Freitag, 31. August 2018

Eine Physik der Bilder.

aus FAZ.NET, 29. 8. 2018
Die Bilder des Pop-Art Künstlers Eduardo Paolozzi, die Anfang dieses Jahres in der Berlinischen Gallerie zu sehen waren, sind im kunsthistorischen Spektrum bei mittlerer Entropie und Komplexität anzusiedeln

Kann man Kunstgeschichte berechnen?
Das historische Verständnis der Malerei mag kompliziert erscheinen. Dabei kann man als Physiker die gesamte Kunstgeschichte anhand von nur zwei Zahlen verstehen. Eine Glosse.
  
Von Sibylle Anderl

Dass Naturwissenschaftler unter einem Ordnungstick leiden, kann als Antrieb für den wissenschaftlichen Fortschritt gelten. Denn obgleich die Welt uns oft als schreckliches Chaos erscheint, fügt sie sich doch glücklicherweise mit etwas Mühe in die geregelten Bahnen mathematisch beschreibbarer, allgemeiner Zusammenhänge. Ein bisschen Sortierarbeit, ein bisschen Interpretation, dann wird sich schon schnell offenbaren, welche tieferen Prinzipien sich hinter der vermeint- lichen Unordnung verstecken! Der unerschütterliche Glaube an den Erfolg der Methode scheint heute stärker denn je und macht auch nicht vor Gebieten halt, die naturwissenschaftlichen Betrachtungsweisen bislang eher fremd waren: In digita- lisierter Form kann man schließlich auch Dinge sortieren, die sich bislang quantitativen Methoden zu entziehen suchten.

Kunstwerke zum Beispiel. Die Physiker Higor Sigaki, Matjaž Perc und Haroldo Ribeiro haben sich in einer aktuellen „PNAS“-Studie 140 000 Gemälde von mehr als 2300 Künstlern aus dem Zeitraum zwischen 1031 und 2016 vorgenom- men, diese jeweils in kleine Gruppen von Pixeln zerlegt und dann deren Entropie und Komplexität bestimmt. Erstere beschreibt den Ordnungsgrad des Bildes: Ein Wert nahe 1 beschreibt eine zufällige Verteilung der Pixel, ein Wert bei null markiert wiederkehrende Muster. Letztere bezeichnet das Vorliegen von Strukturen: Sowohl völlige Ordnung als auch völlige Unordnung entsprechen einer geringen Komplexität des Bildes. Wenn man der Methode der Naturwissenschaftler folgt, wird demnach jedes Gemälde auf zwei Zahlenwerte reduziert und kann bequem mit anderen Gemälden verglichen werden.
„La Tour Eiffel“ von Georges Seurat in der Kunsthalle Schirn in Frankfurt am Main: Werke des Pointillismus bestechen durch weiche Kanten und wenig Ordnung.„La Tour Eiffel“ von Georges Seurat in der Kunsthalle Schirn in Frankfurt am Main: Werke des Pointillismus bestechen durch weiche Kanten und wenig Ordnung.
Nicht nur das: Die gesamte Kunstgeschichte wird dadurch als ebene Linie interpretierbar. Gemäß dieser Linie ist die Kunst bis zum 17. Jahrhundert im Durchschnitt sehr viel geordneter als die nachfolgende moderne Kunst bis zur Mitte des 20. Jahrhunderts. Ab 1950 wenden sich die Künstler der Gegenwartskunst dann aber wieder der Ordnung zu und übertreffen damit sogar ihre Vorgänger der Renaissance, des Neoklassizismus oder der Romantik. Auch in Hinsicht auf Komplexität ist in der Gegenwartskunst, die vor klaren Kanten nicht zurückschreckt, deutlich mehr zu holen als etwa in den verwaschenen Bildern des Impressionismus. „Jede Kunstperiode ist durch einen bestimmten Grad von Entropie und Komplexität ausgezeichnet“, so das Fazit der Wissenschaftler. Da freut sich jeder Zahlenfreund.

Noch glücklicher wäre man jedoch, wenn sich auch noch ein allgemeines Gesetz fände, das uns die historische Entwick- lung der Kunststile erklären kann. Den Autoren des Papers schwebt etwas vor, wie es qualitativ bereits vor rund hundert Jahren vom Schweizer Kunsthistoriker Heinrich Wölfflin formuliert wurde: die Kunstgeschichte als zyklische Bewegung zwischen linearen und malerischen Darstellungsperioden. Die vorgestellte Entropie-Komplexitäts-Kurve könne solch eine Entwicklung projiziert abbilden, so die Autoren. Wenn man sich die Kurve anschaut, muss man allerdings feststellen: Schön ist sie nicht. Zyklisch auch nicht. Als Naturwissenschaftler hat man da eigentlich höhere Standards. Und muss wohl eingestehen: Kunst ist und bleibt im Kern unordentlich.


Nota. - Eine Betrachtung von Kunstepochen und Kunstrichtung nach dem Kriterium von Ordnung und Unordnung, gerin- ger oder großer Komplexität ist gar nicht unsinnig. Immerhin sind es Kriterien, die keinen unmittelbaren Zusammenhang mit sachlich-thematischen Gesichtspunkten haben; aber einen mittelbaren womöglich doch? Wobei man freilich zu be- denken hat, dass Ordnung und Unordnung im physikalischen Sinn - nämlich im Sinn derThermodynamik - fast das Ge- genteil bedeuten wie im Alltagsverstand. Dass "im Mittel" die mittlere Komplexität den Standard ausmacht, ist als Infor- mation nicht neu; also keine. Interessant ist dagegen der Grad der Abweichung bei den Einen und den Andern. Da mag man sich hier und da fragen, ob rein ästhetische Gegebenheiten unter diesen oder jenen historisch gegebenen subjektiven Bedingungen womöglich über das Reinästhetische hinaus weisen.

Doch quantifizieren lässt sich immer nur nach vorab festgelegten Begriffen. Und da macht geordnet und ungeordnet eben den Unterschied von Ordentlich und Unordentlich aus. Auch Wölfflins ästhetische Kategorien, die, grob gesagt, zwi- schen klassizistisch und expressiv unterscheiden, sind meta-ästhetisch; oder hypo-ästetisch, wenn man will. Das logische Problem ist abere immer, dass die Begriffe, nach denen quantifiziert wird, in aller Regel selber schon außerästhetisch wertend eingefärbt sind.

Wir sehen es am zweiten angeführten Bildbeispielen deutllich. "Weiche Kanten und wenig Ordnung" heißte es da. Tat- sächlich ist kein zweiter Maler so 'anästhetisch' schematisierend vorgegangen wie Seurat. In pedantischer Fleißarbeit hat er seine malerischen Entwürfe in präzise Punkte aufgelöst und nicht gezögert, seinen Impressionismus einen wissen- schaftlichen zu nennen, was der unbefangene Laie für ein Paradox hält.

Es hat wohl die Anwendung quantifizierender Methoden auf die bildende Kunst einen Sinn. Aber nur, wenn sie nicht von Physikern angewendet werden; sondern von Ästhetikern, die wissen, dass im ästhetischen Bereich nicht Begriffe, son- dern Anschauungen angezeigt sind. Wie aufgrund derer aber abgegrenzt und sortiert werden soll, wäre selber ein künst- lerisches Problem.
JE

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