Donnerstag, 22. März 2018

Ist Musik eine Sprache?

Michael Jackson File Images
  aus welt.de, 22. 3. 2018                                                             Michael Jackson bei einer Super Bowl-Aufführung.

Musik ist tatsächlich eine Sprache und wird im Gehirn ähnlich verarbeitet
Musik wird oft als eine Art Sprache bezeichnet. Hören wir Michael Jacksons „The Way You Make Me Feel“, erkennen wir sofort, es geht um etwas Fröhliches. Doch funktioniert Musik deshalb wie Sprache? Forscher des Max-Planck-Instituts meinen: Ja! 

Von Joel Wille

Forscher der Harvard University belegen können, dass Musik tatsächlich eine Art universelle Sprache ist. Liedern weltweit, egal welcher Sprache, liege ein gemeinsamer Code zugrunde. Deshalb erkennen wir ein Liebeslied, auch wenn es aus einer völlig anderen Kultur stammt. 

Doch funktioniert Musik deshalb wie Sprache? Immerhin können wir mit Musik kein direktes Gespräch führen. 

Nehmen wir zum Beispiel das hochkomplexe Instrument Triangel. Kein Triangelspieler auf der ganzen Welt, nicht einmal der allerbeste, kann sich mit seiner Triangel direkt mitteilen. Dennoch verstehen wir sein Triangelspiel. Wie ist das möglich? 

Neuropsychologen des Leipziger Max-Planck-Instituts für Kognitions- und Neurowissenschaften haben jetzt herausgefunden, dass Musik wie die des Triangelspieler sehr wohl etwas mit Sprache zu tun hat. Neben der emotionalen und kommunikativen Funktion hat Musik nämlich noch etwas anderes mit Sprache gemein: Sie basiert auf einem System, in dem sich Einzelelemente zu immer komplexeren hierarchisch-strukturierten Sequenzen zusammensetzen. Genauso wie unsere sprachliche Grammatik.

Wir verabreiten das Klingen des dreieckigen Stahlstabs also ähnlich wie verbale Kommunikation.

Um das Areal zu finden, das für die musikalische Struktur zuständig ist, hat der Neuropsychologe Vincent Cheung und seine Kollegen eine Untersuchung gestartet. Sie luden 20 Musiker mit mindestens sieben Jahren Erfahrung in einem Instrument ein:

Das Pianospiel war eigens komponiert worden und zwar so, dass den Musikern die Struktur dahinter garantiert nicht vertraut war.

Diese musikalische Sequenz wurde im ersten Schritt der Studie verwendet.
Diese musikalische Sequenz wurde im ersten Schritt der Studie verwendet.
Der Sinn dahinter war, den Probanden eine ganz neue musikalische Struktur beizubringen, damit ihre musikalischen Areale so richtig aktiv wurden. 

Dreieinhalb Wochen später wurden die Gehirne der Teilnehmer mithilfe der funktionellen Magnetresonanz-Tomografie (fMRT) durchleuchtet.

Dabei wurden den Probanden 144 neue Stücke vorgespielt. Manche folgten der durch das Pianostück erlernten Grammatik, andere nicht. Mit dieser neuen Grammatik im Kopf sollten die Musiker dann entscheiden, ob es sich bei einem Stück um grammatikalisch „richtige“ oder „falsche“ Abfolgen handelte.

Dabei zeigte sich in den Hirnscans: Ein Hirnareal ist aktiv, das auch bei der Sprachverarbeitung benutzt wird
.
Auf diesem Bild ist die rechte Seite mit groß "R" markiert. Rechts der Bereich für die musikalische Grammatik aktiv (rot), wenn die grammatikalischen Regeln verletzt werden. Die blauen Bereichen markieren das Arbeitsgedächtnis.
Hier siehst du das aktive IFG bei den Hirnscans.

Das Spannende: Nehmen wir Verstöße gegen unser erlerntes, sprachliches Grammatiksystem wahr, wird das sogenannte Broca-Areal in der linken Hälfte des IFG aktiv. Verletzungen der uns bekannten musikalischen Grammatik werden genau auf der anderen, der rechten Seite des IFG aktiv.

Die Wissenschaftler gehen also davon aus, dass es ein musikspezifisches Pendant zum Broca-Areal gibt.

Das belegen auch die Aussagen der Musiker, die die Grammatik der vorgespielten Musik-Stücke beschreiben sollten:

Die Ergebnisse belegen, dass unser Gehirn eine Grammatik für musikalische Strukturen hat und diese vor allem im rechten IFG verarbeitet. Diese Region erfüllt ähnliche Aufgaben wie die des Sprachzentrums - nur eben anderherum für Musik.


Nota. - Lehrt uns das mehr über Musik oder mehr über Sprache? Dass Sprachen grammatische Struktur haben, wussten wir. Dass Musik sie auch hat, ahnten wir nur. Dass Musik keine Begriffe hat, um komplexe Informationen weiterzugeben, wussten wir, und die Studie fügt dem nichts hinzu. Dass Musik eine ästhetische Qualität hat - was immer das bedeutet -, wussten wir ebenfalls. Die hat Sprache auch, "aber in minderem Grade" - wobei wiederum die Bedeutung der Wörter ('Informationsgehalt') eine Rolle spielt; wenn man nur wüsste, welche!
JE

Samstag, 17. März 2018

Windstöße.


William Turner, Trees in a Strong Breeze with Blustery Clouds um 1823

Jean-François Millet 

Camille Corot


Gustave Courbet, 1865

Vincent van Gogh, 1884

Claude Monet 1882

 Felix Vallotton, 1910

Maurice de Vlaminck, Autumnal Landscape, Jahr?

 Antônio Parreiras (Brazilian, 1860-1937), Windstoß 1888

Jean-Baptiste-Camille Corot, ‘The Gust of Wind (Le Coup de vent)’, 1871, National Gallery of Art, Washington, D.C.
Corot, 1871

A Gale By The Sea Painting by Celestial Images Corot, Windstoß an der See, 1870?

Ähnliches Foto
 Corot, 1870


Chaim Soutine, Jour de vent à Auxerre, 1934

Fernand Puigaudeau (1864-1930), Coup de vent au soleil couchant 

 Attributed to Maerten Fransz. van der Hulst, 1605-1645

Mittwoch, 14. März 2018

Musikalische Grammatik?

aus scinexx                                                                    Gerry Mulligan, Larry Bunker, Chet Baker & Lee Konitz, Hollywood Cool 1952

"Grammatikzentrum" für Musik entdeckt
Forscher entschlüsseln Verarbeitung musikalischer Strukturregeln im Gehirn

Stimmt die Struktur? Forscher haben herausgefunden, wo unser Gehirn grammatikalische Muster von Musik verarbeitet. Es handelt sich um das rechte Pendant des für die Sprachverarbeitung wichtigen Broca-Areals auf der linken Hirnseite - und wird aktiv, wenn einmal gelernte Strukturregeln von Musik verletzt werden. Damit übernimmt dieses Areal ähnliche Aufgaben wie sein Gegenüber - jedoch für Musik statt Sprache.

Musik wurde schon oft als Sprache oder zumindest eine Art von Sprache bezeichnet - und tatsächlich ist unser Hang zur Musik so tief in unserer Natur verankert, dass sie in unserem Leben mindestens eine ebenso große Bedeutung spielt wie das gesprochene Wort. Neben der emotionalen und kommunikativen Funktion hat Musik jedoch noch etwas mit Sprache gemein: Sie basiert auf einem System, in dem sich Einzelelemente wie Töne zu immer komplexeren hierarchisch strukturierten Sequenzen zusammensetzen.

Bestimmte Verknüpfungen, die solche Einzelelemente miteinander verbinden, bezeichnen Forscher als Abhängigkeiten. Dabei stellen sogenannte nicht-lokale Abhängigkeiten eine logische Verbindung zwischen zwei Elementen her, die nicht direkt nebeneinander liegen. In der Popmusik steht zum Beispiel die zweite Strophe nach dem Refrain in nicht-lokaler Abhängigkeit zur ersten Strophe.

Pendant zum Broca-Areal?

Vincent Cheung vom Max-Planck-Institut für Kognitions- und Neurowissenschaften in Leipzig und seine Kollegen haben nun untersucht, wie das Gehirn solche grammatikalischen Muster von Musik verarbeitet. Für Sprache ist bereits bekannt, dass das sogenannte Broca-Areal in der linken Hälfte des Gyrus frontalis inferior (IFG) eine wichtige Rolle dabei spielt. Es wird unter anderem dann aktiv, wenn wir Verstöße gegen unser gelerntes Grammatiksystem bemerken.

Die Wissenschaftler vermuteten, dass es ein musikspezifisches Pendant zum Broca-Areal in der rechten Hirnhälfte geben könnte. Denn Studien zeigen: Hören wir zum Beispiel Akkordfolgen, die nicht mit der uns vertrauten, westlichen Harmonik übereinstimmen, wird der rechte Bereich im IFG aktiv.

Musikalischer Grammatiktest

Um dieses Phänomen genauer zu erforschen, lud das Team Musiker zum Musikhören ein. Das Besondere: Die vorgespielten Kompositionen waren speziell für wissenschaftliche Zwecke entwickelt worden und hatten wenig mit der uns vertrauten Musik zu tun. Entscheidend war dabei, dass darunter Sequenzen waren, die einer vorgegebenen musikalischen Grammatik folgten, als auch solche ohne diese Vorgaben.


Links das Broca-Areal, rechts sein Pendant: Dieser Bereich wird aktiv (rot), wenn die grammatikalischen Regeln von Musik verletzt werden. Die blauen Bereichen markieren das Arbeitsgedächtnis.
Im Experiment sollten die Probanden die von den Forschern verwendeten Strukturregeln erkennen und verinnerlichen. Mit dieser neuen Grammatik im Kopf galt es dann zu entscheiden, ob es sich bei einem Stück um grammatikalisch "richtige" oder "falsche" Abfolgen handelte. Mithilfe der funktionellen Magnetresonanz-Tomografie (fMRT) beobachteten Cheung und seine Kollegen, welche Hirnareale dabei aktiv waren.

Aktivität bei verletzten Regeln

Das Ergebnis: Tatsächlich zeigte sich der rechte Bereich des IFG bei grammatikalisch falschen Sequenzen aktiver als bei richtigen. Interessanterweise konnten die Teilnehmer umso besser einordnen, ob die Strukturregeln der Musik verletzt wurden, je stärker bei ihnen die funktionellen Verknüpfungen zwischen dieser Region und dem Arbeitsgedächtnis ausgeprägt waren.

Wie die Forscher berichten, wurde das Arbeitsgedächtnis vor allem dann aktiver, wenn die grammatikalischen Strukturen der Komposition länger und komplizierter wurden. Das könnte ihnen zufolge darauf hindeuten, dass komplizierte Grammatik verarbeitet wird, indem Informationen aus dem Arbeitsgedächtnis mit dem rechten Pendant des Broca-Areals verknüpft werden.

Mit diesen Erkenntnissen scheint nun klar: Anders als die grammatikalische Syntax von Sprache verarbeitet unser Gehirn musikalische Grammatik vor allem im rechten IFG. Diese Region erfüllt ähnliche Aufgaben wie das Sprachzentrum - jedoch für Musik. "Unsere Studie belegt die Bedeutung des rechten IFGs für die Verarbeitung nicht lokaler-Abhängigkeiten in Musik", schließt das Team. (Scientific Reports, 2018; doi: 10.1038/s41598-018-22144-9)
(Max-Planck-Institut für Kognitions- und Neurowissenschaften, 14.03.2018 - DAL)

Dienstag, 13. März 2018

Einige neuere Landsschaftsbilder.

Amanda Kavanagh 


Ambera Wellmann 


Benoît Trimborn


Benoît Trimborn, Paysage d'été XVI, 2014


Casey Klahn


Chrissy Norman


Dirk Baksteen 


Kim Casebeer


Eeva Karhu


Helen Booth


David Sharpe 


Fred Cuming  


Fred Cuming  


Gayle Bard 


Curt Butler


Frank Auerbach


George Carlson 

Gerhard Richter  

Kai Savelsberg 

 Fred Cuming

Fred Cuming  
Gleb Savinov Jukki

Es gibt mehr Maler, die von ihrer Kunst zu leben versuchen, als man denkt. Und weil Landschaft immer geht, gibt es daher mehr Landschaftsmaler als man denkt. Wie gelegentlich schon erwähnt, gibt es kaum ein Sujet, das so - einerseits - zum Kitsch und - andererseits - zur Manieriertheit verführt, wie die Landschaft. Und wenn man darauf angewiesen ist, seine Sachen zu verkaufen, verfällt man leicht in - Kitsch und Manieriertheit.

Das heißt aber nicht, dass die Arrivierten, von denen Sie oben auch ein paar Stücke sehen, dagegen gefeit wären.

Doch wenn man's um beide Klippen herum schafft, ist die Landschaft zu einer Zeit, wo alles schonmal dagewesen ist, das Sujet der Wahl, bei dem man nicht altmeisterlich werden muss, weil es jede formale Freiheit erlaubt, die dem Künstler in den Fingern juckt bis hin zur völligen Abstraktion, wo man nicht mehr erkennt, was es darstellen soll. Man darf nur nicht originell sein wollen... 

Wenn man aber beide Klippen nicht umschiffen kann oder will, sieht es manchmal so aus:



Louise Balaam

15. 5. 16 

Samstag, 10. März 2018

Und sowas nennst du Rokkoko?

Jan Ekels, A writer trimming his pens, 1784

Rokkoko bezeichnet eine ganze Epoche. Der Name stammt allerdings von einem eleganten Zierat, das typisch war für ihren Geschmack - der rocaille. Ein bisschen geziert und ein bisschen schräg und vor allem graziös war zuerst die Baukunst, aber gleich damit einhergehend die Malerei.

Siehe oben? Es ist zugleich die erste Epoche, in der sich Maler nicht nur individuell, sondern regelrecht als Strömung dem herrschenden Geschmack widersetzten, siehe oben!

Und so ist auch der karge Chardin, ist sein Gefolgsmann Liotard ein Rokkokomaler.  

In seiner Ambivalenz wurde das Rokkoko zugleich zum Wegbereiter der (deutschen?) Romantik, und das nicht nur in der Landschaftsmalerei - siehe unten: Das Bild könnte man genausogut dem Dresdner Umkreis von C. D. Friedrich zuordnen...


Es ist freilich dasselbe wie oben - nur in besserer Reproduktion.





Freitag, 9. März 2018

Wird Homo ludens den Homo faber unterkriegen?



Der Mensch sei nur da wirklich Mensch, wo er spielt, schrieb Friedrich Schiller an der Wende zum neunzehnten Jahr- hundert. Da war selbst in England die industrielle Revolution erst noch in ihren Anfängen. Und unter Spiel verstand der Dichter immerhin eine recht ernste Sache, nämlich im eminentesten Sinn die Kunst . Der Kulturhi- storiker Johan Huizinga sollte den Gedanken später in die Formel “homo ludens” fassen.
 

Zwar, schon im Mittelalter hatte es geheißen: “ora et labora”, aber das war nur für die Mönchsorden gedacht. Für den einfachen Mann war Feiern und Faulenzen eine völlig ehrbare Sache. Mit all seinen Heiligenfesten neben dreiundfünfzig Sonntagen hatte das katholische Jahr mehr Feierabende als Werktage. Erst nach Schillers Tod, und in Deutschland erst eine Generation danach, sollte das radikal anders werden. “Arbeit ist der Sinn des Lebens” und “Wer nix arbeitet, soll auch nix essen” lautet die imperative Moral des industriellen Zeitalters. Des Menschen Leben findet seine Bestimmung als Anhängsel zur Maschine. Homo faber als Arbeitnehmer. 
 
Zweihundert Jahre nach Schiller hören wir allenthalben: Die Industriegesellschaft geht zu Ende, und mit ihr all ihre moralischen und kulturellen Maßstäbe. Zwar wird noch immer viel Geld verdient, und noch immer in höchst ungleicher Verteilung. Doch mit den Performances der Unterhaltungskunst wird schon ebenso viel Umsatz gemacht wie mit der Montage von Autos. Und es wird noch mehr! Die IT-Branche ist und bleibt der gewaltige Wachstumssektor, und sein Schrittmacher ist die Unterhaltungselektronik. Was wird uns in der Zukunft die Arbeit als Sinn und Zweck der Welt ersetzen? “Das Wissen”? Wessen Wissen, und wovon? Oder gar “die Medien” selber?
Wir wissen nur so viel: Das emsige Nach-Machen, das geduldige Vervielfältigen, das Re-Produzieren wird es nicht länger sein. Erfinden, Entwerfen, Projizieren wird in ungeahntem Ausmaß die wirtschaftlichen Aktivitäten bestimmen – sofern man sie denn “wirtschaftlich” überhaupt noch nennen kann. Also doch eher ein Spiel? Wird Homo ludens den Homo faber besiegen?
 
Arbeit und Spiel und Kunst

Arbeit und Spiel unterscheiden sich nicht in technologischer, nicht in ‚ergonomischer’ Hinsicht. Ist Arbeit das, was Mühe -, und Spiel das, was Spaß macht? Je tiefer das Kind im Spiel versinkt und ‚sich vergisst’, umso mehr Energie verbraucht es – und schwitzt. Manchem macht seine Arbeit – manchmal – Spaß. Warum aber so selten? Nicht, weil er schwitzt, sondern weil er sie nicht gewählt hat: Ein andrer hat sie ihm übergeholfen.

Da kommen wir der Sache schon näher. Arbeit erscheint umso mühseliger, macht umso weniger Spaß, je mehr sie einem fremden Zweck unterliegt. Arbeit ist gebundenes Tun nach vorgegebenem Zweck. Spiel ist freies Tun ohne Zweck; oder: nach einem Zweck, der „sich findet“ – in dem, mit dem, durch das Spiel.

Nur mit der Schönheit solle der Mensch spielen, sagt Schiller; und mit der Schönheit solle er nur spielen.

Denn das haben Kunst und Spiel gemeinsam: eine Sache um ihrer selbst willen tun. Arbeit ist eine Tätigkeit, die um eines Andern, nämlich eines Zweckes willen geschieht. Der Zweck ist ihr Was, die Unbotmäßigkeit des toten Stoffs bestimmt das Wie: An der Sicherheit, mit der sie den Stoff dem Zweck anverwandelt, misst sich ihre Qualität. Und wenn es möglich wird, die Tätigkeit zu ersparen und ihre Qualität den Maschinen einzubauen, umso besser. Industriearbeit, Lohnarbeit ist die „reine“ Form der Arbeit. Nicht logisch, aber historisch, und darauf kommt’s an. Sie ist die Art von Tätigkeit, die gesellschaftlich gilt – qua Tauschwert, denn der ist der allgemeinste Zweck.

Spiel dagegen wird „um seiner selbst willen“ getan. Aber was bedeutet das? Dass es „befriedigt“? Dann wäre die Befriedigung Zweck, nicht die Tätigkeit, und wir würden uns im Kreise drehn. Das Eigentümliche am Spiel ist aber, dass vorher nicht feststeht, ob es befriedigen wird oder enttäuschen. Das Eigentümliche am Spiel ist sein offener Ausgang. Dass es also keinen Zweck hat. Es werden Folgen eintreten, wie bei allem, was man tut. Aber man weiß nicht, welche. Man kann sie nicht „bedenken“. Man mag sie erahnen oder erhoffen, aber man muss es wohl drauf ankommen lassen… Spiel ist Risiko, und das Risiko ist sein Zweck. Es lebt vom Zauber des Unbestimmten. Arbeit dagegen will Bestimmtheit.

Ein Werden und Vergehen, ein Bauen und
Zerstören in ewig gleicher Unschuld hat in
dieser Welt allein das Spiel des Künstlers
und des Kindes. 
Nietzsche 

Die Unbestimmtheit der Zwecke – dass man erst sehen wird, was es werden soll, wenn es etwas geworden ist -, das macht Kunst zum Spiel. Die Künstler der Vergangenheit waren sich ihrer Zwecke freilich sicherer als die heutigen. Sie wussten sich beauftragt. Zuerst von geistlichen, dann von immer weltlicheren Mächten. Erst als der Markt die Künstler vom Geheiß der Auftraggeber befreit und ihre Existenz aber auch unsicher gemacht hatte, wurde der Ausgang der künstlerischen Tätigkeit offen. Kunst trat in einen polemischen Gegensatz zur Bürgerlichkeit – d. h. zur Arbeit. Der Künstler wurde vor die Tür gesetzt und lebt seither in einem Reich des Ungewissen. Wie die Kinder. Nur am Sonntag ließ man ihn in die gute Stube: wie die Kinder. In ihnen beiden hat unser Gattungsstil überlebt, als Residuum. Der Vergleich von Kunst und Kindheit ist mehr als eine Metapher. Denn ist der Künstler immer ein bisschen wie ein Kind, so ist das Kind, mit Maurice Ravel zu reden, „von Natur künstlich“.

Der Erwachsene veraltet

In der Industrieproduktion selbst wird heute das Erfinden von Neuem wichtiger als die Reproduktion vorgegebener Zweckformen. Die Tugenden der Arbeitskultur – berechnen, assimilieren, saldieren – werden entwertet. Wenn der Arbeitsprozess streckenweise selbst den Charakter von Spiel annimmt, dann wird „Chaosqualifika- tion“ funktioneller als Bestimmtheit; vielleicht das Kernproblem am Standort Deutschland, wo man jetzt Inder braucht, weil man die Kinder zu viel lernen lässt. Die elektronischen Informationssysteme machen es sinnfällig: Wer sich ins Internet einklinkt, spielt mehr als dass er arbeitet; er surft. Funktionalität nimmt selbst den Charakter von Unbestimmtheit an. Rationalität, die unsere
Zivilisiertheit ausmachte, gerät außer Kurs. 

Und mit der Arbeit schwindet auch die Arbeit der Kinder: das Lernen. Cyberworld hält Einzug nicht erst ins Arbeitsleben, sondern schon in die Klassenzimmer – und alles, was sich überhaupt „lernen“ lässt, lernt früher oder später auch der Computer. Beim Informations- management hat er den Menschen weit überholt. Will der ihn dennoch beherrschen, muss er sich nicht länger zum Spezialisten bilden, sondern zum Fachmann fürs Allgemeine – mit dem freien Willen als seinem „Betriebssystem“. Selbst der Haupteinwand der Romantik gegen die bürgerliche Lebensweise, die Vereinseitigung der Menschen durch die Wahl ihres Berufs, fällt nun nicht mehr ins Gewicht. Im Zeichen von „lebenslangem Lernen“ wird die spezifische Arbeit der Kinder zu einer unspezifischen Tätigkeit von Allen, und die Erwachsenheit veraltet. Zugleich hört Kindlichkeit auf, ein Residuum zu sein, und verbreitet sich vom Souterrain aus über die anderen Etagen – bis in den bürgerlichen Alltag. Die Hürde fällt hin. (Allerdings geht es jetzt auch in der guten Stube nicht mehr so feierlich zu.) Das selbst gemachte Wirkungsgefüge der Arbeitsgesellschaft lockert sich, das Wertgesetz schwindet. Es sieht gar aus, als kehrten wir zu unserm Ursprung zurück.


15. 10. 2008