Dienstag, 30. September 2014

Das ästhetische Paradox.



Am Paradox des Ästhetischen - dass es scheint, als wolle es etwas bedeuten, ohne Etwas zu bedeuten - erscheint die transzendentale Prämisse (generische Apriori) der conditio humana: dass nämlich "Alles einen Sinn hat".

aus e. Notizbuch, 26. 10. 06







Montag, 29. September 2014

Der Feind des Ästhetischen ist die Absicht.

italienisch; Renaissance

Der bestimmte Gegensatz zum Ästhetischen ist die Absicht. 

Beim Naturschönen beeindruckt vor allen Dingen, wenn es "so aussieht, als habe es wer mit Absicht gemacht" - wobei vorgängig bewusst ist, dass es nicht "gemacht" ist, sondern... so ist, wie es ist. Kommt der Eindruck, "als hätte es wer mit Absicht gemacht", an die 'bewusste' Oberfläche, tritt beim Betrachter eine Art ironische Distanz ein. Bei gewissen Sonnen- untergängen, die aussehen, als habe sie wer "mit Absicht gemacht", um auf die [...] zu hauen, kommt der Gedanke Kitsch auf. 

Umgekehrt, beim Maler, der es schafft, dass sein Landschaftsstück aussieht, als sei es ohne Absicht entstanden, tritt eben der Effekt des "Naturschönen" ein.

 Poussin; das sieht nicht so aus, als sei es "ohne Absicht entstanden"

Weshalb das Stillleben in ästhetische Hinsicht ein engeres Genre ist als die Landschaft. Das "ohne Absicht" ist vorstellbar nur im Zuge alltäglicher (häuslicher) Verrichtung, denn die Gegenstände sind keine Naturdinge, sondern "Zeug". Ästhetisch kann es wirken, wenn die Anordnung der Gegenstände "so aussieht, als ob" sie durch den Zufall alltäglicher Routine zustande gekom- men sei. Das engt den Kreis möglicher Gegenstanände und noch mehr den Kreis möglicher Arrangements ein.

aus e. Notizbuch, 26. 10. 06


 

Sonntag, 28. September 2014

Warum sind die Geschmäcker verschieden?

aus Die Presse, Wien, 28. 9. 2014
 
Eine Frage des Geschmacks 
Süß, sauer, salzig, bitter, umami - diese Geschmäcker nehmen wir im Mund (und auch anderswo) wahr. Aber nicht alle nutzen die ganze Palette.
  
 

"Der Mensch ist, was er isst.“ Mit keinem Diktum hat ein Philosoph so viel Spott auf sich gezogen wie Ludwig Feuerbach mit dem. Dabei steckt politische Sprengkraft darin, und anthropologische auch, der Philosoph stellte es klar, als ihm das „Hohngelächter“ zu laut wurde: „Menschliche Kost ist die Grundlage menschlicher Bildung und Gesinnung. Wollt ihr das Volk bessern, so gebt ihm statt Deklamationen gegen die Sünde bessere Speisen!“ Das ging gegen die irdische Macht und den Segen des Himmels bzw. der Kirche dazu, und ins Grundsätzliche wies die implizite Umdrehung des Satzes: „Ist nicht selbst der Magen des gebildeten Menschen ein anderer als der des rohen?“

Der Mensch isst also auch (nur), was er ist, jeder Gourmet, der seine Bildung in der gehobenen Gastronomie eingelöffelt hat, kann es bezeugen, in Wort und Tat, er rümpft rasch die Nase, und wenn ihm doch etwas Widerwärtiges in den Schlund gerät, spuckt er es aus. Andere tun es auch: 1931 rührte der Chemiker Artur Fox so heftig in einem Pulver herum – Phenylthioharnstoff (PTH) –, dass einiges erst in die Luft geriet und dann auf die Zungen. Ein Assistent beschwerte sich, das Zeug sei gallebitter, Fox schmeckte nichts, seither weiß man, dass es bei PTH bzw. Bitterem Taster und Non-Taster gibt. 1939 testete Ronald Fisher Schimpansen darauf, er gab ihnen mit PTH versetztes Wasser zu trinken, und genoss es sehr, als manche Probanden ihm das Gebräu ins Gesicht spukten. Andere taten es nicht, Schimpansen geht es also wie Menschen, sie reagieren individuell unterschiedlich. Warum und wozu? „Darüber zu spekulieren, wo die selektiven Vorteile liegen, wäre zum gegenwärtigen Zeitpunkt nutzlos“, bedauerte Fisher in Nature (144, S.750).


Aber dass es ganz unterschiedliche Geschmäcker gibt, hat sich so rasch nicht herumgesprochen, lang ging man davon aus, dass quer durch das Tierreich von Zungen und Gaumen das wahrgenommen wird, was wir wahrnehmen: süß, sauer, salzig, bitter – und umami, 1908 in Japan entdeckt und benannt, es klingt an herzhaft und köstlich an und meint den Fleischgeschmack von Aminosäuren. Fünf Geschmacksrichtungen gibt es also, vielleicht auch mehr, weniger hingegen nicht, so stand es in den Büchern. Doch dann kamen, in den 1970er-Jahren, die Katzen: An ihnen bemerkte Gary Beauchamp (Philadelphia), dass es völlig sinnlos ist, sie mit Zucker verwöhnen zu wollen: Sie haben keinen Geschmack für Süßes. Später fand Beauchamp bei anderen Jägern das Gleiche: Seelöwen und Hyänen etwa haben die entsprechenden Gene stillgelegt – zu „Pseudogenen“ –, und sie haben es mit unterschiedlichen Mutationen getan, das Süße-Sensorium also unabhängig voneinander abgelegt (Pnas, 109, S.4956).

Verzicht auf Überflüssiges. 


Denn sie brauchen es nicht, sind nicht hinter Zucker her, sondern hinter Fleisch oder Fisch. Diesen schlingen manche unzerkaut hinab und konnten deshalb auf weitere Geschmacksrichtungen verzichten, Delfine etwa auf umami und bitter. Vor allem Letzteres ist rätselhaft, da viele Pflanzen und Beutetiere mit bitterem Geschmack vor ihrem Verzehr warnen, sie haben Gifte eingelagert. Die müssen Delfine auf anderen Wegen detektieren – man weiß nicht, auf welchen –, aber der Verzicht auf Geschmack stellt ein noch viel härteres Problem: Die gleichen Gemacksknospen, die Nahrung verkosten, sitzen auch anderswo im Körper, im Darm etwa achten sie auf den Zuckergehalt der Nahrung – und steuern den Zuckerhaushalt –, in den Nieren auf Salz, in der Lunge auf Bitteres, im Rückenmark auf Saures, sogar in Hoden und Sperma gibt es Sensoren für Bitteres und umami, die Gründe liegen im Dunkeln.

Klar ist nur, dass auch Delfine im Körperinneren Süßes wahrnehmen können müssen, und Pandas – die sich als einzige Bären auf Pflanzenkost beschränken und keinerlei Interesse an umami haben – Fleischgemack. Das gilt auch für Vampirfledermäuse, an denen Huabin Zhao (University of Michigan) erst den Verzicht auf umami bemerkt hat (Genome Biology and Evolution, 4, S.73) und nun auch den auf Bitteres: In Blut ist kein Gift, es schmeckt süß (Proc. Roy. Soc. B, 281: 20141079).

Es sieht also alles danach aus, dass die Palette der Geschmacksrichtungen zunächst in aller Breite etabliert wurde und dann jedes Tier abgelegt hat, was es nicht braucht. Analoges kennt man von Fischen, die in Höhlen leben, sie wurden im Dunkeln blind, das ist bekannt, sie haben aber auch, das ist neu, auf die innere Uhr („circadian clock“) verzichtet, mit der alle anderen Tiere ihren Tagesrhythmus steuern bzw. an der Sonne eichen, Damian Moore (Lund) hat es bemerkt: Die innere Uhr ist teuer, Höhlenfische sparen ohne sie 30 Prozent Energie (PLoS One, 24. 9.).

Entbehrliches wird entbehrt: „Die ganze Geschichte der Evolution des Geschmacks ist eine des Verlusts von Geschmack“, fasst Kurt Schwenk (University of Connecticut) zusammen (Nature 486, S17). Aber das ist nur die halbe Wahrheit, man kann auch auf Geschmack kommen, Maude Baldwin (Harvard) hat es eben an Kolibris bemerkt: Diese Vögel erschlossen vor etwa 72 Mio. Jahren eine ganz neue Nische – Nektar –, indem sie einen Rezeptor entwickelten, den alle anderen Vögel stillgestellt hatten, den für Süßes. Dazu reaktivierten sie nicht etwa die Pseudogene, sie bauten stattdessen die Umami-Detektoren um (Science, 345, S.929).

Bleibt das Rätsel, warum manche Individuen stark auf Bitteres reagieren und andere kaum. Es mag am Bitteren selbst liegen: Zum einen empfiehlt es sich sehr, seine Warnung zu spüren, wir haben 24 verschiedene Bitter-Rezeptoren, Gifte kommen in vielen Strukturen; zum anderen würde Hunger leiden, wer sich zu sehr abschrecken lässt, fast alle Pflanzen schmecken bitter. Zum dritten sind nicht nur Pillen bitter, es gilt auch umgekehrt: Gifte in manchen Pflanzen wirken so gut gegen Krebs, dass die US-Onkologen empfehlen: „Munch on raw broccoli!“ Diese Uneindeutigkeit des Bitteren mag die Entscheidung darüber schwer machen, ob man den Sinn dafür lieber verfeinert oder nicht.



Samstag, 27. September 2014

Das Transzendente ist das Gefühl eines Mangels.



7. 'Das Schöne ist ein Bild der Transzendenz.' - Aber das Schöne 'gibt es' nicht; sondern nur viele Bilder, die erscheinen. Daß 'es' sich immer nicht festhalten läßt, sondern ewig neu gefunden werden muß, ist eine Chiffre dafür, daß das Transzendente kein Positum ist, sondern... das Gefühl eines Mangels. Nämlich das Gefühl, daß Stoffwechsel und Fortpflanzung "nicht alles gewesen sein kann". Daß das Leben sich nicht selbst genügt, sondern daß 'etwas da sein muß, das es wert ist, um seinetwillen das Leben zu führen'. Also daß das Leben seinen 'Sinn' (sensus = Richtung) außer sich findet. Ein Gefühl, bien sûr, das sich erst einstellt, nachdem die Notdurft befriedigt war. - Das ästhetische Erleben ist 'gegeben'; mal so, mal so. In ihm 'erscheint' das Ungenügen an der Immanenz des Daseins. In ihm erscheint der Anspruch eines Plus ultra. (Das Wesen, das Absolute, der Sinn usw.)


Donnerstag, 25. September 2014

Rubens im Brüsseler Bozar.

aus Der Standard, Wien,

Barocke Sensation und Sinnlichkeit
Bis 4. Jänner zeigt das Brüsseler Museum Bozar den Einfluss des flämischen Barockgiganten Peter Paul Rubens auf andere Künstler. Mehr als 160 Kunstwerke sind zu sehen, nur 44 sind von Rubens selbst



Es ist ein Rücken, den man so schnell nicht wieder vergisst. Nicht nur, weil Peter Paul Rubens ihn meisterhaft auf der Leinwand festgehalten hat: üppig, sinnlich, nicht zu schmal. Nein, auch weil dieser Rücken im Laufe der Jahrhunderte mehrmals wieder auftaucht. Schon 1620 zum Beispiel, auf einer Radierung von Rubens' Landsmann Lucas Vorsterman. Oder 1860 bei Edouard Manet und seiner Überraschten Nymphe: Sie dreht dem Betrachter in genau derselben Haltung den Rücken zu wie mehr als 250 Jahre zuvor die Venus frigida von Rubens.


Rubens, Venus frigida, 1614

Alle drei Rückenvarianten können im Brüsseler Bozar (Palais des Beaux-Arts) im selben Raum miteinander verglichen werden. Denn dort findet nicht die soundsovielte Rubensschau statt: Sensation und Sinnlichkeit - Rubens und sein Vermächtnis, so der Titel der überraschende Ausstellung, zeigt den weitreichenden Einfluss, den das barocke Schwergewicht aus Antwerpen auf nachfolgende Künstlergenerationen hatte. Mehr als 160 Kunstwerke sind zu sehen: Gemälde, Ölskizzen, Kupferstiche, Leihgaben aus aller Welt.


Daumier, Frau von Satyrn verfolgt, ca. 1850

Nur 44 davon sind von Rubens selbst, darunter sein Liebesgarten aus dem Prado. Die Mehrheit der Arbeiten stammt von Künstlern, die das Erbe Rubens' angetreten haben: Arnold Böcklin, John Constable, Eugène Delacroix, Oskar Kokoschka, Pierre-Auguste Renoir, Jean-Antoine Watteau.
"Rubens war ein Gigant", sagt der Kurator der Ausstellung, Nico Van Hout: "Er wird gerne als Maler alter Schinken und dicker Frauen abgetan und damit zur Karikatur gemacht. Das möchten wir mit dieser Ausstellung korrigieren.* Sein Einfluss erstreckt sich über vier Jahrhunderte hinweg - bis hin zu Gustav Klimt und Lovis Corinth, das macht ihm so schnell keiner nach! Er wurde geliebt, und er wurde gehasst, eben weil er so genial war. So viel Virtuosität schreckt ab. Mit zwei, drei Pinselstrichen gelang ihm das, wozu andere Tage brauchten."

Rubens Landschaft mit Regenbogen

Inspirationsquelle

Auftakt der Schau ist ein Raum voller Zitate seiner Kritiker und Bewunderer. Vincent van Gogh etwa verurteilte ihn als oberflächlich, war aber hingerissen von der Leichtigkeit seines Pinselstrichs. Renoir gab zerknirscht zu, sich zweimal etwas abgeschaut zu haben, meinte aber angstvoll, das heiße noch lange nicht, dass er nun unter Rubens' Einfluss stehe. Für Rembrandt war er Vorbild, für Diego Velasquez Inspirationsquelle. Delacroix ließ sich als "neuer Rubens" feiern, und Charles Baudelaire widmete ihm in seinen berühmten Fleurs du Mal ein Gedicht.


John Constable Cottage at East Bergholt, c. 1833

Auch in seinem Salon war der französische Dichter voll des Lobes und pries Rubens' Vielseitigkeit. Denn egal, ob mythologische Szenen, Historienbilder, Porträts oder poetische Landschaften: Rubens konnte alle Register ziehen. Deshalb ist die Ausstellung in sechs verschiedene Themenbereiche wie Gewalt, Wollust, Macht oder Poesie gegliedert. Und überall kann der Besucher auf Entdeckungsreise gehen - vergleichen, erkennen, staunen. Das macht diese Ausstellung so spannend.

Cézanne, Drei Badende, 1875

Beim Thema "Gewalt" etwa steht die Tigerjagd im Zentrum. Ein monumentales Rubens-Gemälde aus dem französischen Rennes, neben dem jede Kinoleinwand verblasst, wird konfrontiert mit zwei Gemälden von Delacroix, der sich ebenfalls wiederholt mit diesem Thema auseinandergesetzt hat. Im Bereich "Mitgefühl" wird deutlich, wie sehr Rubens mit seiner berühmten Kreuzabnahme Künstlerkollegen wie Rembrandt oder auch den Engländer Thomas Gainsborough inspirierte.

Eugène Delacroix The Final Reconciliation of Marie de' Medici with her son Louis XIII, 1828

Überraschungen

Rokoko, Romantik, Orientalismus, Impressionismus: Überall, so Kurator Van Hout, hatte das flämische Allroundgenie seine Finger im Spiel. Größte Überraschung für Van Hout selbst war ein Werk von Gustav Klimt; "Der Österreicher studierte an der Wiener Akademie, dort hängt auch eine Heilige Cäcilia von Rubens. Von Klimt selbst gibt es in Wien eine Heilige Cäcilia im Belvedere. Als ich die sah, dachte ich: ,Das gibt's doch nicht, die sieht ja aus wie die Cäcilia von Rubens!' Nun hängen sie hier in Brüssel nebeneinander!"

Gustav Klimt St Cecilia 1885

Zu den Überraschungen dürfte für viele Besucher auch ein kleiner chinesischer Porzellanteller aus der Qingdynastie des 17. Jahrhunderts zählen. Er ist bemalt mit der Kreuzigung Christi mit Lanzenstich - einem Rubensgemälde, das aufgrund einer Radierung schnell in Europa und weit darüber hinaus bekannt wurde.

Rubens, St Cecilia


Man muss schon genau schauen, um zu entdecken, was an diesem Teller so befremdlich ist. Es ist nicht alleine die Tatsache, eine Kreuzigungsszene auf Porzellan zu sehen - es sind die Farben. Die beiden Schächer an den Kreuzen rechts und links von Christus sind mit zitronengelben und türkisblauen Tüchern bekleidet, Maria Magdalena trägt ein leuchtend orangefarbenes Kleid, das Gewand des römischen Soldaten ist zartlila.

So hat die Kreuzigungsgruppe noch nie ausgesehen. Ein Motiv, wie es für die europäische Kunstgeschichte nicht typischer sein könnte - aber dann in östlichem Kolorit.

Brüssel, Bozar, Rue Ravenstein; 25. 9. 14 Bis 4. 1. 15
Link
Bozar Centre For Fine Arts

Hans Makart, Ariadne und Bacchus

*) Er meint überkorrigieren. Denn anscheinend hängt im Bozar nun nicht ein Stück von Hans Makart: Der passte nicht in die Tendenz. Man kann ja sagen, die Makart'sche Auffassung von Rubens sei eine einseitige; aber ein Ansicht von Rubens ohne Makart ist noch einerseitiger. JE

Mittwoch, 24. September 2014

O mein Gott, Regietheater.

Muss das sein? Viel Fleisch um nichts: Christoph Willibald Glucks «Armida», 2009 von Calixto Bieito an der Komischen Oper Berlin inszeniert.
ausnzz.ch,                Christoph Willibald Gluck, Armida, 2009 von Calixto Bieito an der Komischen Oper Berlin inszeniert


Auswüchse des Regietheaters
Oper der Beliebigkeiten



Es ist inzwischen zur trostlosen Gewissheit geworden. Der Beginn einer jeden Opernsaison verheisst schon lange nicht mehr die Begegnung mit Werken, sondern mit «neuen Lesarten», «ungewohnten Sichtweisen» oder «radikalen Neudeutungen». Gemeint ist damit (noch) nicht der Umstand, dass der Schlussgesang der Isolde in c-Moll und nur mit Harfen erklingt oder die «Falstaff»-Fuge in einer Version für Marimbafon und Vuvuzelas. Vielmehr geht es (einstweilen) um einen Prozess der fortwährenden szenischen Destabilisierung, dessen Grenzen nach etwas mehr als einer Generation weitgehend erodiert sind.

Unter den vielen «Rheingold»-Produktionen, die sich derzeit auf den deutschsprachigen Bühnen bestaunen lassen, reicht die unerschöpfliche Vielfalt von den Ölfeldern Kaliforniens (Bayreuth) über eine Umwelt-Katastrophen-Szenerie in Müllbergen (Nürnberg) bis hin zu einem Panoptikum aus Video, Clownerie und Geisterbahn (Mannheim). In Augsburg gibt es einen «Figaro», der im Personalraum spielt, in Hannover eine «Carmen» im Zeitalter globalen Migrantentums, in Osnabrück einen «Barbiere» beim Mafia-Paten, in Graz eine «Manon» auf dem Flughafen. Die quälend groteske Reihe scheint endlos. Der Schritt zu einem vergleichbaren Umgang mit den Partituren ist daher nicht nur naheliegend, er ist längst vollzogen, allerdings noch nicht flächendeckend: In Zürich gibt es einen «Fidelio» mit vertauschter Nummernfolge, in Berlin demnächst eine «Ariadne» mit einem weiblichen Haushofmeister.

Gebrauchsanweisungen

Experimente dieser Art, deren Wurzeln in die 1970er Jahre zurückreichen, gehören zum ehernen Alltag der Bühnen, es handelt sich daher eigentlich nicht mehr um Experimente, sondern um blosse Konvention und Konfektion. Dennoch, die publizistischen Anstrengungen zu ihrer Rechtfertigung halten unbeirrt an. In ihnen werden weitgehend widerspruchslos die Bedeutungsfülle und die Notwendigkeit solchen Tuns beschworen. In Einführungen, die den Opernabenden nach wie vor vorausgehen, bemüht man sich nicht mehr um Verständnishilfen für das Stück, sondern um Gebrauchsanweisungen für dessen Inszenierung – damit man verstehen lernt, warum Junkie-Tristan sich den Liebestrank in die Vene spritzt oder Lulu in einem ausgefallenen Sexklub pornografische Filme zeigt. Und so liegt auch in der medialen Berichterstattung seit etlichen Jahren das Hauptaugenmerk auf gewichtigen Auslegeordnungen der immer wilderen szenischen Arrangements; man kann sich dann freuen, wenn über den Sänger des Otello mehr zu lesen ist als der Hinweis auf sein wohltönendes Organ.

Die Programmhefte sind bei alledem zu bunten Büchern lustvoller Selbstdarstellung geworden, in denen das Füllhorn eines nie versiegenden, auf Filme, Bilder und Texte gerichteten Assoziationsreichtums ausgeschüttet wird. Und in den Ausbildungsstätten trägt man dies mit munterer Unverdrossenheit in die nächste Generation. In der Musikhochschule Trossingen wurde jüngst, wie eine leider gar nicht ironisch gemeinte Ankündigung lehrt, Mozarts «Figaro» «in die Welt der Fashion-Shows» verlegt, mit einem Countertenor als Cherubino und unter Beiziehung einer Drehorgel.

Das alles ist einerseits beunruhigend, weil es vollständig der Beliebigkeit unterliegt: «Rigoletto» auf dem Planeten der Affen, «Rinaldo» in der Hotelhalle, die «Zauberflöte» in der Pflegestation – alles längst geschehen und austauschbar, in aller Regel an der Fallhöhe der Geschichten vorbei. Der wohlfeile Hinweis, man habe sich dazu entschlossen, das Stück in seine Entstehungszeit zu verlegen, kann dabei in seiner unendlichen Ödnis noch als die harmloseste aller denkbaren Ankündigungen verstanden werden. Denn es geht ganz anders. Spätestens seit den Projekten Calixto Bieitos gehören Nacktheit, Blutrausch und Körpersäfte aller Art zum festen Arsenal auch des Musiktheaters. 

Beunruhigend ist diese Tendenz anderseits auch, weil es kaum noch Korrektive zu geben scheint. Gegenläufige Tendenzen sind fast nicht mehr auszumachen, und wenn doch, dann ergeht es ihnen in der Berichterstattung besonders übel, eben weil das Werk nicht in Duisburg-Ruhrort, in Syrien oder auf dem Mond spielt. Wenn sich der Erfolg einer Praxis am Fehlen eines Gegenmodells bemessen lässt, dann wäre dieses Theater, um Thomas Bernhard zu bemühen, «am Ziel» oder, mit einer prosaischen Vokabel aus der Tagespolitik, «alternativlos».

In künstlerischen Dingen sollte solche «Alternativlosigkeit» allerdings aufhorchen lassen. Denn die landläufige Behauptung, dass man etwas heute «so» nicht mehr machen könne, ist nicht nur teleologischer Unfug, sie ist überdies unlauter. In den Opernhäusern regiert nämlich ein unangefochtener Kanon, der weitaus fester zementiert ist als noch vor fünfzig Jahren. So spricht gewiss nichts dagegen, den Anteil neuer Werke zu erhöhen, aber es ist mehr als fragwürdig, die alten Werke mit immer neuen Bildern vermeintlich «modern» zu machen und sich damit behaglich im Kanon einzurichten. Zudem hat der Moderne-Begriff, der hier bedient wird – das «Verstörende», «Provozierende», «Bestürzende» –, inzwischen selbst so viel Patina angesetzt, dass man ihn getrost in die Geschichte entlassen sollte.

Historische Verantwortung

Die historische Verantwortung im Umgang mit Texten der Vergangenheit ist nichts Entbehrliches, sie ist auch nicht, wie so oft behauptet, ein Relikt altmodischen Philologentums, zumal das Argument für die Musik nicht geltend gemacht wird. Was aber nützt eine kritische Ausgabe des «Don Giovanni», wenn die Szenerie kurzerhand (wie in Linz) von Sex and Crime der Pop-Stars erzählt? Texte, Partituren der Vergangenheit bedürfen vielmehr einer besonderen Sensibilität, denn erst, wenn es gelingt, im Vergangenen das Gegenwärtige aufzuspüren (statt die Gegenwart dem Historischen einfach nur überzustülpen), kann sich der Rang eines Kunstwerks, auch eines musikalischen Bühnenkunstwerks, bewähren.

Immer wieder wird gegen solche Sensibilität die Autonomie des Theaters beschworen. Doch sind ihr strikte Grenzen gesetzt. Die Geschichte des 20. Jahrhunderts ist so reich an Fällen furchtbaren Textmissbrauchs, dass es leichtfertig und überheblich wäre, die damit verbundenen Warnungen zu ignorieren. So brach man in Leningrad 1928 eine «Fidelio»-Aufführung ab, weil die Befreiung durch den Klassenfeind (also den Minister des Königs) der revolutionären Gesellschaft unangemessen sei; in Bayreuth marschierte 1943 auf der «Meistersinger»-Festwiese (in den Bildern Wieland Wagners) die SS-Standarte Wiking auf, um das Werk endgültig zum NS-Festspiel zu machen. Wohl niemand käme auf die Idee, derartige «Einfälle» als Regietheater zu bezeichnen – und doch besteht zwischen ihnen und einer «Forza del destino» in Guantánamo oder einem «Tannhäuser» in der Biogasanlage allenfalls, sieht man einmal von den damit verbundenen Instinktlosigkeiten ab, ein gradueller, jedenfalls kein grundsätzlicher Unterschied. Historische Texte sind empfindliche Gebilde, so dass es sich, gerade nach den Erfahrungen der letzten einhundert Jahre, verbietet, vermeintliche Autonomie auf ihre Kosten zu verwirklichen. Man kann ja durchaus, wenn man es denn tatsächlich will, Bühnengeschichten von kalifornischen Ölfeldern oder von Guantánamo erzählen, aber warum dann nicht mit neuen Texten und Partituren?

Hermeneutik

Ein alter hermeneutischer Grundsatz besteht in der Verallgemeinerbarkeit. Berechtigung hat eine Deutung dann, wenn sie Evidenz mithilfe der Textlektüre beanspruchen kann und sich deswegen Dritten erschliesst. Das aber ist das genaue Gegenteil von einer weit gestreuten Assoziationsfülle, die selbst unausgesetzt erklärungsbedürftig ist, um noch als «mitteilbar» zu gelten. Die inzwischen erfolgte Preisgabe dieses Grundsatzes beeinträchtigt daher nicht allein die Würde und Autonomie von Texten, sie degradiert nicht bloss die Zuschauer zur Staffage von wuchernden Bildphantasien, sie bedroht am Ende sogar den Betrieb, dem zu nützen sie vorgibt. «Verkörperten» früher Sänger ihre Rollen – bei einem Tristan, einem Scarpia oder einem Wozzeck kaum zu überschätzende Herausforderungen –, so wird die Erarbeitung einer schwierigen Partie heute von einer solchen Flut szenischer Extravaganzen überschattet, dass die Aufführung nicht selten Schaden oder sogar Schiffbruch erleidet. Die Konsequenzen zeichnen sich bereits jetzt ab, in der steigenden Zahl von konzertanten Produktionen. Sie sind dem Wesen der Oper eigentlich zuwider, befreien aber sowohl die Musiker als auch die Zuhörer von der immer schwerer erträglichen Last entgleister Bildwelten.

Mehr Respekt

Die Diskussion über diese Praktiken entsteht allenfalls noch von Zeit zu Zeit, sie verläuft in Schüben, die gerne um die Vokabeln von «Texttreue» und «Regietheater» kreisen. Hilfreich ist das deswegen nicht, weil es, gerade angesichts der Erfahrungen des 20. Jahrhunderts, nicht um «Treue» zum, sondern um Respekt vor dem Text geht. Entschiedene Einsprüche gegen ein Dogma, in dem der Interpret über dem zu Interpretierenden steht, finden sich seltener – und sie werden von den Anwälten der «Regie» gerne in ein ästhetisch, zuweilen auch ethisch zweifelhaftes Licht gerückt. Natürlich, die Oper erfüllt sich im Augenblick, das war auch schon vor der Konjunktur des seltsamen Wortes «Performanz» ein Allgemeinplatz. Doch gerade dieses Augenblickliche verpflichtet nicht auf die vermeintliche Sensation, sondern auf die Verbindung von Nähe und Ferne, von Respekt, Geschichtstiefe und Gegenwärtigkeit. Vielleicht ist die Hoffnung auf eine Gegenbewegung zum Operntheater der Beliebigkeiten noch nicht ganz illusorisch. Ein Blick auf den Saisonbeginn lehrt allerdings, dass kein Grund zum Optimismus besteht.

Laurenz Lütteken, geboren 1964 in Essen, ist seit 2011 ordentlicher Professor für Musikwissenschaft an der Universität Zürich. 2011 erschien die Studie «Musik der Renaissance. Imagination und Wirklichkeit einer kulturellen Praxis». Zuletzt veröffentlichte er eine Monografie zu Richard Strauss.

Nota.

Ironischerweise fällt dieEpoche des Regietheaters auf der Bühne zusammen mit der Blüte der "historische", inzwischen "historisch informierten Aufführungspraxis" im Orchester. Doch wer gehofft haben sollte, dass eines Tages die Götterdämmerung in den Kostümen, dem Dekor und der Inszenierung der Uraufführung geboten würde - auf Originalinstrumenten sowieso -, der sieht sich getäuscht. Eher noch wird das Regietheater die Partituren erreichen und jeder Dirigent einen jeden Komponisten "gegen den Strich bürsten". Schöner als auf der Bühne wäre es vielleicht nicht, aber ästhetisch jedenfalls interessanter, weil Dirigenten von Musik etwas verstehen.

Doch dann würde sich die Frage, ob der ästhetische Ertrag die hohen Subventionen rechtfertigt, in der Öffentlichkeit nicht mehr unterdrücken lassen. Eher wäre aber besser.
JE

Dienstag, 23. September 2014

Adolf Wölfli

aus Die Presse, Wien, 24. 9. 2014                                                                                                       Umweg

Museum Gugging: 
Das Universum des Adolf Wölfli
Vor 150 Jahren wurde der Künstler geboren – eine Schau mit 50 Werken erinnert an den ersten und wohl berühmtesten Vertreter der Art brut.



Nicht weniger als eine neue Schöpfungsgeschichte schrieb er, benannte sich zuletzt sogar in Skt. Adolf II. um. Insgesamt 25.000 Seiten umfasst das Gesamtwerk, in dem Adolf Wölfli seine eigene Geschichte neu erfindet, einmal um die Erde reist, von fremden Ländern erzählt und ein kommendes Universum entwirft. 1600 Zeichnungen und ebenso viele Collagen gehören dazu, in denen der Schweizer Künstler Schrift, Bild und Musik in einzigartiger Weise verbindet. Mit diesem Werk wurde Wölfli zum ersten und berühmtesten Vertreter der Art brut: ein Begriff, den Mitte der 1940er-Jahre der französische Künstler Jean Dubuffet erfand. Es bezeichnet Kunst von Menschen, die keine künstlerische Ausbildung besitzen und deren Werk spontan und unreflektiert entsteht, sinngemäß „rohe, unverbildete Kunst“. Wölflis gesamtes Werk entstand während seiner Jahre in der psychiatrischen Heilanstalt Waldau bei Bern. 150 Jahre nach seinem Geburtstag hat jetzt Daniel Baumann eine Ausstellung von 50 Werken für das Museum Gugging in Klosterneuburg zusammengestellt.

Die höchste Zahl nannte er „Zorn“

Ausgangspunkt von Wölflis Kunst sind seine Erfahrungen: 1864 wurde er als jüngstes von sieben Kindern geboren, seine Familie verarmte, und er musste schon als Kind unter entwürdigenden Bedingungen bei Bauern als Knecht arbeiten. Als knapp 30-Jähriger wird er 1895 in der Waldau interniert und bleibt dort bis zu seinem Tod 1930. Hier entstehen die fünf Hefte und die auf dem Kunstmarkt begehrten Einzelblätter. Die ältesten erhaltenen Zeichnungen sind von 1904 – damit setzt auch die Ausstellung im Museum Gugging ein. Schon hier ist die ganz eigenwillige, künstlerische Sprache des Außenseiters erkennbar: In einer symmetrisch-ornamentalen Grundstruktur sind Mengen von Details wie Erzählungen eingefügt.

Laura Knoops

Dieser Aufbau eines klaren Gerüsts mit vielen, bisweilen kryptischen Szenen ist bis zuletzt typisch für sein Werk, in dem immer wieder Vögel und die von ihm als „Schnecken“ bezeichneten Formen vorkommen. 1907 folgen erste Farbzeichnungen: Sein Psychiater hatte das Talent erkannt und ihm die damals sündteuren Farbstifte geschenkt. „Sommer-Wirtschaft. Zehnder-Mätteli“ ist eines der ersten und ganz seltenen dieser Blätter, bis vor Kurzem noch unbekannt und jetzt in Gugging erstmals ausgestellt. Rückkehr aus Sibirien, 1905

In „Geographischen und Allgebräischen Heften“ (1912–16) beschreibt er dann die Gründungsgeschichte seiner fiktiven „Skt. Adolf-Riesen-Schöpfung“ und entwickelt hier auch seine Zahlenbilder. Sein Faible für Zahlen ließ ihn neue Begriffe erfinden, Milliarden und Trilliarden waren ihm nicht genug. Die allerhöchste Zahl heißt „Zorn“. Ab 1916 signierte er mit Skt. Adolf II. und begann mit den Einblattzeichungen, die Ärzte, Pfleger und Besucher kauften und die heute auf Auktionen um die 20.000 Euro kosten. Kurz vor seinem Tod entwarf Wölfli den „Trauer March“ (1928–30), die rund 8000 Seiten enden mitten auf einer Seite – bis zu seinem Tod durch Magenkrebs arbeitete er daran.



Skt. Adolf mit Brille
 

Danach wurde sein Werk nahezu vergessen, bis Jean Dubuffet es auf einer Reise durch die Schweiz entdeckte. Erste Ausstellungen folgten, der Durchbruch kam in den 1970er-Jahren, als der Schweizer Documenta-Leiter Harald Szeemann Wölfli entdeckte. Vier Jahre tourte eine große Wanderausstellung durch Europa, später unter dem Titel „The Other Side of the Moon“ durch die USA. Es seien immer wieder „Wellen“, in denen das Interesse an Wölfli aufflackert, erzählt Gastkurator Baumann. Er ist seit 1996 Konservator der Adolf-Wölfli-Stiftung im Kunstmuseum Bern und jüngst zum neuen Leiter der Kunsthalle Zürich berufen worden. Seine Beschäftigung mit Wölfli habe ihn geprägt, bekennt Baumann, häufig messe er die Qualität eines zeitgenössischen Künstlers an dem außergewöhnlichen Werk dieses „Pioniers einer Kunst jenseits von Kunst“.

Adolf Wölfli: „Universum.!“, Museum Gugging, bis 1. März 2015


aus Der Standard, Wien,

Megalomanie in den Gehirnwindungen
Das Museum Gugging gibt in "Adolf Wölfli. Universum.!" mit gut 50 Werken einen umfassenden Einblick in den Kosmos des faszinierenden Schweizer Künstlers, der vor 150 Jahren geboren wurde



Maria Gugging - Seinem Gegenüber in die Gehirnwindungen schauen können, das wollten die Menschen wohl schon immer. Gedankenlesen: in etwa so wünschenswert wie Fliegenkönnen.


Die Zeichnungen des Schweizers Adolf Wölfli (1864-1930), die in "Adolf Wölfli. Universum.!" im Museum Gugging zu sehen sind, wirken tatsächlich, als würde man in ein fremdes Gehirn schauen. Hier, wo sich bis 2007 eine Nervenklinik (mit unrühmlicher NS-Geschichte) befand, erzählt nun einer seinen Lebensweg - der in ähnlicher Weise von unrühmlichen Taten zur Kunst führt.

Die Skt-Wandanna-Kathedrale in Band-Wand, 1910

Ein imaginäres Leben

Wölfli wuchs unter schlimmsten Bedingungen auf, führte früh ein entwürdigendes Dasein als "Verdingbub". Wegen "versuchter Notzucht" an zwei Kindern landete er im Zuchthaus, nach erneuten Versuchen in der Irrenanstalt Waldau bei Bern. Hier begann sein zweites, imaginäres Leben, das in rund 50 Arbeiten in Gugging zu besichtigen ist.

Campbell's Tomato Soup

Die Arbeiten teilen sich in fünf Gruppen: In "Von der Wiege bis zum Graab" erzählt Wölfli seine imaginierte Lebensgeschichte, in der sein Alter Ego, das Kind "Doufi", durch die Welt reist. "Geographische und Allgebräische Hefte" beschreibt die Gründung seines Weltreiches "Skt.Adolf-Riesen-Schöpfung". Es folgen die "Hefte mit Liedern und Tänzen", "Allbumm-Hefte mit Tänzen und Märschen" und schließlich der "Trauer-Marsch". Aus allen diesen Werkgruppen sind, ergänzt durch Blätter aus dem Frühwerk und solche der "Brotkunst", die er gegen Zeichenmaterial oder Zigaretten eintauschte, Arbeiten zu sehen. Was sie verbindet, ist die Formensprache Wölflis, die sich über die Jahre nur wenig veränderte. Es ist diese ornamentale Ordnung, die an Gehirnwindungen erinnert, in deren Zwischenräumen sich die Geschichten seines imaginären Lebens abspielen.

Schähren=Hall und Schährer=Skt. Adolf=Ring, 1926

Immer wieder kehren Formen wie jene des "Vögelis" wieder: ein stilisierter Vogel, der auf das "Vögeln" verweist - ein immer präsentes Begehren. Was der Künstler begehrt, ist all das, was ihm in der Anstalt verwehrt bleibt: Anerkennung, Normalität, Liebe, Sex, Erfolg. In seiner "Skt.Adolf-Riesen-Schöpfung" ist darum naturgemäß alles megaloman. Die Figuren haben Kreuze auf den Köpfen, scheint doch das Heilige für Wölfli mit das Höchste. Daneben will er die ganze Welt in seiner Schöpfung modernisieren, urbanisieren, berechnen, besitzen und am Ende: unterwerfen. Er will in seinen Zeichnungen die Welt in Ordnung und unter Kontrolle bringen - und das auf jede Art und Weise.

 

Die Werbung als Leben

Was wir durch Wölflis Augen sehen, ist ein völlig ungeschöntes, nahezu unvermitteltes Bild der menschlichen Weltbeherrschungsträume, wie sie wohl Anfang des 20. Jahrhunderts noch existierten. Ein durch nichts erschütterter Fortschrittsglaube.

Irren-Anstalt Band-Hain, 1910

In den letzten Werkgruppen werden die gezeichneten Illustrationen weniger, Wölfli arbeitet nun mehr mit Collagen und Ausschnitten aus Illustrierten. Sie sind sein Tor zur Welt; und wie ein Kind, das nur zusehen darf, scheint er sich zu erträumen, Teil dieser "Erwachsenenwelt" zu sein. Hier zeigt sich auch das damalige Geschlechterverhältnis in seiner vollen Härte: die Männer als Macker und Brötchenverdiener, die Frauen als hübsch ondulierte Schokoladen-Konsumentinnen. Was die Werbung behauptet, nimmt Wölfli als bares Leben - und sehnt sich danach.

Die Ausstellung bietet, ergänzt durch den Film Der Künstler Adolf Wölfli (1976), auch für Besucher, denen Wölflis Werk neu ist, einen umfassenden Einblick - ohne dabei überfrachtet zu sein. Die Werke wirken für sich selbst, erschlagen einander nicht. Am Ende spricht Wölfli ohnehin für sich allein. Und so fremd, so kryptisch sein Denken und Arbeiten in vielerlei Hinsicht sein mag, so meint man doch, ihn zu verstehen. Ein Beweis für das Allgemeinmenschliche vielleicht, das irgendwo in unseren Gehirnwindungen steckt.

Bis 1. März

Nota.
 
Bei ihm springt es in die Augen, wie wenig das Ergründen dessen, 'was der Künstler gemeint hat', zu einer ästhetischen Würdigung beiträgt. Dass Wölfli sich bei jedem einzelnen Werk sehr viel gedacht hat, kann man ja sehen. Es ist aber ganz unfruchtbar, herausfinden zu wollen, was. Verständlich war es nur ihm. Das ist der extreme Fall von einem Künstler. Aber die andern kommen ihm alle mehr oder weniger nahe. Die ästhetische Qualität - qualitas - ist davon unberührt. Ich muss Wölfli nicht besser "verstehen" als etwa Paul Klee.
JE

Sonntag, 21. September 2014

Au, tut das weh.


  rat mal                                                                                               

... Mit Schmerzempfindungen beschäftigte sich Marina de Tommaso von der italienischen Aldo-Mori-Universität Bari. Die Neurologin beschoss die Hände ihrer Probanden mit einem Laserstrahl, als diese entweder ein schönes oder ein hässliches Gemälde betrachteten. Ergebnis: Die als ästhetisch empfundenen Werke milderten den Schmerz des Laserstrahls deutlich, schlechte Kunst ließ die Versuchspersonen dagegen besonders leiden - klarer Sieger in der Kategorie Kunst. ...




Samstag, 20. September 2014

Das Ästhetische ist keine "Kompensation".

N. N.

...Bemerkenswert an diesem Beitrag ist etwas, das gar nicht darinsteht. Dass nämlich das furiose Raumgreifen des Ästhetischen in der Neuzeit eine Kompensation sei für den verlorenen Zauber der Mythen und frommen Mären, verliert hier an Plausibilität. Es unterstellt, dass die metaphysischen Verkleidungen, in die die Welt vor der epochalen Säkularisierung gewandet war, deren Rätsel für die große Masse der Menschen gelöst hätten, und dass nach deren Fortfall ein Fehlbedarf entstanden sei, der mit schönem Schein ausgeglichen werden musste. 

Für die große Masse der Menschen hatten die metaphysischen Bauwerke nie eine Bedeutung gehabt, und dass sie die Rätsel der Welt gelöst hätten, haben die Gelehrten, denen sie bekannt waren, selber nicht geglaubt. Für die große Masse der Menschen sind die Rätsel des Daseins bis heute so ungelöst wie je, und sie haben sich darin eingerichtet wie je. Und auch für die Wenigen, die daraus ein Problem machen, blieb alles beim Alten.

Bleibt als Ergebnis nur dies: Das Vordringen des Ästhetischen in die alltägliche Lebenswelt der großen Masse muss seinen eigenen Grund gehabt haben.

*


Und zwar diesen.

Sein ästhetisches Vermögen ist nichts, was der Mensch erst in der Geschichte erwerben musste. Es ist eine Seite - eine Saite - des poietischen, wertsetzenden, produktiven Vermögens der Einbildungskraft, die allein erst das Aufrichten der Menschheit ermöglicht hat. Doch war es in der rund zwölftausend Jahre lang andauernden Arbeitsgesellschaft so reichlich mit Ackern und Schachern beschäftigt, dass für mehr als den reinen Brotwerwerb keine Muße blieb. Die spezisch ästhetische Dimension der Einbildungskraft war in weitesten Teilen der Menschheit brachgelegt.

Es musste erst ein hinreichend großer Überfluss entstehen, der einer hinreichenden Anzahl Individuen nach getaner Arbeit genügend Energien übrig ließ, die sie an Dinge verwenden mochten, deren Nutzen nicht flach auf der Hand liegt; erst dann konnte das Ästhetische auf breiter Front Eingang ins tägliche Leben finden und selber Teil der materiellen Reproduktion werden.

Das Ästhetische ist keine Kompensation eines erfahrenen Verlustes, sondern ein Gewinn, eine Freisetzung, eine Entbindung. Es ist der Beginn von etwas Neuem.


  

Freitag, 19. September 2014

Fotokunst im Frankfurter Städel.

aus nzz.ch, 19.9.2014, 11:30 Uhr                                                                      Werner Mantz  Köln: Brücke, ca. 1927

Museumsbilder 
In einer konzentrierten Sonderausstellung präsentiert das Frankfurter Städel-Museum eine Auswahl seiner Bestände und Neuerwerbungen aus den letzten Jahren. In Verbindung mit der historisch gewachsenen Sammlung entsteht so eine subjektive und qualitätvolle «Kleine Geschichte der Fotografie».

von Kerstin Stremmel

Bereits seit einigen Jahren werden die Fotografien des Städels in den Sammlungsräumen mit Werken der Malerei kombiniert, Giorgio Sommers «Blick auf Sorrent» etwa kann gut neben Camille Corots «Bildnis eines italienischen Mädchens» als Ausdruck einer gefühlvollen Italiensehnsucht bestehen. Diese Präsentationsweise erteilt der Frage nach einem Museum der Fotografie eine Absage, ist die bestechende Qualität der Aufnahmen doch Grund genug, sie in unmittelbarer Nähe zu anderen Meisterwerken der Moderne zu zeigen.

Giorgio Sommer - Sorrento - Marina coll'Albergo Tramontano

Nun allerdings, im Jahr des 175. Geburtstags der Fotografie und nachdem das Museum jüngst umfangreiche Konvolute erworben hat, war es Zeit für eine Sonderausstellung. Dabei wurde eine hübsche Entdeckung gemacht, denn fünf Jahre nachdem das Daguerreotypie-Verfahren in Paris der Öffentlichkeit vorgestellt worden war, gab es im Städel bereits 1845 eine Fotoausstellung mit Porträts des Frankfurter Fotografen Sigismund Gerothwohl. Der Künstler bewarb die Vorzüge der neuen Lichtbilder im Frankfurter Intelligenz-Blatt mit folgenden Worten: «Sie vereinigen neben dem von allen Künstlern anerkannten Vorzug des allgemeinen Effektes den eines wahren Aquarellbildes, durch Farbung (sic).» Damit werden Kunstanspruch und Selbstverständnis des Mediums bereits angedeutet.

Sigismund Gerothwohl, Herrenbildnis (1845)

Selbstbewusste Rückbesinnung

Ein «Herrenbildnis» von Gerothwohl gelangte in diesem Jahr als Schenkung in die Sammlung, auf dem Salzpapierabzug ist ein gefasst wirkender Mann zu sehen, dem die lange Belichtungszeit nur wenig zu schaffen macht, weil er sich mit seinem Ellbogen auf einem Polster abstützen kann. Zusammen mit einer vollständigen und angenehm unprätentiösen Präsentation von anonymen Fotografien nach Kartons von Raffael, die der damalige Direktor des Städelschen Kunstinstituts Johann David Passavent für eine umfangreiche Lehrsammlung erwarb und im Jahr 1859 erstmals ausstellte, sind hier zwei Motive für die selbstbewusste Rückbesinnung auf historische Konstanten erkennbar: Fotografie war im Haus traditionell ein wichtiges Medium der Vermittlung von Kunst, und zugleich kann das Städel wohl die früheste Erwähnung einer Fotoausstellung in einem Kunstmuseum für sich reklamieren.

Albert Renger-Patzsch, Herbst-Buchenwald, ca. 1954
 
Experimente und reine Schönheit

So ist der Titel der Ausstellung, «Lichtbilder», monumental und schlicht, die Zusammenstellung allerdings facettenreich. Neben Pionieren wie David Octavius Hill, Roger Fenton oder Nadar werden ins Malerische vordringende Piktorialisten wie Heinrich Kühn oder Gertrude Käsebier gezeigt, in der Abteilung «Experimente» sind neben Bewegungsdarstellungen von Eadweard Muybridge auch frühe Versuche mit farbigen Eindrücken zu sehen; so simulierte Carlo Naya um 1870 venezianische Nachtveduten mit Mondscheineffekt, indem er unterbelichtete Negative zusammenfügte und mit einem bläulichen Ton überzog. Bereits Gerothwohl deutete die Farben im vermeintlichen Schwarz-Weiss an, der Reichtum der rötlichen, bräunlichen oder gelblichen Töne, den der Autor und Sammler Wilfried Wiegand in seinem Textbeitrag beschreibt, lässt sich in der Ausstellung immer wieder studieren.
 
Carlo Naya, Blick auf Markusbibliothek, Campanile und Dogenpalast, ca. 1875

Exponate aus der ehemaligen Sammlung Wiegand, die das Städel vor vier Jahren erwarb, sind neben ihrer ans Klassische gemahnenden Schönheit auch an den geschmackvollen Bilderrahmen zu erkennen. Mit ihnen liesse sich dereinst auch eine schöne Hommage an den grossen Wolfgang Hildesheimer machen, der in einer seiner «Lieblosen Legenden» eine Ausstellung von Bilderrahmen geschildert hat, die laut Katalogtext deswegen keine Bilder enthielten, weil sie als Objekte in sich so meisterhaft waren,dass dadurch nur von ihrer sublimen Vollkommenheit abgelenkt würde.

Gustave Le Gray, Salut der französischen Flotte vor Cherbourg, 1858

In der Frankfurter Ausstellung lassen sich einige der schön gerahmten Preziosen betrachten, darunter Gustave Le Grays meisterhaft komponiertes «Salut der französischen Flotte vor Cherbourg» aus dem Jahr 1858, Eugène Atgets «Sonnenfinsternis» von 1912, das skurrile Bild einer Gruppe von Menschen, die etwas beobachten, was ausserhalb des Bildfeldes liegt, und das dadurch berühmt wurde, dass es 1926 als Umschlagbild von André Bretons Zeitschrift «La Révolution Surréaliste» diente. Bezwingend ist auch «Ei auf Block» von Paul Outerbridge, ein nur 11 mal 9 Zentimeter kleiner Platinprint, der motivisch an ein frühes nichtfigürliches Denkmal erinnert, die auf einem Kubus ruhende Kugel, von Goethe unter dem Namen «Stein des guten Glücks» in Auftrag gegeben. Outerbridge fügt der Spannung zwischen Beständigkeit des Fundaments und dem schwankenden Exponat noch das Zerbrechliche des Eies hinzu. Aus der Sammlung des Galeristen Rudolf Kicken stammen umfangreiche Konvolute von Alfred Renger-Patzsch, strenge Maschinendetails, aber auch die nahansichtige Aufnahme eines Reissverschlusses, die statt an neue Sachlichkeit an surrealistische Suggestivität denken lässt. Überraschungen bietet auch die Zusammenstellung der Werke tschechischer Fotografen. So gibt es etwa von Sudek eine berühmte Aufnahme seines lichterfüllten Atelierfensters bei Nacht, aber auch drei Stoffstudien aus den dreissiger Jahren, deren grafische Qualität und Sinnlichkeit überwältigen.
 
Albert Renger-Patzsch, Ohne Titel (1928–1933)

Ikonen und Humor

Humor beweisen die Kuratoren Felicity Grobien und Felix Kraemer beim Finale der Ausstellung. Im letzten Kapitel wird der «subjektive Blick» mit ikonischen Fotografien des einflussreichen Künstlers und Theoretikers Otto Steinert gefeiert, etwa mit dem «Ein-Fuss-Gänger» von 1950, von dem nur ein Hosenbein und der polierte Schuh auf dem Pariser Pflaster deutlich sichtbar sind, der Körper des Passanten löst sich in einen verwischten Schatten auf, eine Emanation, die an frühe Geisterfotografie erinnert. Steinert hatte ein Jahr zuvor unter anderen mit Ludwig Windstosser die avantgardistische Arbeitsgruppe Fotoform gegründet. Windstosser verdanken wir zwei Becher-Schüler-Bilder avant la lettre: Wir glauben, ein Wimmelbild von Andreas Gursky zu sehen und eins der Museumsbilder von Thomas Struth. Doch sowohl die Aufnahme aus dem Berliner Olympiastadion als auch das anekdotische Bild mit Nonne und Botticellis Eva in der Gemäldegalerie Dahlem hat Windstosser in den frühen siebziger Jahren fotografiert und damit die Motivwelt, die in den Bildern der Düsseldorfer Fotografen dann monumentalisiert wurde, auf präzise Weise vorweggenommen. Diese beiden Farbabzüge, die einzigen nach 1960 entstandenen Aufnahmen der Ausstellung, bilden ein Scharnier zur gegenwärtigen Fotokunstproduktion.

Otto Steinert, Ein-Fuß-Gänger, 1950

Mit den Tendenzen der zwanziger und dreissiger Jahre, der tschechischen Avantgardefotografie und den Fotoformvertretern ist es dem Städel gelungen, die Lücken zwischen der historisch gewachsenen Sammlung, den Kostbarkeiten Wiegands und der zeitgenössischen Fotografie zu schliessen. Damit ist die Ausstellung auch zu einer Hommage an den Fotogaleristen Rudolf Kicken geworden, der kurz vor der Eröffnung der Ausstellung, im Juni dieses Jahres, gestorben ist und der viel für die Etablierung fotografischer Sammlungen in Museen und die Gleichberechtigung der Medien, die er in den USA schätzen lernte, getan hat.

Lichtbilder. Fotografie im Städel-Museum von den Anfängen bis 1960. Bis 5. Oktober 2014. Katalog € 24.90.


Otto Steinert, Luminogramm, 1952