Mittwoch, 2. März 2016

Wiener Avantgarden - um 1900 und in den Sechzigern.



aus Die Presse, Wien, 3. 3. 2016                                                                Kokoschka, Sillleben mit Hamel und Hyanzinthe, 1910
                                       
Brüder im Geist.
Endlich eine wesentliche Ausstellung für das Verständnis der Wiener Kunstgeschichte: Ab Freitag werden im Mumok erstmals die vielen Querverbindungen zwischen Wiener Moderne um 1900 und Wiener Aktionismus aufgezeigt.

von Almuth Spiegler

Natürlich lag diese Ausstellung seit Jahrzehnten quasi auf der Hand. Natürlich ist die Verbindung zwischen Schiele, Klimt, Kokoschka und den Wiener Aktionisten so direkt wie eindeutig. Natürlich wurde das auch immer wieder angedeutet, vor allem im Leopold-Museum. Doch niemand hat die große Ausstellung dazu gemacht. In New York, in Paris, in Frankfurt, international jedenfalls und groß hätte sie platziert werden müssen. Sie hätte Österreichs Kunstgeschichte für viele verständlicher, für die ganze Kunstgeschichte essenzieller gemacht: Sie hätte die wahnwitzigen Neuerungen des Wiener Frühexpressionismus aus der Ecke dekorativer Auktionsware geholt. Und dem als Skandalkunst stigmatisierten Aktionismus einen für viele überraschenden „seriösen“ historischen Hintergrund gegeben.

Die Kunst als Religion: Kokoschka inszenierte sich schon als neuer Christus, Nitsch erfand sich gleich sein eigenes Mysterium – überall Blut und Wunden.


















Kokoschka, links; Nitsch, rechts.

Jetzt also findet diese Ausstellung im Wiener Mumok statt, bisher ohne weitere Stationen im Ausland, ohne Kooperationen mit Nachbarhäusern wie dem Leopold-Museum, das zumindest regional für weitere Sichtbarkeit gesorgt hätte. Sie ist trotzdem teils so stark geworden, dass man weinen möchte. Wenn der Blick wandert zwischen Richard Gerstls nacktem Selbstporträt und den nackten Selbstinszenierungen von Günter Brus und Rudolf Schwarzkogler, vom Stillleben mit gehäutetem Hammel Kokoschkas zu den Materialbildern von Otto Mühl und dem Mysterien-Theater von Hermann Nitsch. Richtig sentimental kann man hier werden, umgeben von all dem, was die moderne und neuere Wiener Kunstgeschichte zu den intensivsten und bedeutendsten künstlerischen Entwicklungen weltweit macht. Endlich dieser Zusammenhang im Umgang mit „Körper, Psyche und Tabu“, wie die Schau richtig heißt.


Brus, Hommage à Schiele, 1965

Wien, das Eldorado der Körperkunst

Die Kuratorin ist immerhin die große Spezialistin für den Wiener Aktionismus, Eva Badura-Triska, die im Museum mittlerweile, ein paar Ankäufe und viele Schenkungen später, die weltgrößte Aktionismus-Sammlung betreut. Mit Leihgaben aus dem Belvedere, dem Leopold-Museum und dem Theatermuseum konnte sie jetzt wohl auch einen Traum der (noch lebenden) Aktionisten selbst verwirklichen. Denn mit ihrer Bewunderung für Kokoschka, Gerstl, Schiele und Klimt haben zumindest Günter Brus und Hermann Nitsch nie hinter dem Berg gehalten. Sie schlossen direkt an diese frühe Körperkunst an. 


Schiele, Umarmung, 1917

Denn, so Baduras erste These, die frühe Wiener Moderne war Vorläufer der späteren Bodyart, sogar der Performancekunst mit den exzentrischen Selbstinszenierungen Schieles und Kokoschkas für Fotografen. Warum aber entstanden gerade in Wien um 1900 und um 1960 derart bahnbrechende radikale Kunstformen rund ums Menschsein, um Psyche und Körper? „Es waren zwei ausgeprägte Kulturen des Verdrängens“, so lautet Baduras zweite These. Tabus waren daher ebenfalls recht ausgeprägt, für Künstler die besten Voraussetzungen. Um 1900 etwa ging's bergab, das wusste man, aber man reagierte nicht. Um 1960 ging's (wirtschaftlich) bergauf, aber man ignorierte einfach die Vergangenheit.


Brus, Selbstbemalung, Selbstverstümmelung, 1965

Nitsch, Brus, Schwarzkogler und Mühl taten das nicht, sie bezogen sich teils direkt auf die Vergangenheit, auf ihre Vorbilder, etwa in Brus' Doppelzeichnung „Hommage an Schiele“. Nitschs Malerhemd sah nicht zufällig aus wie das Reformgewand von Klimt. Und Mühl malte nicht zufällig die Familie Schönberg nach Gerstl – die beiden Bilder hängen jetzt in der gefinkelten Ausstellungsarchitektur in einer Blickachse.


Mühl, Materialaktion n° 9, 1964

Die unidealisierte Darstellung von Sexualität in vielerlei Konstellationen ist ebenfalls bei Schiele und Klimt zu finden, genau wie die Faszination von Geburt und Schwangerschaft – eine großartige Konstellation zeigt Schieles „Tote Mutter“ mit dem wie im Röntgenbild sichtbaren Embryo mit Mühls ähnlich morbider Nabelschnur-Aktion mit einer verschnürten, letztendlich in Plastik eingeschweißten Mutterfigur sowie Baby-Zeichnungen von Schiele und Klimt mit Aktions-Fotos mit Babys von Brus und Nitsch.


Klimt, 1899

So geht es weiter, eine Parallele nach der anderen wird gezogen – die Verbindung zur und der Einfluss von Musik, die Selbstdarstellungen als Märtyrer und Erlöser. Überhaupt der Zusammenhang von Kunst und Religion, die Flucht in die eigene Kunst als Ersatzreligion mit dem Maler als Guru ist spannend, könnte noch mehr in die Tiefe gehen, bis hin zu Vergleichen von Mühls Kommune mit den Lebensreform-Bewegungen um 1900. Auch der Hang zum Gesamtkunstwerk in beiden Avantgarden wäre noch ein Thema gewesen, das vielleicht fruchtbarer gewesen wäre als Baduras dritte These, nämlich dass Kokoschkas Theaterstück „Mörder, Hoffnung der Frauen“ eigentlich die erste Performance der Kunstgeschichte gewesen ist. Das erschließt sich zumindest nicht in der recht aufwendigen Präsentation.


Gerstl, Selbstbildnis mit Palette, 1908

Man hätte diesem Projekt mehr Platz, mehr Leihgaben, mehr Budget, mehr Kooperationen und einen internationalen Auftritt gewünscht. Lässt diese Ausstellung einen doch auch fragen, ob wir nicht wieder in einer solchen Zeit des Übergangs, des Bröckelns, der Verdrängung leben. Und welche Künstler jetzt für uns die Wunden aufreißen.

„Körper, Psyche und Tabu“, 4. März bis 16. Mai.


Nota. - Eine wesentliche Ausstellung war ja wohl das Mindeste, was man von der Präsentation einer der intensivsten und bedeutendsten künstlerischen Entwicklungen weltweit erwarten durfte. Doch das Lob der Berichterstatterin überzeugt mich nicht. Mir kommen die aufgezählten Parallelen wie an den Haaren herbeigezogen vor; so etwa die, dass in beiden Epochen beim Bildformat eine Vorliebe für das Rechteck zu finden war - das ist doch trivial! Wie auch die Feststellung, dass Wien noch heute wie vor hundert Jahren am Donaukanal und nicht an der Donau liegt. Das jedenfalls hat sich nicht geändert.
JE 



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