Das Schöne muss selbstverständlich scheinen.
Und darf nicht gewollt oder gemacht aussehen. Von Natur aus da oder Aus eigenem Recht da - jedenfalls nicht als Strohmann von etwas Anderem.
aus e. Notizbuch, 2. 7. 08
Selbstverständlich heißt unbegründet.
Aufstieg und Niedergang des Schönen in der Kunst.
Anatolien, 3000-2500 v. Chr.In der vor- und frühgeschichtlichen 'Kunst' scheint eben die Darstellung des Rätselhaften im Vordergrund zu stehen; wie in aller animistischen und noch der magischen Kultur. Die spezifisch religiöse Kunst stellt dagegen das Rätselhafte (das Numinose) so dar, als ob es gelöst und in die eindeutig bestimmte Welt integriert, entschärft und befriedet wäre: Schönheit ist die Anverwandlung des Befremdlichen an das Vertraute – 'gefaßt', gebannt in Harmonie, Güte, Vorhersehbarkeit. Durch Schönheit wird das Fremde unanstößig und positiv. Sie ist Ausweis universeller Gültigkeit; einer höheren Gültigkeit gar als das Vertraute (=Gewöhnliche) selbst! Das Schöne symbolisiert die immanente Sinnhaftigkeit der Welt. (Solange das Schöne Paradigma der Kunst bleibt, weichen ‚die Geschmäcker’ im Detail von einander ab, insgesamt sind sie kulturell gebunden: Herrschaft des 'Stils'.)
Mit der Renaissance emanzipiert sich das Schöne von seiner religiösen Prämisse und wird selber "bedeutend": als Maßstab der Welt! Kunst in einer distinkten Bedeutung, als eine autonome Praxis des Schönenes selbst. Mit der Romantik wird das Bemühen aufgegeben, die Rätselhaftigkeit der Welt in einem immanenten Sinn 'aufzulösen'. [Sic! Denn gerade je gewaltsamer, künstlicher dieser Versuch öffentlich vorgetragen wird, z. B. C. D. Friedrich, umso polemischer richtet er sich gegen das Wirkliche.] In der bürgerlichen Gesellschaft wird der Zwiespalt der Welt (die Sinn-Losigkeit des Gegebenen) selber zum vertraut-Selbstverständlichen und verzichtet auf jede gefällige Entschärfung. Die Voraussetzung: Bildung!
Géricault, Anatomische Fragmente, 1818
aus Über Ästhetik, Rohentwurf, 19.
Schönheit ist die Teilhabe der Dinge am Ganzen.
griechisch, geometrische Periode
Schönheit wäre, nach Plotin-Platon, die Teilhabe der Dinge am All-Einen, méthexis; Grade der Schönheit = Grade der Teilhabe. Renaissance (Marsilio Ficino; Leone Ebreo); Klassik!
Ein Ding ästhetisch betrachten: es so betrachten, daß hinter seiner so-und-so-Bestimmtheit sein 'Anteil' an der unendlich-zu-bestimmenden-Unbestimmtheit ersichtlich wird; immerhin für die, die sehen können. Daher der Appell-Charakter des Schönen (vgl. Ficino: kálos von káleo, ich rufe an): es fordert zu (weiterem, aber endlosen) Bestimmen heraus. - Und das nennt man poetisch.
Moderne, Romantik: Eine Zeit, die sich das All-Eine nicht länger als heil (=harmonisch) vorstellen kann, sondern nur noch zerrissen, als sinnloses, disparates Chaos, wird die 'Teilhabe' der Dinge daran nicht länger schön nennen wollen! Und eben diese Sicht der Dinge und der Welt wird von nun an „die ästhetische“ (die poetische) sein.
Nota. - Für Odo Marquard - im Gefolge von Joachim Ritter - stellt das machtvolle Aufkommen des Ästhetischen in der Neu- zeit eine Kompensation dar für die verlorene Teilhabe am Ganzen, den die Säkularisierung mit sich gebracht habe. Das hätte Sinn, wenn das Ästhetische positiv als eine Füllung und Erfüllung aufgefasst werden könnte: Teilhabe am kosmischen Ein- klang. Das Schöne trägt aber seit seinem Neuauftritt in der Renaissance zunehmend das Signet des ewig Unerfüllten, desMangels an sich: Eros strebt nach dem Schönen, weil er es nicht hat. Teilhabe an universeller Disharmonie: Es wird immer mehr zu einem Lösungsmittel, das den Verlust des Ganzen reizvoll scheinen lässt. - Kunst entzweit den Menschen, sagtSchiller.
25. 2. 15
Schönheit ist ein terminus technicus.
aus Über Ästhetik, Rohentwurf, 19....Schönheit ist ein terminus technicus für das ästhetisch-Erhebliche. Ästhetisch-erheblich ist dasjenige, das am Er- lebten übrig bleibt, übersteht, nachdem die Reflexion die Wahrnehmung aus dem Erlebensstrom herausgesondert hat; und in ihr nicht aufgeht. Also sich nicht identifizieren, (von anderen) isolieren, fixieren, bezeichnen (!) und mes- sen, will sagen: bestimmen läßt. 'Das Ästhetisch-Erhebliche' ist eo ipso als das Nicht-Bestimmbare bestimmt: Es be- deutet (schlechthin) mehr, als es 'zeigt'. [gg. Quassologe Wolfgang Welsch: das Ästhetische ist gerade das, was nicht"wahrgenommen" wird!]
- Sobald aber die Reflexion ("Bewusstsein") im täglichen Leben habituell geworden ist - nämlich in der Arbeitsgesellschaft: die Reflexion auf die Zweckmäßigkeit des im Erleben Gegebenen (das selber ein Reflexionsdatum ist) -, wird immer Mehr als überständig auffallen. "Zweckmäßig ohne Zweck", wie Kants geniale Definition heißt, ergibt erst dann einen Sinn, wenn die Zweckmäßigkeit der Welt zu einer Art transzendentaler Prämisse der Erkenntnis geworden ist (das auch bei Kant!). Wenn Zweckmäßigkeit selbst zur auszeichnenden Qualität des Wirklichen geworden ist.
...also kommts drauf an, was jeweils als ästhetisch-erheblich wahrgenommen wird. Wo Chaos, Zwecklosigkeit und gar Gefährdung des Lebens als die (gewöhnliche) Norm des Daseienden ("Werden", von Elea bis Plato) gelten, erschei- nen Regel, Ordnung und Gerichtetheit als ausgezeichnete Seinsweisen; als das insbesonders-gelten-Sollende vor dem faktisch-Selbstverständlichen. Darum das in der Renaissance wieder aufgegriffene Schöne (vorher bestand dar- an, cf. Vasari, kein Interesse mehr!) als Harmonie aufgefaßt wird. Nämlich wenn der Künstler als Repräsentant und Vorkämpfer seiner Zeit spricht. Wird, umgekehrt, Ordnung und Zweckmäßigkeit zum selbstverständlichen Charakter des Seienden ad nauseam, dann kehrt sich (in der Romantik) das Verhältnis um. Ästhetisch-ausgezeichnet ist dann das Absurde, Komische, Bizarre: Baudelaire zitiert ausdrücklich E.T.A. Hoffmann und Poe. [Umkehrung: Hier erscheint die bürgerliche Ordnung als ein falscher Schein; wahr(er) wäre die Unordnung - gedacht als ästhetisch freier Wille.]
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aus Über Ästhetik, Rohentwurf, 19.
Die Hinfälligkeit des Schönen.
Carl Rottmann, Sikyon mit Parnass 1838
Das Schöne hört auf, Inbegriff des Ästhetischen zu sein in dem Maß, wie die Lebenswelt der Menschen immer mehr selbst nach ästhetischen Gesichtspunkten modelliert, entworfen, designed ist: Städte, Industrie... Denn nun wird immer mehr das nicht 'zweckmäßig'-Gestaltete zum ästhetisch Auffälligen. - Das Schöne ist zunächst der konventionelle Name für das ästhetisch-Ausgezeichnete ('Erhebliche'). In einer wilden, gegen menschliche Zwecke und die ihnen gemäße Form gleich- gültigen Umwelt – "Werden", später 'Natur' genannt - ist das nach den Gesetzen der Harmonie (als einem 'höheren', kosmischen Zweck!) Gestaltete dasjenige, das sich in ästhetischer Hinsicht auszeichnet vor gestaltlosem Rest. (Antike, orientalische, mittel- alterliche Gärten: geometrisch.)
- Das Verhältnis des Schönen zum Nicht-Schönen ist nicht ein Gegensatz (etwa "das Hässliche"), sondern ist der Unterschied von Figur und Grund (andernfalls könnte der Unterschied nicht graduell und relativ ausfallen). Das Nicht-Schöne ist das in ästhetischer Hinsicht Unausgezeichnete, Unerhebliche, das den Sinnen allzu Vertraute, das Gewöhnliche, Unbedeutende, Langweilige (das man jetzt auch das "Flache" nennt! Ob wohl vor Mitte des 18. Jahrhunderts das Wort seicht je in ästhetischer Bedeutung gebraucht wurde?). Das Wohlgeformte (=zweckmäßig mit oder ohne Zweck) - als der lebensweltliche Regelfall - wirkt mit dem Siegeszug der bürgerlichen ... buchstäblich an-ästhetisch! (cf. Allgegenwart von Design!) Wenn nun die (bürger- liche) Normalwelt (=die Stadt!) erwartungsgemäß hie nach praktischen Zwecken, da nach zwecklos-zweckmäßigen Regeln der Harmonie (französicher Garten) eingerichtet ist, dann wird das Bizarre, Schaurige, Zweckfremde, Wilde, Disproportionierte eben zum ästhetisch Ausgezeichneten: das Nicht-Gewöhnliche. "Können wir nicht wagen zu behaupten, daß sie einen guten Teil ihrer Schönheit gerade einem Mangel an Proportion verdanke?" sagt Edmund Burke über die Rose...
Zuerst Ablösung des französischen Gartens durch den englischen Claude-Lorrain-Garten; Wörlitz! Romantik; und schließlich wird auch das Häßliche "ästhetisch angesehen" (Rosenkranz).
aus Über Ästhetik, Rohentwurf, 19.
'Form ist geronnene Tätigkeit.'
Recte: Absichtsvolle Tätigkeit, die ihren Zweck erreicht, zeitigt jedesmal bestimmte Form. Je mehr aber die (bürgerliche) Lebenswelt (die Stadt) mit Dingen angefüllt ist, die aus absichtsvoller Tätigkeit stammen (Arbeitsprodukte=Waren), kann es nicht ausbleiben, daß auch die anderen Dinge, die nicht aus Arbeit stammen, sondern von Natur aus ('in der Natur') da sind, so angeschaut werden, als ob sie aus absichtsvoller Tätigkeit stammten; also als ob ihre Form nicht eine zufällige, sondern eine beabsichtigte sei; als ob 'die Natur' ein Arbeiter sei! Das nennt Kant dann "zweckmäßig ohne Zweck".
(Im Mittelalter galt 'Natur' noch als das schlechthin Formlose, Ungestalte - Wilde (nicht den Theologen vielleicht, aber den Lebenden; dagegen die Stadt Abbild des 'himmlischen Jerusalem'; vid. romanische Kathedrale, Stadtgründungen im 12. Jahrhundert; Kloster-Gärten). - In der Renaissance erscheint sie als das zu-Gestaltende; Stadtplanung! Schloß-Parks (Villa D'Este/Tivoli, 1549)! - Rationalismus: 'französischer Garten' gegen die rohe Natur. - Mit der Aufklärung werden dann Kant& Co. nicht müde, sich immer wieder an der "wunderbaren Zweckmäßigkeit" zu ergötzen, nach der die Natur angeblich sich selbst eingerichtet hätte (englischer Garten als die Natur, wie sie sein sollte; Kants "Zweckmäßigkeit ohne Zweck" par excellence. - Was nach anderthalb Jahrhunderten Darwinismus, da die Evolutionslehre in den Bestand des Volksvorurteils eingegangen ist, keiner mehr recht "nachvollziehen" kann...) Wenn aber in einer Naturform eine Absicht prima facie nicht zu erkennen war, dann machte das ihren Rätselcharakter aus - ihren ästhetischen Reiz!
Den Anblick des aufgepeitschten Meeres findet Kant bezeichnenderweise weder "schön" (verborgen zweckmäßig) noch "erhaben" (jenseits allen Maßes), sondern bloß... "grässlich"! [KU/WW X, S. 166; man müsse sein "Gemüt schon mit mancherlei Ideen angefüllt haben", um dem Anblick was abzugewinnen.] Aber schon ein paar Jahre später - mit der Romantik, Anbruch der Moderne - hat man (=die Avantgarde, nicht der Vulgus) es dann satt, allenthalben von Zweckmäßig- keit (als dem Philistrium par excellence) umgeben zu sein, und ergötzt sich gerade an den Dingen, die nicht aus absichtsvoller Tätigkeit hervorgegangen sind - und nennt sie Natur, mit einer Emphase, die der Vokabel nie zuvor beigelegt worden ist.
[vgl. 22]
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aus Über Ästhetik, Rohentwurf, 19
Die Wandlungen des Schönen.
Tizian/Giorgione, Ländliches Konzert
Mit der Renaissance wurde das Schöne zum Prinzip der - ipso facto verselbständigten - Kunst; womit das Ästhetische in einem spezifischen Sinn allererst konstituiert wird; während in der Antike das Schöne nicht vor allem der Kunst (bloß "Nachahmung", bei Plato), sondern dem Kosmos (nicht Werden, sondern Sein=Bild) selbst zugesprochen wird. Aber wie in der Antike wird das Quale des Schönen in der kosmischen Harmonie gesehen. In der Antike leuchtete in den schönen Gegenständen (den höchsten: den Knabenkörpern) die Wahrheit der Ideen in die (wilde) Welt der Erscheinungen (des Werdens) hinab.
Die Errungenschaft der Renaissance ist die Erwartung, die Gesetze der kosmischen Harmonie in die Welt des Werdens durch Kunst hineinarbeiten zu können - überall dort, wo sie noch wild und roh ist. Wild und roh wie die Menschen selbst: Das Mittelalter waren die "Flegeljahre" des Abendlands, nach Egon Friedell. Bestimmung der Kunst - und der humanistischen Bildung überhaupt - ist darum unter anderm, wenn nicht vor allem, die Milderung, Verfeinerung der Sitten. Der Renaissance- mensch selbst ist ein Wüstling, aber die Giangaleazzos betrachten sich auch nicht als ihr eigenes Ideal! Der Fürst sucht seine Rechfertigung als Förderer der Künste: Medici/Florenz, D'Este/Ferrara; es folgt der Aufstieg des Phänotyps des cortigiano:Tasso! (nördlich der Alpen zum Geheimen Hofrat und seinen Kanzlisten aufgeklärt).
Seit Rousseau gelten dann die "milden" Sitten wiederum als gezwungen, geziert und falsch. Erst jetzt kann die zusätzliche Milde, Süße, Harmonie, Glätte, Gefälligkeit des Schönen als übermäßig empfunden werden. Erst in einer verweichlichten, harmonisierten, konventionellen, gemäßigten und geschniegelten bürgerlichen Welt kann das Schöne zuviel des Guten bieten: nämlich Kitsch. Die sentimentale, kitschige Kunst ist eine solche, die den ehedem rohen, inzwischen domestizierten und gebildeten Menschen mit sich selbst in "Harmonie", nämlich Selbstgefallen versetzt - statt ihn über seine Befindlichkeit hin- weg zu reißen.
(Sind Tiepolos Fresken an sich nicht Kitsch? In einem Land, das eben einen dreißigjährigen Bürgerkrieg hinter sich gebracht hat, nicht. Aber das Zeug an den Wänden und Decken des Berliner Doms ist es gewiß, und nicht bloß wegen der minderen Ausführung. - Seit den siebziger Jahren galt als Inbegriff des anästhetisch-Flachen, Öden, Häßlichen der Soziale Wohnungs- bau der 50er, 60er Jahre - und seine grausige Überbietung: der Plattenbau der DDR. Aber nach dem Krieg, in der Trümmer- wüste des zerbombten Berlin, wo uns von der ganzen rauchgeschwärzten Bizarrerie buchstäblich die Augen weh taten, da haben wir alle die quadratisch-praktisch-gute Freundlichkeit der Interbau ('58) mit ihrem neuen Hansaviertel richtig schön gefunden. Es war eben eine nüchterne und keine romantische Zeit.)
aus Über Ästhetik, Rohentwurf, 19
Die Erhabenheit des FormlosenFr. Edwin Church, View from Olana in the snow
- In der Geschichte hat sich das Feld des Ästhetischen vom Schönen hin zum Erhabenen verschoben; vgl. Wolfgang Kauder-Welsch... - vgl. 30!
aus Zwischenbericht in Über das Ästhetische
Das uneigentlich Schöne.
Trotzdem bleibt das Schöne Paradigma auch des Rätselhaften. Denn im Schönen (nun aber im Naturschönen sowohl als im Kunstschönen - das Naturschöne sieht aus, als ob die Natur "sich was dabei gedacht hätte") erscheint das bloß-sinnlich-Gegebene so, als ob es selber etwas bedeuten wolle! Und zwar jenem 'zwiespältigen' Bewußtsein, das längst weiß, daß die Dinge 'an sich' eben überhaupt nichts bedeuten und ohne pragmatische Zwecksetzung sinnlos bleiben.
Rätselhaft ist die Darstellung (als Darstellung) dann, wenn sie ihr Objekt, egal ob gegenständlich oder ungegenständlich, beinahe in 'Schönheit' faßt, und sie dann doch verfehlt; die harmonistische, befriedete, positive Symbolhaftigkeit des Schönen parodiert. Diese vorgeführte Immanenz heißt Ironie und ist seit der Romantik der Generalnenner der Kunst.
Pietro Annignoni, Anacoreti nel deserto
(Es gibt aber weiterhin eine Kunst, die auf Entschärfung nicht verzichten mag - für Leute, die mangels Bildung den Zwiespalt nicht aushalten; diese 'Kunst' heißt jetzt Kitsch. Seitdem darf im übrigen jeder 'seinen eigenen Geschmack' haben. Einen gültigen Stil gibt es nicht mehr, nur noch Moden, die aber von Anbeginn umstritten sind; z. B. wg. Kitsch!)
Wie das Ästhetische entbunden wurde.
Cézanne, Lac d'AnnecyWas ist das Ästhetische im Unterschied zum Logischen, Rationellen, Ökonomischen, Technischen usw.?
Die Frage setzt eine gewisse Idee, dass "das Ästhetische" im Unterschied sei [was mit diesem Wort also wovon unterschieden wird], natürlich schon voraus. Wo kommt die her? Aus der Kenntnis der Kunst. Kommt sogleich die Frage: Was ist Kunst? - Die industria, die "ästhetische Gegenstände" (schöne Dinge) produziert.
Offenbar zirkulär eingrenzen (den Zirkel immer enger ziehen): Hat es Kunst immer gegeben?
Also: Kunst in einem engeren Sinn entsteht erst mit der Renaissance. Wieso? Bis dahin entstanden "ästhetische Gegenstände" gewissermaßen beiläufig, akzidentiell, als Attribut eines anderweitig bestimmten Gegenstands. Die ästhetische Qualität (Schönheit, Erhabenheit) als Schmuck, Verzierung (vgl. Gottfried Semper über 'Kosmetik') und Lobpreisung der (weltlichen wie geistlichen) Macht: das Ästhetische lediglich als Auszeichnung des Gegenstands. Seit der Renaissance ist der Gegenstand dann nur noch Träger, Transporteur, Vorwand der ästhetischen Qualität selber.
Deshalb muss die ästhetische Qualität seither nicht mehr nur positiv bestimmt sein, als Schönheit oder Erhabenheit, sondern kann quasi disparat werden: Manierismus, Barock; hässlich, komisch, grotesk als Selbstzweck, nicht mehr als "Warnung" (wie bei Bosch, Brueghel).
Letzte Konsequenz: Der Gegenstand wird vorübergehend zugunsten des Ästhetischen ganz aufgegeben; Malevitch, Kandinsky, Konstruktivisten, Mondrian...
Clivage reproduziert sich zyklisch jeweils auf höherem Niveau. Z. B. die Zeitgenossen Corot und Turner. (Von T. heißt es, er "gibt mit der Auflösung der Kontur den Gegenstand selber auf". Aber das ist schief. Er "gibt" den Gegenstand nicht "auf", sondern er "achtet" am Gegenstand nur noch "auf" dessen ästhetische Qualität. Man erkennt es am Vergleich mit Corot, der dasselbe tut mit anderem Resultat: Flächen, Valeurs...)
Turner, Seestück mit Figuren im Vordergrund, nach 1844
Vorher gab es in der englischen Gartenkunst die Revolution von Capability Brown. Nicht mehr: die Landschaft nach ästhetischem Vor-Bild modellieren (wie noch bei Lenné!), sondern aus der gegebenen Landschaft ihre ästhetischen "Möglichkeiten" (capabilities) heraus holen.
aus e. Notizbuch, 2. 9. 03
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