Figurentypen und Konstellationen im Raum
von Sergiusz Michalski
Beinahe vierzig Jahre war der Zugang zum Werk Oskar Schlemmers, eines grossen Malers, wichtigen Bauhauskünstlers und Schöpfers des weltberühmten «Triadischen Ballettes», juristischen Auseinandersetzungen seiner Erben zum Opfer gefallen. Die letzte grössere Schlemmer-Ausstellung fand 1977 statt. Ein beträchtlicher Teil des Œuvre, der sich noch immer im Familienbesitz – es wird von einem riesigen Depot in der Schweiz gemunkelt – befindet, wurde nicht mehr auf Ausstellungen gezeigt, auch wurden Reproduktionsrechte der Bilder verweigert. Nachdem zum Neujahrstag 2014 das Werk Schlemmers – 70 Jahre nach dem Tod des Künstlers – im juristischen Sinne gemeinfrei geworden war, änderte sich die Situation grundlegend: Anlass genug für die imposante Ausstellung in der Stuttgarter Staatsgalerie, die mit über 260 Gemälden, Plastiken, Zeichnungen und Kostümen ein wahrlich bestechendes Bild des Werkes des Künstlers liefert.
Heroische Szene, 1935
Ausdruck einer Versachlichung
Nach einer Periode postkubistischer Landschaften hat Schlemmer um und nach 1920 zu einem Figurenkonzept gefunden, das auf dem Interesse des Künstlers für Figurinen-Ballette und die Pantomime basierte. Nun ging es ihm darum, im komplizierten Formenrepertoire der frühen zwanziger Jahre eine eigene stilistische Position zu markieren. In der Formierungsphase seines Figurenstils, so bis 1925/26, gibt es Berührungen zum Konstruktivismus, zur Art déco, zur aufkommenden Neuen Sachlichkeit und offensichtlich auch zur italienischen Pittura Metafisica. Doch schnell schafft es Schlemmer, durch Typisierung der Figuren und subtile Raumsetzungen sein Hauptthema zu etablieren.
Oskar Schlemmer mit schwarzer Fliege, originaler Fotoabzug, um 1920
Die Figur im Raum wird zum «Mass aller Dinge», weniger im Sinne eines Modulors à la Le Corbusier, sondern als Ausdruck einer Versachlichung figürlicher Lebendigkeit – die bei Schlemmer übrigens auch auf den progressiven Körperkult der zwanziger Jahre zurückgeht – im dazugehörigen Raum. «Ich will Menschen-Typen schaffen und keine Porträts, und ich will das Wesen des Raumes und keine Interieurs», proklamierte der Künstler programmatisch. In vielen seiner Werke («Vierzehnergruppe in imaginärer Architektur») wird er diesem letztlich ja das Humanistische betonenden Anspruch gerecht. Schlemmer schuf anschliessend ein kombinatorisches Verfahren, das einmal erarbeitete Typenfiguren oder figürliche Konstellationen versatzstückartig in unterschiedlich konstruierte Räume einfügte. Nur selten empfindet man die Resultate dieser Praxis als monoton.
Plan mit Figuren 1919; Geteilte Jünglingsfigur 1921
Die Ausstellung zeigt anschaulich die Bedeutung der späten zwanziger und frühen dreissiger Jahre, in denen sich der Figurenstil Schlemmers in mehrere Stränge aufspaltete. Die geniale «Bauhaustreppe» (1932, New York) setzt die Figuren in einen konkreten, nachvollziehbaren Raum, nämlich den des Bauhausgebäudes. Genau zu diesem Zeitpunkt stand die berühmte Bauschule, die Schlemmer drei Jahre zuvor verlassen hatte, vor dem Ende ihrer Existenz.
Zwölfergruppe mit Intérieur, 1930
Daneben gibt es eine erstaunliche «neobarocke» Phase, so in der furiosen «Gruppe mit blauem Ekstatiker». Eine zentrale Rolle spielten die Entwürfe für die Bilder des Brunnenraumes des Folkwang-Museums in Essen (1928–30), die einige Jahre nach ihrer Anbringung an den Wänden von den Nationalsozialisten entfernt und zerstört wurden. Die drei «Folkwang-Zyklen» präsentieren sehr unterschiedliche Figurensetzungen und Figurentypen, einige der Lösungen, vor allem im sogenannten blauen Zyklus, zeigen Alternativen zum geometrisierenden Figuralstil.
Gruppe mit blauem Ekstatiker
Beim näheren Hinsehen drängen sich Ähnlichkeiten zum Schaffen der zeitgenössischen Gruppe der sogenannten Kölner Progressiven oder der 1930er Gemälde des bekannten Malers Anton Räderscheidt auf. Eine vorurteilslose Untersuchung der Beziehungen Schlemmers zum breiten Umkreis der von ihm ausdrücklich nicht geschätzten Neuen Sachlichkeit bleibt noch von der Forschung zu leisten.
2 Scheibentänzer aus dem Triadischen Ballett, 1922
Nach 1933 versuchte Schlemmer verzweifelt, eine Basis für einen Kompromiss mit den braunen Machthabern zu finden. Aus historischer Perspektive muten die Versuche der Jahre 1933–35, seine Kunst den Nazis sozusagen ideologisch wertfrei zu präsentieren – einige solcher Schriftstücke werden auch in der Ausstellung präsentiert –, eher peinlich an, da der unpolitische Künstler lange den Charakter der sich stetig radikalisierenden Nazi-Kunstpolitik verkannt hatte. Ebenso peinlich waren seine Wandbildentwürfe, in denen er versuchte, die Vorzüge der neuen «Volksgemeinschaft» mit einer merkwürdigen Mischung aus Präraffaelitismus und Symbolismus zu preisen. Die berüchtigte Ausstellung der «Entarteten Kunst» 1937, auf der Schlemmer auch mit einer Reihe von «Exponaten» vertreten war, brachte hier die definitive Scheidung der Geister.
Figur aus dem Triadischen Ballett, 1922
Frage nach dem Menschenbild
Mit zunehmendem politischem Druck verschlechterte sich der Gesundheitszustand des Künstlers, schliesslich wich Schlemmer zu einem befreundeten Farbenfabrikanten nach Wuppertal aus. Die ergreifenden «Fensterbilder» der Jahre 1941/42 widerspiegeln als sein letztes Werk – der erschöpfte und bedrängte Künstler starb im Frühjahr 1943 – die bedrohliche Atmosphäre der Kriegsjahre.
Fensterbild I (Abendessen im Nachbarhaus) 1942
Das besondere Prozedere der Typisierung der Figur und ihrer Setzung in ein System von Raumbezügen ruft unweigerlich die Frage nach dem Menschenbild einer solchen Malerei hervor. Oskar Schlemmer hat in unzähligen Variationen dem bei ihm anfänglich dominierenden gliederpuppenhaft-mechanischen Aspekt um Ansätze von so etwas wie einer «funktionalen Humanität» und auch einer latent spürbaren Klassizität («Römisches») ergänzt, ohne dabei letztlich zu einer Synthese zu kommen. Die Probleme der Raumsetzung einer Figur, ihrer Drehung oder Überblendung durch eine andere Gestalt ersetzen bei Schlemmer – eine bezeichnende Ausnahme bildet sein eindrucksvoller «Paracelsus» von 1923 – das innerbildlich Dialogische oder das sich rhetorisch an den Betrachter Wendende. Es ist bezeichnend, dass in den regimeaffinen Entwürfen der Jahre nach 1933 ein Bezug zum Raum völlig fehlt.
Wettlauf 1931
Ein Torso – eine Bereicherung
Es ist nur schwer vorstellbar, wie Schlemmer ohne den Druck der Nazis seine figurentypischen Kompositionen in der Zeit um 1940 hätte weiterentwickeln können. Vielleicht könnte eine vergessene Episode des Nachlebens seiner Kunst – auf die die Ausstellung nicht eingehen konnte – hierzu erhellend wirken. Der lokale Maler Walter Wörn schuf im Stuttgarter Rathaus 1955 ein grosses Schlemmer-Pasticcio, das, als «Gespräch» tituliert, das Funktionieren der Demokratie im öffentlichen Raum der jungen Bundesrepublik zu versinnbildlichen versuchte. Gewiss war dies, zehn Jahre nach dem Tod des Künstlers, ein eher durchschnittliches Werk, doch implizierte es eine zuspitzende Ausführung einer potenziell bei Schlemmer immer präsenten Idee.
Wandbild Familie im Haus Dieter Koller, 1940
So blieb Schlemmers Kunst, wie die Weimarer Republik selbst, ein Torso, ohne den aber die deutsche Kunst des letzten Jahrhunderts um ein vieles ärmer wäre. Die Stuttgarter Schau, die mit einem imponierend vielgestaltigen Begleitprogramm ergänzt wird und die schon grosse Resonanz erfahren hat, wird zweifellos als besondere historische Zäsur in die Geschichte der Schlemmer-Rezeption eingehen.
Oskar Schlemmer. Visionen einer Neuen Welt. Stuttgarter Staatsgalerie. Bis 6. April 2015. Katalog € 29.90.
Nota. - Man merkt, der Autor hätte gern einen bedeutenden Beitrag geschrieben. Dafür war er auch bereit, seinen Schlemmer einen bedeutenden Künstler zu nennen, das besondere Ereignis rief danach. Aber immer, wenn er was zu Papier gebracht hatte, musste er es im Nachsatz gleich wieder einschränken und herabstufen. So kommt nur eine etwas ratlose Würdigung als Wegmarke der Kunstgeschichte heraus. Die Nazis waren schuld? Es gab Maler, die haben sich nicht anzupassen versucht, selbst Nazi Nolde nicht! Was man aber sonst auch über seine Kunst sagen mag: Etwas Eigenes, das er der Naziästhetik entgegensetzen konnte, hatte er. Und Schlemmer eben nicht, sonst hätte er sich nicht so sehr darum bemühen müssen - und gerade darum vergeblich. Am besten sind noch die dadaistischen Sachen von Anfang der 20er, da konnte er richtig auf die Pauke hauen, aber das war doch nur eine Manier, die war nach ein paar Jahren erschöpft. Das war die Neue Sachlichkeit auch, die hätte ihn nicht lange über Wasser gehalten. Von seinen Lebensum- ständen, die zu seinem frühen Tod geführt haben, weiß ich nichts. Aber ich glaube, dass ihm künstlerisch die Luft aus- gegangen war.
JE
Wandfries im Haus Mendelsohn, Berlin, Entwurf, 1930
Keine Kommentare:
Kommentar veröffentlichen