"Es geht immer darum, was der Autor wollte"
INTERVIEW DANIEL ENDER
Die nächste Opernpremiere an der Staatsoper am Sonntag gilt der "Sache Makropulos" von Leos Janácek. Altmeister Peter Stein inszeniert. Dem STANDARD gab er Auskunft über den Sinn des Lebens und seine Abneigung gegenüber Regieeinfällen
STANDARD: Wozu braucht denn der Mensch das Theater?
Stein: Das braucht er überhaupt nicht. Ein Stückchen Brot braucht er. Frieden wäre auch gut. Theater und Kunst braucht kein Mensch. Nur ist das die einzige Hervorbringung der menschlichen Rasse, von der es sich lohnt, sich damit zu beschäftigen. Ölplattformen sind für mich keine grandiose Leistung des Menschengeschlechts. Kunst ist das Einzige, das die Existenz des Menschen überhaupt rechtfertigt.
STANDARD: Das berührt die altbekannte, ewige Frage nach dem Sinn des Lebens und jenem der Kunst.
Stein: Das sind Themen des Theaters. In erster Linie geht es um den Tod. Das Theater ist überhaupt erst daraus entstanden, dass wir zum Tode geboren sind. Das Theater wurde dazu gegründet, sich mit dieser Frage ausführlich zu beschäftigen: Obwohl es ununterbrochen davon handelt, dass es keinen Ausweg gibt und man sich in einer tragischen Verstrickung empfindet, lebt man das Leben weiter – und zwar mit einer größeren Bewusstheit und Intensität. In der Spätrenaissance wurde die Oper erfunden, um die Tragödie wiederzubeleben: Sie war eine produktive Fehlinterpretation der Antike, aber die Themen sind dieselben geblieben.
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STANDARD: Gibt es für Sie in Ihrer künstlerischen Arbeit etwas, das Sie beständig verfolgen oder das Sie verfolgt?
Stein: Nein, das kann ich nicht sagen, es sei denn die grundlegende Geschichte, von der ich schon gesprochen habe: Das Hauptproblem der menschlichen Existenz ist der Tod. Das präsentiert sich in tausenden Abschattierungen – und übrigens auch in komischer Form. Verdis Falstaff ist eine wirkliche Komödie – übrigens die Oper, die von mir am erfolgreichsten war, weil sie am häufigsten wiederaufgenommen und auf der ganzen Welt gezeigt wurde. Das war bei anderen Opern nicht so. Ich bin kein internationaler Verkäufer.
STANDARD: Doch kommt man ja, was die Oper betrifft, in ausreichendem Maße auf Sie zu.
Stein: Bei der Oper wartet man eher darauf, was einem angeboten wird. Bei der Sache Makropulos war es so, dass mich Dominique Meyer gefragt hat, was ich gerne machen möchte. Ich habe Aus einem Totenhaus gesagt, aber das wurde ja 2011, also vor nicht allzu langer Zeit, von Herrn Konwitschny gemacht. Also bekam ich Makropulos ...
STANDARD: ... als Ihre erste Janácek-Inszenierung. Ein Komponist von vitaler Kraft, aber auch feiner Klinge, ein Meister der Zwischentöne – auch zwischen Tragik und Komik. Entspricht Ihnen das?
Stein: In der literarischen Vorlage von Karel Čapek gibt es eine Reihe komischer Elemente. Janácek konzentriert sich in seiner Bearbeitung (mit der Arbeit daran begann er 1923, Uraufführung war 1926 in Brünn, Anm.) hingegen auf das Thema des Todes: dass eine Figur, die hunderte Jahre lebt, am Ende sagt: Das war ein großer Fehler. Dem Publikum wird gesagt, sie sollen glücklich sein, dass sie sterben dürfen – nicht müssen, sondern dürfen. Das ist natürlich auf die Spitze getrieben. Ich habe besonderen Wert darauf gelegt, dass ständig Momente kommen, in denen die Figur der Emilia Marty drauf und dran ist zusammenzubrechen. Sie braucht dringend einen Schuss, der sie weitere 300 Jahre leben lässt, sonst ist sie tot. Das versuche ich so deutlich zu machen, wie es geht.
STANDARD: Die Musik in einer Oper ist Ihnen ja alles andere als gleichgültig. Wie gehen Sie mit dem eigenen Tempo und der Dramaturgie von Janácek um?
Stein: Ich mache immer genau das, was in der Partitur steht – und würde mir nur wünschen, dass das Orchester das auch tut. Die Partitur ist mit ihren ständigen Rhythmuswechseln nicht leicht zu spielen und wechselt ständig zwischen forte und piano. Das muss man genau berücksichtigen, sonst gibt es Schwierigkeiten für die Sänger. Und das wäre sehr schade.
STANDARD: Sie bezeichnen sich gerne als "reaktionären" und "konservativen" Regisseur. Ist das nicht – auch – eine Koketterie Ihrerseits?
Stein: Das sind Ausdrücke, die von Ihren Kollegen auf mich gemünzt wurden. Das hat mit Koketterie überhaupt nichts zu tun. Es ist auch nicht kokett, wenn ich sage, dass ich immer das mache, was in der Partitur steht. Manchmal scheitert man, weil die Vorschläge in der Partitur gar nicht realisierbar sind. Aber es geht immer darum, was der Autor wollte. Ich selber komme mit sogenannten Ideen nicht dazwischen. Mein Interesse ist eine Interpretation der Intentionen des Autors, wie sie sich im Werk darstellen – also weniger dem Werk treu als dem Autor. Ich nähere mich nicht einem Werk, um es als Steinbruch zu benutzen und meine Assoziationen daranzukleben.
STANDARD: Aber die Interpretation ist doch wohl die Ihre?
Stein: Nein, nein, nein. In meiner Interpretation bündeln sich verschiedene Interpretationen: Alle, die ein Werk schon gemacht haben, schaue ich mir an. Was man dazu sagt, was die Geschichte dieses Werkes ist, das kommt alles da hinein. Mein Anteil ist jener der Kombination bestehender Interpretationen, die ich am musikalischen Fakt überprüfe. Meine Interpretation reicht nicht weiter als die eines Dirigenten, der versucht, die Partitur zu realisieren.
Peter Stein, geboren 1937 in Berlin, studierte ab 1956 Literaturwissenschaft und Kunstgeschichte in Frankfurt und München. 1970 bis 1985 leitete er die Schaubühne Berlin, 1992 bis 1997 das Schauspiel bei den Salzburger Festspielen. Nach unzähligen Theaterprojekten inszenierte er in den letzten Jahren schwerpunktmäßig Oper.
Kresnik: Verdi, Maskenball
Nota. – "Mein Interesse ist eine Interpretation der Intentionen des Autors, wie sie sich im Werk darstellen – also weniger dem Werk treu als dem Autor" – das ist mal ein Wort!
Ein Werk der Bildenden Kunst muss ein Betrachter schon selber interpretieren; oder es, besser noch, unterlassen. Aber ein Musik- oder Theaterstück muss durch die Intelligenz eines Interpreten gehen, um überhaupt gehört oder gesehen zu werden. Ein bildnerisches Wer ist da, wie der Künstler es – mehr oder weniger – fertiggestellt hat. Was er hinzutut oder weglässt, ist dem Betrachter überlassen. Im Konzert oder auf der Bühne wird ein Werk überhaupt erst durch die Interpre-ten 'fertig'. Und wer es interpretiert, muss es so oder anders machen, und ohne, dass er sich dabei was denkt, geht das eben nicht.
Vor ihm liegt auf jeden Fall erstmal das Werk, und das besteht aus Text, Buchstabentext oder Notentext mit Regie- oder Aufführungsanweisungen. Nun hat er drei Möglichkeiten. Erstens nimmt er den Text als ein "Angebot" an seine Einbil-dungkraft, nimmt es als Anregung, um sich selber was einfallen zu lassen, und ob vom 'Stoff' dann mehr übrigbleibt als Nach einer Idee von... ist das Risiko des zahlenden Publikums, das jedenfalls einen "spannenden" Abend erlebt; mitge-tragen freilich auf den subventionierten Bühnen von nichtsahnenden Steuerzahlern. Theater ist auch das, und wer weiß, worauf er sich einlässt, hat keinen Grund zu mäkeln, und die Kritiker lassen sich ihren Job bezahlen.
Im Orchestergraben sind die Möglichkeiten schon begrenzter. Wer in Così fan tutte Musik spielt, die nicht von Mozart stammt, sondern von ihm selbst, wird dazu kaum eine zweite Gelegenheit bekommen. Da ist der Text sakrosankt, disku-tabel bleibt aber immer die 'Aufführungspraxis', denn da muss interpretiert werden wie auf der Bühne. Entweder orien-tiert man sich am Werk, oder man orientiert sich an der Absicht des Autors; und auch, wenn ein Dirigent seinem Tempe-rament die Zügel schießen lässt, wird er sagen, ebendamit würde er "dem Werk" oder "der Intention des Autors" am ehesten gerecht.
"So gefällts mir nunmal am besten" wird sich kaum mal einer zu sagen trauen, obwohl's darauf natürlich immer hinaus-läuft, denn subjektiv ist eine Interpretation so oder so: ein Geschmacksurteil. Die Frage ist nur, woran einer Geschmack finden will – eben am Werk oder doch an der Absicht des Autors. Das Werk ist aber nicht schon der Wortlaut oder die Partitur, dann bräuchte es ja keinen Interpreten, beides ist nur die Hardware. 'Fertig' wird das Werk erst durch 'das, was es bedeutet'; das ist es, was die Interpreten hinzutun und was das Publikum mit seinen Rezeptoren daraus machen muss. Mit andern Worten, ohne eine Intention kann man Kunst weder machen noch aufnehmen. Übrigens auch in einer rein ästhe-tischen Bildenden Kunst nicht: Die uninteressierte Betrachtung muss man wollen, sonst stellt sie sich nicht ein.
Doch ist der Autor selbst nicht immer auch sein bester Interpret, sagt Kant. Und das bedeutet, da der Autor ja nur den Text aufgeschrieben hat, dass er vielleicht nicht ganz das zu Papier bringen konnte, was er 'in Wahrheit gemeint' hat. Der Interpret müsste gegebenenfalls versuchen, den Autor besser zu verstehen als der sich selbst. Das kann ja immer noch ganz Verschiedenes bedeuten; etwa, allzu Zeitbedingtes auszuscheiden oder, im Gegenteil, den Zeitbezug viel deutlicher herauszuarbeiten, als es dem Autor gefiel, und der Regisseur wird also interpretieren müssen, was dem Autor zu seiner Zeit als das Wesentliche und was als das Zufällige erschienen sein mag, und was daran falsch und was daran richtig war, und was davon dem gegenwärtigen Publikum mitgeteilt gehört; und so ins Unendliche fort.
Und wenn der Autor überzeitliche Seelendramen darstellen wollte, wird er herauszufinden suchen, was der für das über-zeitliche Drama gehalten hat, und wenn ihn das dann nicht wirklich interessiert, wird er sich vielleicht einen andern Autor vornehmen; und nicht, womit ich den Bogen für heute schließen will, unterm Namen desselben Autors ein anderes Stück aufführen.
JE
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