Nerven beruhigt, während Orange sie aufregt, dann kann ich zumindest diese Farben niemals 'rein ästhetisch erleben'). Das Ästhetische ist der bestimmte Gegensatz zum Nützlichen.

Die Kunst steht dazu in einem Verhältnis der Teilhabe, méthexis: "Ein bisschen" stand die Kunst "immer auch" im Gegensatz zum Ökomischen, zur materiellen Produktion, und wenn noch dem praktischsten Utensil eine gute Form gegeben wird, dann wird sie doch als das Uneigentliche daran erkannt; siehe La Fontaines Fabel von dem geschnitzten Bogen. Das ist ein zaghaftes, tastendes, stets unsicheres Verhältnis; es ist nämlich seinerseits 'nichts als' ein Ausdruck der prekären Stellung des Künstlers gegenüber dem Arbeiter. Originär ist die Kunst dadurch entstanden, dass sich ein gesellschaftlicher Stand von Menschen ausgebildet hat, die ihren Lebensunterhalt dadurch bestritten, dass sie ästhetisch-ausgezeichnete Dinge herstellten, die sie gegen nützliche Dinge eintauschten, die die Andern herstellten - oder gegen ihre allgemeinen Stellvertreter, das Geld. Je wohlhabender die Andern werden, umso selbstsicherer werden die Künstler, und umso weniger müssen sie auf ihre profanen Bedürfnisse (etwa nach hübschen Illusionen) Rücksicht nehmen - denn umso weiter können jene über dieselben hinausschauen.

Es kommt dann so weit, dass die Künstler übermütig werden und meinen, gar nicht für die Andern zu schaffen, sondern für die Kunst selbst. Umso virulenter wird gestritten, was das Wesen der Kunst ist, und umso mehr wird sie selber mit dem Ästhetischen verwechselt. 

Mit der Sackgasse der Abstraktion, mit dem Ende der Avantgarde, mit der Beliebigkeit des Alles-schon-mal-Dagewesenen klingen solche Debatten wie Nachrufe. In der Dämmerung steigt die Eule der Minerva auf uns sieht, was Kunst einmal gewesen ist und welchen Beitrag zur Ästhetisierung der Welt sie einmal geleistet hat.
JE

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Dienstag, 24. März 2015

Das Werk des Verschmähten: Hans Erni.

aus nzz.ch, 2.8.2009                                                            Schweizer Landesausstellung "Landi", Zürich 1939

Das Werk des Verschmähten
Zum 100. Geburtstag von Hans Erni zeigt das Kunstmuseum Luzern eine Retrospektive. 

Von Nadine Olonetzky

Wünscht sich nicht jeder Künstler solche Ausstellungsbesucher? Mit einem Lächeln auf dem Gesicht stehen sie vor den Bildern, diskutieren in kleinen Gruppen und schlendern dann gemächlich weiter. Auch wenn draussen Sommer ist, die Japaner vor dem Raddampfer «Schiller» Schlange stehen, haben es die Besucher der Retrospektive zum 100. Geburtstag von Hans Erni wirklich nicht eilig. Gefällig und kitschig für die einen, anschaulich und das Resultat eines ungemeinen Könnens für die andern: Das riesige, im Lauf von achtzig Jahren entstandene Œuvre des Kunstmalers ist unverkennbar durch die schwungvollen Linien, die über die Farbflächen gezogen sind, und äusserst populär, doch vom Kunstbetrieb wird es nicht ernst genommen. Erni selbst, scheinbar unberührt von solchen Anfechtungen, ist noch immer jeden Tag am Werk.

aus Die Schweiz, Ferienland der Völker, Landi 1939

Am 21. Februar 1909 als Sohn eines Schiffsmaschinisten in Luzern geboren, lernt Hans Erni zuerst Vermessungs- und Bauzeichner, besucht aber ab 1927 die Luzerner Kunstgewerbeschule. In den frühen 1930er Jahren reist er wie fast alle Künstler nach Paris, lässt sich vom Kubismus begeistern, verdient seinen Lebensunterhalt mit der Gestaltung von ersten Plakaten und bildet sich dann an der Kunstakademie in Berlin weiter. 1935 stellt Erni an der Avantgarde-Ausstellung «These – Antithese – Synthese» im Kunstmuseum Luzern aus und bewirkt, dass auch Werke von Picasso und Braque gezeigt werden. Doch mit dem Wandgemälde «Die Schweiz, das Ferienland der Völker», das er für die Landesausstellung 1939 realisiert, wird er nicht nur bekannt, es beginnt auch jene Entwicklung hin zum Populären und Gehübschten, die ihm die Anerkennung des Kunstbetriebs verwehren wird. Spätestens seit 1979 im Luzerner Verkehrshaus das Hans-Erni-Museum eröffnet ist, muss sich kein Kunstmuseum mehr verpflichtet fühlen, Ernis Bilder, Zeichnungen oder Druckgrafik seriös zu sammeln.


Nicht einfach nur hübsch

Das Überraschendste dieser Retrospektive sind nun die abstrakten Gemälde der 1930er Jahre. Während «Stillleben mit Krug und Zitronen» (1933) noch an Braque erinnert, sind der bereits entfernter an Hans Arp gemahnende «Einfache Knoten» (1934), vor allem aber die abstrakten Bilder der Serie «Komposition A» (und B, C, D!) und die meditativen «Panta Rhei»-Gemälde (alle um 1935) nicht einfach nur hübsch, sondern stark und vielversprechend. Zwar Kinder ihrer Epoche, ermöglichen sie Vertiefung und Kontemplation, gerade weil sie keine eindeutige Botschaft haben. Einen Saal weiter beginnt man jedoch schon zu merken, dass Hans Erni ein virtuoser Phagozyt – ein Einverleiber – aller Kunstströmungen seiner Zeit war. Ein wenig Kubismus zuerst, ein bisschen Dalíscher Surrealismus dann, später eine Prise abstrakter Expressionismus und irgendwann über allem der Schmiss seiner Zeichenstriche: Dass virtuoses Können und Leichtigkeit eine Falle sein können – man hat es zunehmend vor Augen. 

Clean energy 1999

In den berühmten Pferdebildern und Mutter-Kind-Kompositionen wie «Liegende Mutter und Kind» (1964), den Sport und Technik gewidmeten Gemälden «Ikarus – Lilienthal» (1941) oder «Poème nucléaire» (1958) verfährt Erni nach dem Prinzip, das ihn bekannt machte: Er zeichnet und kratzt die Figuren schwungvoll in die Farben des abstrakten Untergrunds und verbindet so mehrere Bildsprachen zu einer metaphorisch bedeutungsschwangeren Gesamtkomposition. Zuweilen addiert er technische Zeichnungen, bleibt aber meist dekorativ oder wie in «Der Kreislauf des Wassers» (1945) im Didaktischen stecken; vollends im Kitsch enden schliesslich Bilder wie «Anklagende Steine» (1985) oder «Verscharrte Opponenten» (2009). 


Dass Erni politisch brisante Themen aufgriff, mag erstaunen. Der überzeugte Kommunist, der in den 1940er Jahren nach einer Intervention von Bundesrat Philipp Etter den Auftrag für neue Banknoten nicht zu Ende führen konnte, in der Folge von öffentlichen Aufträgen ausgeschlossen blieb und bis zu einer Ausstellung in Schaffhausen 1966 in der Schweiz geradezu geächtet war, machte keinen Bogen um die Schwierigkeiten dieser Welt. Bilder wie «Das Zeitalter der Konflikte» und «Atomschrecken» (beide 1962) oder Plakate wie «Rettet den Wald» (1983) mögen sentimental-pathetische Bildfindungen für Gewalt oder Umweltprobleme sein. Sie erreichen aber das Publikum, und das war und ist Hans Erni ein Anliegen.


Faire Würdigung ohne Lügen

Trotz der Zwiespältigkeit dieses Œuvres hat sich der Direktor des Kunstmuseums Luzern, Peter Fischer, mit unzynischer Sorgfalt an die Retrospektive gemacht. Er hat die Werke von den Entwürfen für das Landi-Wandgemälde über den Wandteppich «Mensch und Fortschritt» (1974) bis zu den neuen Gletscher-Bildern (2007) so zueinander in Beziehung gesetzt, dass die Entwicklung der Motive nachvollziehbar wird. Und das Buch zur Ausstellung, in dem ein informatives Gespräch mit dem Hundertjährigen zu lesen ist und renommierte Autoren über das Landi-Bild, die Gemälde oder Ernis Plakate schreiben, illustriert den fairen Versuch, das Werk dieses vielgeschmähten Künstlers zu würdigen, ohne über seine Schwächen hinwegzulügen.


Die Retrospektive im Kunstmuseum Luzern dauert bis am 4. Oktober 2009. Am 8. September findet ein öffentliches Künstlergespräch mit Hans Erni und Peter Fischer statt. Der Katalog mit Beiträgen von Stanislaus von Moos, Claude Lichtenstein, Peter Fischer, Serge Lemoine sowie einem Gespräch von Philip Ursprung, Hans Ulrich Obrist und Dora Imhof mit Hans Erni erschien im Benteli-Verlag, Sulgen 2009. 

Nota. - Zunächst einmal: Der Mann hat unglaublich viel gemacht, selbst für einen, der ein volles Jahrhundert Zeit hatte. Und er hat alles Mögliche gemacht, Bilder, Skulpturen, Zeichungen, Druckgraphik sowieso, aber auch Postkarten, Briefmarken, Medaillen für Schützenfeste, Ausstellungen und Firmenjubiläen - ein ganzes eignes Genre, Kunst im Kleinen, und alles, was er angefasst hat, hat er gekonnt, es ist nichts gepfuscht, auch da nicht, wo die Evidenz der message jede Sorgfalt überflüssig gemacht hätte; mit andern Worten, auch die unverstellt kitschigen Sachen. Die im Text besonders als solche hervorgehobenen Stücke sind im www nicht (mehr?) aufzutreiben, ich muss mich hier auf das Gefällige beschränken. 

Und dabei hätte er das selbst um des Verdienstes willen gar nicht nötig gehabt. Er konnte auch avantgardistisch, und das so souverän, dass er es nicht einmal "nachmachen" musste. Will sagen, er besaß nicht nur die Handfertigkeit, sondern auch den nötigen Horizont für die wahre Kunst. Dass er trotzdem vom volksfreundlich Gefälligen nicht ablassen mochte, kann nicht bloß Sturheit gewesen sein. Es mag auch eine entschieden eigene Meinung über Zweck und Wesen der Kunst darin gesteckt haben. 
JE


Aristoteles mit Muse