Mittwoch, 24. September 2014

O mein Gott, Regietheater.

Muss das sein? Viel Fleisch um nichts: Christoph Willibald Glucks «Armida», 2009 von Calixto Bieito an der Komischen Oper Berlin inszeniert.
ausnzz.ch,                Christoph Willibald Gluck, Armida, 2009 von Calixto Bieito an der Komischen Oper Berlin inszeniert


Auswüchse des Regietheaters
Oper der Beliebigkeiten



Es ist inzwischen zur trostlosen Gewissheit geworden. Der Beginn einer jeden Opernsaison verheisst schon lange nicht mehr die Begegnung mit Werken, sondern mit «neuen Lesarten», «ungewohnten Sichtweisen» oder «radikalen Neudeutungen». Gemeint ist damit (noch) nicht der Umstand, dass der Schlussgesang der Isolde in c-Moll und nur mit Harfen erklingt oder die «Falstaff»-Fuge in einer Version für Marimbafon und Vuvuzelas. Vielmehr geht es (einstweilen) um einen Prozess der fortwährenden szenischen Destabilisierung, dessen Grenzen nach etwas mehr als einer Generation weitgehend erodiert sind.

Unter den vielen «Rheingold»-Produktionen, die sich derzeit auf den deutschsprachigen Bühnen bestaunen lassen, reicht die unerschöpfliche Vielfalt von den Ölfeldern Kaliforniens (Bayreuth) über eine Umwelt-Katastrophen-Szenerie in Müllbergen (Nürnberg) bis hin zu einem Panoptikum aus Video, Clownerie und Geisterbahn (Mannheim). In Augsburg gibt es einen «Figaro», der im Personalraum spielt, in Hannover eine «Carmen» im Zeitalter globalen Migrantentums, in Osnabrück einen «Barbiere» beim Mafia-Paten, in Graz eine «Manon» auf dem Flughafen. Die quälend groteske Reihe scheint endlos. Der Schritt zu einem vergleichbaren Umgang mit den Partituren ist daher nicht nur naheliegend, er ist längst vollzogen, allerdings noch nicht flächendeckend: In Zürich gibt es einen «Fidelio» mit vertauschter Nummernfolge, in Berlin demnächst eine «Ariadne» mit einem weiblichen Haushofmeister.

Gebrauchsanweisungen

Experimente dieser Art, deren Wurzeln in die 1970er Jahre zurückreichen, gehören zum ehernen Alltag der Bühnen, es handelt sich daher eigentlich nicht mehr um Experimente, sondern um blosse Konvention und Konfektion. Dennoch, die publizistischen Anstrengungen zu ihrer Rechtfertigung halten unbeirrt an. In ihnen werden weitgehend widerspruchslos die Bedeutungsfülle und die Notwendigkeit solchen Tuns beschworen. In Einführungen, die den Opernabenden nach wie vor vorausgehen, bemüht man sich nicht mehr um Verständnishilfen für das Stück, sondern um Gebrauchsanweisungen für dessen Inszenierung – damit man verstehen lernt, warum Junkie-Tristan sich den Liebestrank in die Vene spritzt oder Lulu in einem ausgefallenen Sexklub pornografische Filme zeigt. Und so liegt auch in der medialen Berichterstattung seit etlichen Jahren das Hauptaugenmerk auf gewichtigen Auslegeordnungen der immer wilderen szenischen Arrangements; man kann sich dann freuen, wenn über den Sänger des Otello mehr zu lesen ist als der Hinweis auf sein wohltönendes Organ.

Die Programmhefte sind bei alledem zu bunten Büchern lustvoller Selbstdarstellung geworden, in denen das Füllhorn eines nie versiegenden, auf Filme, Bilder und Texte gerichteten Assoziationsreichtums ausgeschüttet wird. Und in den Ausbildungsstätten trägt man dies mit munterer Unverdrossenheit in die nächste Generation. In der Musikhochschule Trossingen wurde jüngst, wie eine leider gar nicht ironisch gemeinte Ankündigung lehrt, Mozarts «Figaro» «in die Welt der Fashion-Shows» verlegt, mit einem Countertenor als Cherubino und unter Beiziehung einer Drehorgel.

Das alles ist einerseits beunruhigend, weil es vollständig der Beliebigkeit unterliegt: «Rigoletto» auf dem Planeten der Affen, «Rinaldo» in der Hotelhalle, die «Zauberflöte» in der Pflegestation – alles längst geschehen und austauschbar, in aller Regel an der Fallhöhe der Geschichten vorbei. Der wohlfeile Hinweis, man habe sich dazu entschlossen, das Stück in seine Entstehungszeit zu verlegen, kann dabei in seiner unendlichen Ödnis noch als die harmloseste aller denkbaren Ankündigungen verstanden werden. Denn es geht ganz anders. Spätestens seit den Projekten Calixto Bieitos gehören Nacktheit, Blutrausch und Körpersäfte aller Art zum festen Arsenal auch des Musiktheaters. 

Beunruhigend ist diese Tendenz anderseits auch, weil es kaum noch Korrektive zu geben scheint. Gegenläufige Tendenzen sind fast nicht mehr auszumachen, und wenn doch, dann ergeht es ihnen in der Berichterstattung besonders übel, eben weil das Werk nicht in Duisburg-Ruhrort, in Syrien oder auf dem Mond spielt. Wenn sich der Erfolg einer Praxis am Fehlen eines Gegenmodells bemessen lässt, dann wäre dieses Theater, um Thomas Bernhard zu bemühen, «am Ziel» oder, mit einer prosaischen Vokabel aus der Tagespolitik, «alternativlos».

In künstlerischen Dingen sollte solche «Alternativlosigkeit» allerdings aufhorchen lassen. Denn die landläufige Behauptung, dass man etwas heute «so» nicht mehr machen könne, ist nicht nur teleologischer Unfug, sie ist überdies unlauter. In den Opernhäusern regiert nämlich ein unangefochtener Kanon, der weitaus fester zementiert ist als noch vor fünfzig Jahren. So spricht gewiss nichts dagegen, den Anteil neuer Werke zu erhöhen, aber es ist mehr als fragwürdig, die alten Werke mit immer neuen Bildern vermeintlich «modern» zu machen und sich damit behaglich im Kanon einzurichten. Zudem hat der Moderne-Begriff, der hier bedient wird – das «Verstörende», «Provozierende», «Bestürzende» –, inzwischen selbst so viel Patina angesetzt, dass man ihn getrost in die Geschichte entlassen sollte.

Historische Verantwortung

Die historische Verantwortung im Umgang mit Texten der Vergangenheit ist nichts Entbehrliches, sie ist auch nicht, wie so oft behauptet, ein Relikt altmodischen Philologentums, zumal das Argument für die Musik nicht geltend gemacht wird. Was aber nützt eine kritische Ausgabe des «Don Giovanni», wenn die Szenerie kurzerhand (wie in Linz) von Sex and Crime der Pop-Stars erzählt? Texte, Partituren der Vergangenheit bedürfen vielmehr einer besonderen Sensibilität, denn erst, wenn es gelingt, im Vergangenen das Gegenwärtige aufzuspüren (statt die Gegenwart dem Historischen einfach nur überzustülpen), kann sich der Rang eines Kunstwerks, auch eines musikalischen Bühnenkunstwerks, bewähren.

Immer wieder wird gegen solche Sensibilität die Autonomie des Theaters beschworen. Doch sind ihr strikte Grenzen gesetzt. Die Geschichte des 20. Jahrhunderts ist so reich an Fällen furchtbaren Textmissbrauchs, dass es leichtfertig und überheblich wäre, die damit verbundenen Warnungen zu ignorieren. So brach man in Leningrad 1928 eine «Fidelio»-Aufführung ab, weil die Befreiung durch den Klassenfeind (also den Minister des Königs) der revolutionären Gesellschaft unangemessen sei; in Bayreuth marschierte 1943 auf der «Meistersinger»-Festwiese (in den Bildern Wieland Wagners) die SS-Standarte Wiking auf, um das Werk endgültig zum NS-Festspiel zu machen. Wohl niemand käme auf die Idee, derartige «Einfälle» als Regietheater zu bezeichnen – und doch besteht zwischen ihnen und einer «Forza del destino» in Guantánamo oder einem «Tannhäuser» in der Biogasanlage allenfalls, sieht man einmal von den damit verbundenen Instinktlosigkeiten ab, ein gradueller, jedenfalls kein grundsätzlicher Unterschied. Historische Texte sind empfindliche Gebilde, so dass es sich, gerade nach den Erfahrungen der letzten einhundert Jahre, verbietet, vermeintliche Autonomie auf ihre Kosten zu verwirklichen. Man kann ja durchaus, wenn man es denn tatsächlich will, Bühnengeschichten von kalifornischen Ölfeldern oder von Guantánamo erzählen, aber warum dann nicht mit neuen Texten und Partituren?

Hermeneutik

Ein alter hermeneutischer Grundsatz besteht in der Verallgemeinerbarkeit. Berechtigung hat eine Deutung dann, wenn sie Evidenz mithilfe der Textlektüre beanspruchen kann und sich deswegen Dritten erschliesst. Das aber ist das genaue Gegenteil von einer weit gestreuten Assoziationsfülle, die selbst unausgesetzt erklärungsbedürftig ist, um noch als «mitteilbar» zu gelten. Die inzwischen erfolgte Preisgabe dieses Grundsatzes beeinträchtigt daher nicht allein die Würde und Autonomie von Texten, sie degradiert nicht bloss die Zuschauer zur Staffage von wuchernden Bildphantasien, sie bedroht am Ende sogar den Betrieb, dem zu nützen sie vorgibt. «Verkörperten» früher Sänger ihre Rollen – bei einem Tristan, einem Scarpia oder einem Wozzeck kaum zu überschätzende Herausforderungen –, so wird die Erarbeitung einer schwierigen Partie heute von einer solchen Flut szenischer Extravaganzen überschattet, dass die Aufführung nicht selten Schaden oder sogar Schiffbruch erleidet. Die Konsequenzen zeichnen sich bereits jetzt ab, in der steigenden Zahl von konzertanten Produktionen. Sie sind dem Wesen der Oper eigentlich zuwider, befreien aber sowohl die Musiker als auch die Zuhörer von der immer schwerer erträglichen Last entgleister Bildwelten.

Mehr Respekt

Die Diskussion über diese Praktiken entsteht allenfalls noch von Zeit zu Zeit, sie verläuft in Schüben, die gerne um die Vokabeln von «Texttreue» und «Regietheater» kreisen. Hilfreich ist das deswegen nicht, weil es, gerade angesichts der Erfahrungen des 20. Jahrhunderts, nicht um «Treue» zum, sondern um Respekt vor dem Text geht. Entschiedene Einsprüche gegen ein Dogma, in dem der Interpret über dem zu Interpretierenden steht, finden sich seltener – und sie werden von den Anwälten der «Regie» gerne in ein ästhetisch, zuweilen auch ethisch zweifelhaftes Licht gerückt. Natürlich, die Oper erfüllt sich im Augenblick, das war auch schon vor der Konjunktur des seltsamen Wortes «Performanz» ein Allgemeinplatz. Doch gerade dieses Augenblickliche verpflichtet nicht auf die vermeintliche Sensation, sondern auf die Verbindung von Nähe und Ferne, von Respekt, Geschichtstiefe und Gegenwärtigkeit. Vielleicht ist die Hoffnung auf eine Gegenbewegung zum Operntheater der Beliebigkeiten noch nicht ganz illusorisch. Ein Blick auf den Saisonbeginn lehrt allerdings, dass kein Grund zum Optimismus besteht.

Laurenz Lütteken, geboren 1964 in Essen, ist seit 2011 ordentlicher Professor für Musikwissenschaft an der Universität Zürich. 2011 erschien die Studie «Musik der Renaissance. Imagination und Wirklichkeit einer kulturellen Praxis». Zuletzt veröffentlichte er eine Monografie zu Richard Strauss.

Nota.

Ironischerweise fällt dieEpoche des Regietheaters auf der Bühne zusammen mit der Blüte der "historische", inzwischen "historisch informierten Aufführungspraxis" im Orchester. Doch wer gehofft haben sollte, dass eines Tages die Götterdämmerung in den Kostümen, dem Dekor und der Inszenierung der Uraufführung geboten würde - auf Originalinstrumenten sowieso -, der sieht sich getäuscht. Eher noch wird das Regietheater die Partituren erreichen und jeder Dirigent einen jeden Komponisten "gegen den Strich bürsten". Schöner als auf der Bühne wäre es vielleicht nicht, aber ästhetisch jedenfalls interessanter, weil Dirigenten von Musik etwas verstehen.

Doch dann würde sich die Frage, ob der ästhetische Ertrag die hohen Subventionen rechtfertigt, in der Öffentlichkeit nicht mehr unterdrücken lassen. Eher wäre aber besser.
JE

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