Donnerstag, 19. März 2015
Die deutsche Renaissance neu bewerten?
aus nzz.ch, 19.3.2015, 05:30 Uhr Hetäre mit Geschäftssinn: Laïs Corinthiaca von Hans Holbein d. J., 1526
Die deutsche Renaissance
Höhenweg der deutschen Malerei
von Franz Zelger
In einer grossangelegten Publikation plädieren Anne-Marie Bonnet und Gabriele Kopp-Schmidt für eine Neubewertung der deutschen Malerei der Renaissance, die sich zwar weitgehend in einem Dialog mit Italien entwickelte, stets aber Eigenständigkeit bewahrte.
Der Aufbau dieses Prachtbandes ist einfach und sinnvoll. Sechs kurze Essays führen kompetent in ein spannendes Thema ein und vermitteln ein facettenreiches Zeitbild. Anschliessend folgen 166 kommentierte Farbtafeln. Im ersten Teil vermittelt Anne-Marie Bonnet Einblicke in die Komplexität dynastischer, territorialer, religiöser und kultureller Verflechtungen von Dürers erster Italienreise (1495) bis zum Augsburger Religionsfrieden von 1555. Schauplätze waren der kaiserliche Hof Maximilians I. und die Höfe der Territorialfürsten und Fürstbischöfe im damaligen Römischen Reich Deutscher Nation. Im Spannungsfeld zwischen Adel und aufstrebendem Bürgertum, zwischen weltlichen und kirchlichen Auftraggebern entstanden in Wien und Innsbruck, in den Handelsmetropolen Nürnberg, Frankfurt und Strassburg, im Augsburg der Fugger, in Wittenberg und Halle jeweils eigene konkurrierende Kunstzentren – eine Aufsplitterung, die sich kulturell und künstlerisch als fruchtbar erwies. Während die berühmtesten Italiener meist an die Funktion eines Hofkünstlers gebunden waren, erreichten Dürer und Altdorfer dank ihren künstlerischen Erfolgen hohe Ämter in ihren Städten. Und Cranach war Hofkünstler und gleichzeitig ein sehr erfolgreicher Unternehmer.
Altdorfer, Hl. Georg im Walde, 1510
Solche Selbständigkeit, die unter anderem durch die Produktion von Grafik in eigenem Auftrag erlangt wurde, kann nach Bonnet als damals spezifisch deutsche Entwicklung gelten. Mit der beginnenden Neuzeit wuchs das Interesse an weltlichen Themen, was mit neuen Motivbereichen verbunden war. In diesem Zusammenhang diskutiert Gabriele Kopp-Schmidt Themen wie «Neue Blicke – gefährliche Frauen», «Das deutsche Porträt um 1500 – Memoria und Selbstreflexion», «Die Landschaft vor Augen».
Grünewald, Die kleine Kreuzigung
Der zweite Teil der Publikation stellt anhand exemplarischer Werkbetrachtungen das Schaffen von Albrecht Dürer, Lucas Cranach, Hans Burgkmair d. Ä., Mathis Grünewald, Albrecht Altdorfer, Hans Baldung Grien und der Familie Holbein anschaulich vor und bildet einen eigentlichen Höhenweg deutscher Renaissancemalerei.
Die Bildkommentare vermitteln in lebendiger Sprache nicht nur die neuesten wissenschaftlichen Erkenntnisse, sie führen auch die Augen ganz selbstverständlich, so dass die oft mehrschichtigen Bildinhalte nachvollziehbar werden. Das Ganze bildet eine Epochenschau, in der das Spezifische der deutschen Malerei klar und kenntnisreich herausgearbeitet ist.
H. Baldung-Grien, Der Tod und die Frau, 1518/20
Die Verdienste der beiden Autorinnen sind unbestritten. Dessen ungeachtet kann man sich des Eindrucks nicht erwehren, sie seien manchmal etwas zu einseitig auf den Dialog mit Italien fixiert. Wenn Anne-Marie Bonnet zum Beispiel schreibt, dass «Dürer bekanntermassen die Aktdarstellung nördlich der Alpen begründete», hat sie wohl nicht an Adam und Eva auf dem Genter Altar der Brüder Jan und Hubert van Eyck gedacht, der einige Dezennien zuvor entstanden war. Die Niederlande finden in dem mächtigen Buch zwar da und dort Erwähnung (da ist unter anderen die Rede von Jan van Eyck, Quentin Massys, Joos van Cleve, Hans Memling, Lucas van Leyden), doch wäre es sicher lohnend gewesen, noch weitere Verbindungslinien aufzuspüren.
Hans Memling, Das jüngste Gericht
Dass der Band mit unverändertem Text in leicht grösserem Format (zu einem erheblich höheren Preis) bereits 2010 erschienen ist, hätte in der vorliegenden «Volksausgabe» von «Die Malerei der deutschen Renaissance» eigentlich vermerkt werden müssen. Auch wäre im Anhang ein Register hilfreich gewesen. Insgesamt handelt es sich jedoch um eine innovative, anregende und informationsreiche Überblicksdarstellung.
Anne-Marie Bonnet, Gabriele Kopp-Schmidt. Unter Mitarbeit von Daniel Görres: Die Malerei der deutschen Renaissance. Verlag Schirmer/Mosel, München 2014. 408 S., 307 farbige Abb. u. Tafeln. € 49.80.
Und allein wegen dieser beiden keuschen Figürlein, die auf dem gewaltigen Genter Altar nur zwei ganz winzige Flügelchen ausmachen, soll Dürer des Verdienst abgesprochen werden, in Deutschland die Aktmalerei heimisch gemacht zu haben?
Nota. - Und auf die ungebremste Expressivität, die die deutsche Malerei bis ins sechzehnte Jahrhundert so sehr von dem unterscheidet, was die Italiener ihre Renaissance genannt haben und was durch Schönheit und Natürlichkeit ausgezeich- net war, gehen die beiden Autorinnen nicht weiter ein? Das ist ein Unterschied, der tief aus dem Mittelalter herkommt und bis in die Neuzeit dauert. Sozial- und kulturgeschichtliche Erwägungen in allen Ehren, doch wenn an der deutschen Renaissance irgendwas "neu" bewertet werden müsste, sollte man eher da anfangen.
JE
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