N. N.
...Bemerkenswert an diesem Beitrag ist etwas, das gar nicht darinsteht. Dass nämlich das furiose Raumgreifen des Ästhetischen in der Neuzeit eine Kompensation sei für den verlorenen Zauber der Mythen und frommen Mären, verliert hier an Plausibilität. Es unterstellt, dass die metaphysischen Verkleidungen, in die die Welt vor der epochalen Säkularisierung gewandet war, deren Rätsel für die große Masse der Menschen gelöst hätten, und dass nach deren Fortfall ein Fehlbedarf entstanden sei, der mit schönem Schein ausgeglichen werden musste.
Für die große Masse der Menschen hatten die metaphysischen Bauwerke nie eine Bedeutung gehabt, und dass sie die Rätsel der Welt gelöst hätten, haben die Gelehrten, denen sie bekannt waren, selber nicht geglaubt. Für die große Masse der Menschen sind die Rätsel des Daseins bis heute so ungelöst wie je, und sie haben sich darin eingerichtet wie je. Und auch für die Wenigen, die daraus ein Problem machen, blieb alles beim Alten.
Bleibt als Ergebnis nur dies: Das Vordringen des Ästhetischen in die alltägliche Lebenswelt der großen Masse muss seinen eigenen Grund gehabt haben.
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Und zwar diesen.
Sein ästhetisches Vermögen ist nichts, was der Mensch erst in der Geschichte erwerben musste. Es ist eine Seite - eine Saite - des poietischen, wertsetzenden, produktiven Vermögens der Einbildungskraft, die allein erst das Aufrichten der Menschheit ermöglicht hat. Doch war es in der rund zwölftausend Jahre lang andauernden Arbeitsgesellschaft so reichlich mit Ackern und Schachern beschäftigt, dass für mehr als den reinen Brotwerwerb keine Muße blieb. Die spezisch ästhetische Dimension der Einbildungskraft war in weitesten Teilen der Menschheit brachgelegt.
Es musste erst ein hinreichend großer Überfluss entstehen, der einer hinreichenden Anzahl Individuen nach getaner Arbeit genügend Energien übrig ließ, die sie an Dinge verwenden mochten, deren Nutzen nicht flach auf der Hand liegt; erst dann konnte das Ästhetische auf breiter Front Eingang ins tägliche Leben finden und selber Teil der materiellen Reproduktion werden.
Das Ästhetische ist keine Kompensation eines erfahrenen Verlustes, sondern ein Gewinn, eine Freisetzung, eine Entbindung. Es ist der Beginn von etwas Neuem.
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