Dienstag, 26. Dezember 2017
Montag, 25. Dezember 2017
Yves Tanguy in der Sammlung Scharf-Gerstenberg.
aus Tagesspiegel.de, 25. 12. 2017 Untitled 1947. MoMA
Der Zauber struppiger Halme
Zwischen Traum und Wirklichkeit: Yves Tanguy fand im Surrealismus zu seiner Kunstsprache, aber der große Erfolg blieb aus. Nun entdeckt die Sammlung Scharf-Gerstenberg ihn neu.
von Nicola Kuhn
Für Heinz Joachim Kummer sah es an dem Tag im Sommer 1981 nicht gerade nach einem Erweckungserlebnis aus: das Wetter miserabel, mit der Freundin Stress. Aber dann stieß der angehende Jurist beim Besuch der „Westkunst“-Ausstellung in den Kölner Messehallen hinter einem Pfeiler auf ein Bild von Yves Tanguy, und ihn traf der Schlag. Das Gemälde hatte es dem 21-Jährigen angetan, warum kann er noch immer nicht genau erklären. Aber es entfachte eine wahre Leidenschaft für die Kunst des Surrealisten. Heute besitzt der Kölner Immobilienrechtler eine der umfangreichsten Sammlungen mit Werken des französischen Malers, die neben den Grafiken auch Bücher, Zeitschriften, Kataloge, Fotografien, Autografen und Artefakte umfasst, einen Baumpilz etwa, in den der Künstler eine Zeichnung ritzte.
Composition, 1935
Zu Tanguy als Sammlungsgegenstand passt ein solcher Gründungsmythos, denn ihm soll am Beginn seiner Künstlerkarriere Ähnliches widerfahren sein, eine lebensverändernde Begegnung mit einem Bild. Auf einer Busfahrt durch die Rue La Boétie in Paris war eher zufällig sein Blick auf ein metaphysisches Gemälde von de Chirico in einem Galerie-Schaufenster gefallen, woraufhin er seinen Stil radikal änderte. Hatte der Autodidakt zuvor, inspiriert von George Grosz, eher neusachlich gemalt, sich an Kubismus und Expressionismus ausprobiert, so wandelte er sich nun zum überzeugten Surrealisten und blieb es bis an sein Lebensende.
Dehors, 1929
Seine Malerei - ein kleiner weißer Rauch
Tanguy, der Bretone, wie ihn die Künstlerfreunde nannten, weil er zwar in Paris geboren war, der Heimat seiner Familie aber immer verbunden blieb, hatte mit dem Surrealismus seine ureigene Kunstsprache gefunden: amorph und gegenständlich zugleich. Bei seinen Landschaftsbildern weiß man nie, sind es Szenarien unter Wasser oder auf dem Trockenen. Die dargestellten Körper, Hügel, Hände, struppigen Halme könnten sich ebenso gut auf dem Meeresgrund wie an Land befinden, die bizarren Formationen der bretonischen Küste scheinen darin immer wieder auf.
I await you, 1934
Anders als Dalí, den es in die Öffentlichkeit drängte, anders als Miró, der durch die heitere Stimmung seiner Bilder populär wurde, als Max Ernst und Magritte, deren Motive immer eine klare Lesbarkeit besaßen, blieb Tanguys verschwiegenem Werk in Europa der ganz große Erfolg verwehrt. Das mag auch daran liegen, dass er nach 1945 nicht wie seine Surrealisten- Freunde aus dem amerikanischen Exil nach Paris zurückkehrte, wo sie als Wegbereiter einer rehabilitierten Moderne gefeiert wurden. Auch daran, dass er schon 1955 verstarb und nur rund 240 Gemälde hinterließ, die vor allem bei amerikanischen Sammlern begehrt waren. Auf die in einem Spiel reihum allen Surrealisten gestellte Frage „Was ist deine Malerei?“ antwortet Tanguy typisch ausweichend: „Ein kleiner weißer Rauch.“
So lässt sich Tanguy auch heute noch, über ein halbes Jahrhundert später entdecken. Die Sammlung Scharf-Gerstenberg, auf Surrealismus spezialisiert, stellt ihn nun aus. Im östlichen Stüler-Bau vis-à-vis vom Schloss Charlottenburg wird nun der Kölner Sammlerschatz gehoben, ein Künstlervermächtnis zutage befördert. Eine Surrealisten-Hochburg war Berlin, diese raue, realistische Stadt, nie. Zusammen mit der parallel im Kupferstichkabinett eröffneten Willi Baumeister-Retrospektive wird die Tanguy-Schau fast zur Kampagne für eine zwischen Traum und Wirklichkeit changierende Bilderwelt. Arbeiten von Wegbegleitern ergänzen die beiden monografischen Ausstellungen.
Rhabdomancie, 1947
Durch das fast 2000 Jahre alte Kalabscha-Tor, das vom einst hier residierenden Ägyptischen Museum zurückblieb, tritt der Besucher ein in diese Welt. Sie ist klein und fein, verästelt in viele Richtungen, sie lebt von den persönlichen Beziehungen. Die Surrealisten und ihr Vordenker André Breton waren ein geselliger Verein. Man traf sich zu Spielen, Publikationsprojekten, Ausstellungsvorbereitungen, Versammlungen, bei denen sich die eingeschworene Gemeinschaft gerne immer wieder fotografieren ließ. Unter dem Verdikt Bretons konnte es allerdings auch ungemütlich werden. Dalí schmiss er raus wegen Nähe zu den Faschisten, René Magritte ging freiwillig. Als es seine besten Freunde Jacques Prévert und Marcel Duhamel erwischte, mit denen Tanguy bis dahin in fröhlicher Wohngemeinschaft in Montparnasse lebte, blieb der Maler beim inner circle. Aus Spaß wurde Ernst.
Stay you must, 1927
Der Berliner Architekt Detlef Meyer Voggenreiter besorgte liebevoll die Ausstellungsgestaltung im Stüler-Bau. Die Bücher, Visitenkarten, Varietéprogramme, Fotografien hängen nicht nur an der Wand oder befinden sich klassisch in Vitrinen, sondern liegen unter Glasstürzen auf diversen Holztischen aus – alte, neue, runde, eckige, furnierte, grobe, gerade so wie es beim Sammler zu Hause aussehen könnte. Zu diesem Mix mag den Innenarchitekten auch der Künstler selbst inspiriert haben, der für die knapp fünf Jahre währende Montparnasse-WG die Möbel schuf und die Räume dekorierte.
Der Besucher mäandert auf diese Weise durch das Leben des trinkfreudigen Künstlers mit dem wild abstehenden Haar, der bei den Freunden den Spitznamen Ivre Tanguy (besoffener Tanguy) trug. Aufnahmen von gemeinsamen Ausflügen in die Bretagne, ins Dorf der Mutter im Finistère, zeigt die Truppe im Streifenshirt bei Späßen, Tanguy gab gerne den Clown. Die Fülle an Büchern, für die der Künstler Illustrationen lieferte, macht deutlich, dass der Surrealismus vornehmlich eine literarische Bewegung war. Ein Höhepunkt ist die Kooperation mit Benjamin Peret, in dessen Gedichtband „Dormir, dormir dans les pierres“ (Schlafen, schlafen in den Steinen) von 1927 Tanguys sonderbare spitzkegelige Berge und gerupften Bäume wie eine perfekte bildliche Umsetzung erscheinen. Seine sphärischen albtraumhaften Landschaften, auf deren freien Feld unvermittelt einzelne Gegenstände auftauchen, sollten später auch zum Signet von Dalí werden.
Roux en hiver, 1932
In Tanguys Wüsteneien konnten sich aber auch Liebesgrüße verstecken wie bei jener Postkarte, die er 1938 Picassos Lebensgefährtin Dora Maar als Morgenpost in einem kleinen blauen Umschlag schickte. Im gleichen Jahr lernte der Künstler die amerikanische Malerin Kay Sage kennen, mit deren Hilfe er 1939 als erster Surrealist in die USA emigrieren konnte. Seite an Seite unterhielt das Paar fortan in Connecticut ein Atelier. Seine letzten Bilder bevölkern merkwürdige Maschinisten, die spitzes Schreibgerät in ihren Händen halten, das Amorphe weicht hier harten Konturen.
Von den späteren Figurationen Willy Baumeisters, der während des Nationalsozialismus in Deutschland in die innere Emigration gegangen war, sind sie gar nicht so weit entfernt. Auf beiden Seiten des Atlantiks baute sich das Menschenbild wieder neu zusammen.
Sammlung Scharf-Gerstenberg, Schlossstr. 70, bis 8. 4., Di bis Fr 10 – 18 Uhr, Sa / So 11 – 18 Uhr
aus tip, 04.12.2017 Je suis venu comme j’avais promis, Adieu,1926
Yves Tanguy in der Sammlung Scharf-Gerstenberg
Die Sammlung Scharf-Gerstenberg gibt einen seltenen Einblick ins grafische Werk des Surrealisten Yves Tanguy
Alt ist er nicht geworden. Der Franzose Yves Tanguy, im Jahr 1900 in Paris geboren, starb wenige Tage nach seinem 55. Geburtstag. Durch das in die Höhe getrimmte Haupthaar wirkt der Künstler auch auf anderen Fotos, etwa von Man Ray, hellsichtig und abgedreht, stets zu einem Jux bereit.
Es ist überliefert, dass er mit Spinnen belegte Butterbrote aß – und seine eigenen Strümpfe, um dem Militärdienst zu entgehen. Vor einem Pariser Schaufenster hatte Tanguy der Legende nach sein Erweckungserlebnis. Dort sichtete er ein mysteriöses Gemälde Giorgio de Chiricos. Der Erfinder der „Pittura metafisica“ und Inspirator der Surrealisten animierte den 22-Jährigen zur Malerei.
Second Message III, 1930
Als 1924 das erste Manifest der Surrealisten-Bewegung um André Breton erschien, schloss sich der Autodidakt der Literaten-Gruppe an. Mit René Magritte, Salvador Dalí und seinem Freund Max Ernst pinselte Tanguy um die Wette. „Reiseleiter aus der Zeit der Misteldruiden“ nannten sie ihn – nach den ominösen Magiern. Sein Atelier in der Rue du Chateau gehörte zu den wichtigsten Künstlertreffs.
Dass er aus den Schatten der berühmten Kollegen nie herausgetreten ist, wird die Schau seiner Grafiken in der Sammlung Scharf-Gerstenberg nicht ändern. Aber vertrauter macht sie mit diesem spannenden Künstler, dessen verschlüsselte Bildwelten bis heute Rätsel aufgeben. Direktorin Kyllikki Zacharias glaubt, seine relative Unbekanntheit könne damit zu tun haben, dass er 1939 „in die USA emigrierte und amerikanischer Staatsbürger wurde“.
Untitled (Surreal Composition) 1940s-50s
Einen weiteren Grund vermutet Zacharias darin, dass seine der Abstraktion zugeneigten Bilder im Unterschied zu Dalí und Co viel „weniger verständlich“ seien. Kegelberge ragen aus dem Nichts, Fische fliegen durch die Luft. Tanguy vermittelt sogar die Ahnung einer künftigen Welt, „regiert von technoiden, an Transformer erinnernde Wesen“, wie sie uns heute, zumindest im Film, häufiger begegnen.
Alles andere als durchschaubar erscheinen diese geheimnisvollen grafischen Blätter (aus der Kölner Sammlung von Heinz Joachim Kummer). Schließlich folgte ihr Urheber ja auch dem Credo der Surrealisten, das Unbewusste zutage zu fördern und der Logik der Fantasie zu ihrem Recht zu verhelfen, um die Kunst durch neue Formen zu beleben. Auf die Frage, was seine Malerei sei, meinte Tanguy bescheiden: „ein kleiner weißer Rauch.“
The Doubter, 1937
Ergänzt werden die kleinen, hinreißenden Werke, Radierungen zumeist, um Zeichnungen, skulpturale Objekte, Publikationen, Dokumente und das Ölgemälde „Je suis venu comme j’avais promis, Adieu“ (1926) aus der Sammlung Scharf-Gerstenberg. So vermittelt der abwechslungsreiche Parcours durch den Surrealismus die Gratwanderung der Abstraktion, die Tanguy vollzieht. Seine organische Formensprache seltsam gewölbter, geometrischer oder weich fließender Körper in weiter Landschaft nimmt die Gestalten Dalís vorweg. Auch erinnern seine Figuren an die Wesen des Bildhauers Hans Arp und weisen voraus auf die amorphen Figurationen von WOLS. Vergleiche, die verdeutlichen, wie inspirierend Tanguy wirkte.
Im Reich der Misteldruiden. Das grafische Werk von Yves Tanguy Sammlung Scharf-Gerstenberg, Schlossstr. 70, Charlottenburg, Di – Fr 10 –18 Uhr, Sa+So 11–18 Uhr, Fr 8.12.– 8.4.2018
Multiplication of the Arcs 1954
Alt ist er nicht geworden. Der Franzose Yves Tanguy, im Jahr 1900 in Paris geboren, starb wenige Tage nach seinem 55. Geburtstag. Durch das in die Höhe getrimmte Haupthaar wirkt der Künstler auch auf anderen Fotos, etwa von Man Ray, hellsichtig und abgedreht, stets zu einem Jux bereit.
Es ist überliefert, dass er mit Spinnen belegte Butterbrote aß – und seine eigenen Strümpfe, um dem Militärdienst zu entgehen. Vor einem Pariser Schaufenster hatte Tanguy der Legende nach sein Erweckungserlebnis. Dort sichtete er ein mysteriöses Gemälde Giorgio de Chiricos. Der Erfinder der „Pittura metafisica“ und Inspirator der Surrealisten animierte den 22-Jährigen zur Malerei.
Second Message III, 1930
Als 1924 das erste Manifest der Surrealisten-Bewegung um André Breton erschien, schloss sich der Autodidakt der Literaten-Gruppe an. Mit René Magritte, Salvador Dalí und seinem Freund Max Ernst pinselte Tanguy um die Wette. „Reiseleiter aus der Zeit der Misteldruiden“ nannten sie ihn – nach den ominösen Magiern. Sein Atelier in der Rue du Chateau gehörte zu den wichtigsten Künstlertreffs.
Dass er aus den Schatten der berühmten Kollegen nie herausgetreten ist, wird die Schau seiner Grafiken in der Sammlung Scharf-Gerstenberg nicht ändern. Aber vertrauter macht sie mit diesem spannenden Künstler, dessen verschlüsselte Bildwelten bis heute Rätsel aufgeben. Direktorin Kyllikki Zacharias glaubt, seine relative Unbekanntheit könne damit zu tun haben, dass er 1939 „in die USA emigrierte und amerikanischer Staatsbürger wurde“.
Untitled (Surreal Composition) 1940s-50s
Einen weiteren Grund vermutet Zacharias darin, dass seine der Abstraktion zugeneigten Bilder im Unterschied zu Dalí und Co viel „weniger verständlich“ seien. Kegelberge ragen aus dem Nichts, Fische fliegen durch die Luft. Tanguy vermittelt sogar die Ahnung einer künftigen Welt, „regiert von technoiden, an Transformer erinnernde Wesen“, wie sie uns heute, zumindest im Film, häufiger begegnen.
Alles andere als durchschaubar erscheinen diese geheimnisvollen grafischen Blätter (aus der Kölner Sammlung von Heinz Joachim Kummer). Schließlich folgte ihr Urheber ja auch dem Credo der Surrealisten, das Unbewusste zutage zu fördern und der Logik der Fantasie zu ihrem Recht zu verhelfen, um die Kunst durch neue Formen zu beleben. Auf die Frage, was seine Malerei sei, meinte Tanguy bescheiden: „ein kleiner weißer Rauch.“
The Doubter, 1937
Ergänzt werden die kleinen, hinreißenden Werke, Radierungen zumeist, um Zeichnungen, skulpturale Objekte, Publikationen, Dokumente und das Ölgemälde „Je suis venu comme j’avais promis, Adieu“ (1926) aus der Sammlung Scharf-Gerstenberg. So vermittelt der abwechslungsreiche Parcours durch den Surrealismus die Gratwanderung der Abstraktion, die Tanguy vollzieht. Seine organische Formensprache seltsam gewölbter, geometrischer oder weich fließender Körper in weiter Landschaft nimmt die Gestalten Dalís vorweg. Auch erinnern seine Figuren an die Wesen des Bildhauers Hans Arp und weisen voraus auf die amorphen Figurationen von WOLS. Vergleiche, die verdeutlichen, wie inspirierend Tanguy wirkte.
Im Reich der Misteldruiden. Das grafische Werk von Yves Tanguy Sammlung Scharf-Gerstenberg, Schlossstr. 70, Charlottenburg, Di – Fr 10 –18 Uhr, Sa+So 11–18 Uhr, Fr 8.12.– 8.4.2018
Multiplication of the Arcs 1954
Nota. - Magritte habe ich immer platt und aufdringlich gefunden, aber von Dalí habe ich nie etwas verstanden. Allerdings glaube ich nicht, dass surrealistische Kunst dazu da ist, verstanden zu werden; so wenig wie andere Kunst auch. Tanguy hat diese Meinung augenscheinlich geteilt und ich muss mich dafür entschuldigen, dass ich ihn so lange übersehen habe. Aber das lässt sich wiedergutmachen.
JE
Montag, 18. Dezember 2017
Die Anfänge eines Kunstmarkts im Biedermeier.
aus Tagesspiegel.de, 17. 12. 2017
Geschichte des Berliner Kunsthandel
In
Berlin, da hat man seine Schwierigkeiten mit dem Markt, im Rheinland
wird das dagegen sehr viel unverkrampfter gesehen. Zumindest Pascal
Decker, Vorstand der Stiftung Brandenburger Tor,
ist davon überzeugt. Dabei gibt es für Scham keinen Grund, der moderne
Kunstmarkt wurde in Berlin geboren. Um diese Anfänge zu würdigen, den
Kunstmarkt kultiviert ins Gespräch zu bringen, haben Decker und sein
Co-Vorstand Peter Klaus Schuster, einst Generaldirektor der Staatlichen
Museen, eine neue Gesprächsreihe im Max-Liebermann-Haus gestartet, dem
Stiftungssitz. Das passt. Schließlich war der Maler selbst Akteur des
Marktes: als Sammler und Produzent. Kunsthändler der ersten Stunde
Mit Louis Sachse (1798–1877) war nun der perfekte Anfang gemacht und zugleich das 20-jährige Bestehen der Kulturstiftung der Berliner Sparkasse gebührend gefeiert. Der Berliner Lithograf, Daguerrotypist, Verleger ist Kunsthändler der ersten Stunde, ein Pionier. So lautet auch der Titel von Anna Ahrens’ Dissertation, die nun den Auftakt bestritt. Schwung aber bekam der Abend durch die aufs Podium hinzugebetenen Gäste: Stephanie Tasch, Dezernentin der Kulturstiftung der Länder, Ralph Gleis, Leiter der Alten Nationgalerie, und Bernhard Maaz, Generaldirektor der Bayerischen Staatsgemäldesammlungen, auch sie ausgewiesene Kenner des 19. Jahrhunderts.
Adolph Menzel, aus Künstlers Erdenwalten, Blatt 6, Lithographie, 1834
Wer heute an Berlins große Vergangenheit als Stadt des Kunsthandels denkt, der erinnert sich eher an die Zeit nach der Jahrhundertwende bis 1933, der denkt an Namen wie Cassirer, Flechtheim, Walden, Nierendorf, Gurlitt und Möller. Doch die Geschichte reicht sehr viel weiter zurück. Für die Anfänge steht die Ausnahmefigur Louis Sachse, der seine Karriere selbst zunächst ganz woanders sah. Als Sekretär Alexander von Humboldts auf Schloss Tegel hatte er eher eine Beamtenlaufbahn im Sinn.
Seine politischen Ansichten brachten ihn ins Gefängnis
Sein freiheitlicher Geist, die Mitgliedschaft in einer Burschenschaft, durchkreuzten diese Pläne. Sachse kam als junger Mann in Festungshaft und musste sich drei Jahre später nach seiner Entlassung nach Alternativen umsehen. Ein neues Feld eröffnete ihm schließlich die Lithografie, als künstlerisches Druckverfahren für Künstler kostengünstig und gerade schnell in Paris als neuartiges Medium entdeckt. Mit der Eröffnung eines lithografischen Instituts 1828 im Elternhaus, der Jägerstraße 30, etablierte Louis Sachse die moderne Technologie auch in Berlin und wurde schließlich 1835 richtig Galerist, indem er fortan Ausstellungen präsentierte. Sein Geschäft brachte all diese Merkmale schon mit, die später auch Cassirers, Gurlitts Tätigkeit prägen sollte: die Bezeichnung Kunstsalon, den Eintritt, um einen würdevollen Rahmen zu schaffen, dazu die künstlerische Förderung (bei Sachse waren dies Menzel und Blechen), die Freundschaft zu
Sammlern, die besondere Beziehung nach Paris.
Carl Blechen, Mühle bei Amalfi, Lithographie, 1830
Wie seine Nachfolger musste sich auch Sachse beschimpfen lassen, dass er französischen Malern einen Rahmen bot, die er seit 1834 aus Paris importierte. Während Ahrens als Grund den Neid der deutschen Maler sah, die auf die hohen Preise für die Kollegen eifersüchtig waren, verwies Bernhard Maaz auf den protektionistischen Hintergrund, den „Schutz des deutschen Kunstraumes gegen den Verfall in Frankreich“. Die antifranzösische Haltung sei immer schon ein „basso continuo“ des Kunstmarktes gewesen.
Sachse war einer der raren Orte, um aktuelle Kunst zu sehen
An Louis Sachse zeigt sich die rasante Entwicklung des Marktes. Waren es zuvor nur die alle zwei Jahre stattfindenden Akademieausstellungen, schließlich die Kunstvereine, in denen das Publikum Zeitgenössisches kennenlernte, so kam mit der Galerie ein neuer Player ins Spiel. Stefanie Tasch erinnerte daran, dass als weitere Akteure zeitgleich die Kunstkritik, die Wissenschaft die Bühne betraten.
Carl Blechen, Hirtenknabe, 1832
„Man müsste Furcht und Schrecken verbreiten“, erklärt Akademie-Rektor Gottfried Schadow noch im Jahre 1830, um die angehenden Maler vor der sicheren Armut zu bewahren. Die Geburtsstunde des Marktes stand bevor. Sachses unweit vom Gendarmenmarkt eröffnetes Geschäft war nur der Beginn. Mit den Galerien als weiterem Schauplatz für die Kunst, als Vermittlungsinstanz zwischen Machern und Käufern öffnete sich plötzlich ein neues Terrain. Wie hoch der Druck auf dem Kessel damals war, zeigt sich auch daran, dass bis in die 1870er Jahre hinein die Händler ihre Ware noch in Zweier- und Dreierreihen präsentierten. Maaz sprach hier von einer Vermassung von Kunst, den Grenzen des Konsumerablen.
Jacques Louis Daguerre
Gleichzeitig wurden einzelne Riesengemälde auf Tournee geschickt, das Publikum drängte sich, die gewaltigen Bilder, etwa Théodore Géricaults „Floß der Medusa“, zu sehen. „Der Hunger nach Bildern hat die Kunsthändler ins Geschäft gebracht“, so Ralph Gleis. Die Größen der damaligen Zeit sind inzwischen allerdings weitgehend vergessen. Arnold Böcklin, der heute an den Museumswänden hängt, rangierte bei Sachse damals noch im niedrigeren Preissegment. Zu gerne hätte man hier mehr gehört, von Parallelen womöglich in der Gegenwart. Doch das verboten sich die Diskutanten streng. Kunst kommt, Kunst geht, erklärte Kunsthistoriker Maaz leichthin: „Der Markt um 1830 wusste eben noch nicht, dass er gleich geboren wird.“
Géricault, Das Floß der Medusa
Louis Sachse war hier der Mann der Stunde, erster Promotor der Lithografie, Verleger von Adolf Menzel, Pionier auch auf dem Gebiet der Fotografie, die er mit Hilfe von Louis Daguerre in Berlin einführte. Das Biedermeier als Zeitalter der Beschaulichkeit – für Sachse gilt dies wahrlich nicht.
Anna Ahrens: Der Pionier – Wie Louis Sachse in Berlin den Kunstmarkt erfand. Böhlau Verlag, Wien 2017, 780 S., 100 €.
Geschichte des Berliner Kunsthandel
Druck auf dem Kessel
Wie in Berlin der Kunsthandel begann: Das Liebermann-Haus erinnert an den Pionier Louis Sachse.
von Nicola Kuhn
Mit Louis Sachse (1798–1877) war nun der perfekte Anfang gemacht und zugleich das 20-jährige Bestehen der Kulturstiftung der Berliner Sparkasse gebührend gefeiert. Der Berliner Lithograf, Daguerrotypist, Verleger ist Kunsthändler der ersten Stunde, ein Pionier. So lautet auch der Titel von Anna Ahrens’ Dissertation, die nun den Auftakt bestritt. Schwung aber bekam der Abend durch die aufs Podium hinzugebetenen Gäste: Stephanie Tasch, Dezernentin der Kulturstiftung der Länder, Ralph Gleis, Leiter der Alten Nationgalerie, und Bernhard Maaz, Generaldirektor der Bayerischen Staatsgemäldesammlungen, auch sie ausgewiesene Kenner des 19. Jahrhunderts.
Adolph Menzel, aus Künstlers Erdenwalten, Blatt 6, Lithographie, 1834
Wer heute an Berlins große Vergangenheit als Stadt des Kunsthandels denkt, der erinnert sich eher an die Zeit nach der Jahrhundertwende bis 1933, der denkt an Namen wie Cassirer, Flechtheim, Walden, Nierendorf, Gurlitt und Möller. Doch die Geschichte reicht sehr viel weiter zurück. Für die Anfänge steht die Ausnahmefigur Louis Sachse, der seine Karriere selbst zunächst ganz woanders sah. Als Sekretär Alexander von Humboldts auf Schloss Tegel hatte er eher eine Beamtenlaufbahn im Sinn.
Seine politischen Ansichten brachten ihn ins Gefängnis
Sein freiheitlicher Geist, die Mitgliedschaft in einer Burschenschaft, durchkreuzten diese Pläne. Sachse kam als junger Mann in Festungshaft und musste sich drei Jahre später nach seiner Entlassung nach Alternativen umsehen. Ein neues Feld eröffnete ihm schließlich die Lithografie, als künstlerisches Druckverfahren für Künstler kostengünstig und gerade schnell in Paris als neuartiges Medium entdeckt. Mit der Eröffnung eines lithografischen Instituts 1828 im Elternhaus, der Jägerstraße 30, etablierte Louis Sachse die moderne Technologie auch in Berlin und wurde schließlich 1835 richtig Galerist, indem er fortan Ausstellungen präsentierte. Sein Geschäft brachte all diese Merkmale schon mit, die später auch Cassirers, Gurlitts Tätigkeit prägen sollte: die Bezeichnung Kunstsalon, den Eintritt, um einen würdevollen Rahmen zu schaffen, dazu die künstlerische Förderung (bei Sachse waren dies Menzel und Blechen), die Freundschaft zu
Sammlern, die besondere Beziehung nach Paris.
Carl Blechen, Mühle bei Amalfi, Lithographie, 1830
Wie seine Nachfolger musste sich auch Sachse beschimpfen lassen, dass er französischen Malern einen Rahmen bot, die er seit 1834 aus Paris importierte. Während Ahrens als Grund den Neid der deutschen Maler sah, die auf die hohen Preise für die Kollegen eifersüchtig waren, verwies Bernhard Maaz auf den protektionistischen Hintergrund, den „Schutz des deutschen Kunstraumes gegen den Verfall in Frankreich“. Die antifranzösische Haltung sei immer schon ein „basso continuo“ des Kunstmarktes gewesen.
Sachse war einer der raren Orte, um aktuelle Kunst zu sehen
An Louis Sachse zeigt sich die rasante Entwicklung des Marktes. Waren es zuvor nur die alle zwei Jahre stattfindenden Akademieausstellungen, schließlich die Kunstvereine, in denen das Publikum Zeitgenössisches kennenlernte, so kam mit der Galerie ein neuer Player ins Spiel. Stefanie Tasch erinnerte daran, dass als weitere Akteure zeitgleich die Kunstkritik, die Wissenschaft die Bühne betraten.
Carl Blechen, Hirtenknabe, 1832
„Man müsste Furcht und Schrecken verbreiten“, erklärt Akademie-Rektor Gottfried Schadow noch im Jahre 1830, um die angehenden Maler vor der sicheren Armut zu bewahren. Die Geburtsstunde des Marktes stand bevor. Sachses unweit vom Gendarmenmarkt eröffnetes Geschäft war nur der Beginn. Mit den Galerien als weiterem Schauplatz für die Kunst, als Vermittlungsinstanz zwischen Machern und Käufern öffnete sich plötzlich ein neues Terrain. Wie hoch der Druck auf dem Kessel damals war, zeigt sich auch daran, dass bis in die 1870er Jahre hinein die Händler ihre Ware noch in Zweier- und Dreierreihen präsentierten. Maaz sprach hier von einer Vermassung von Kunst, den Grenzen des Konsumerablen.
Jacques Louis Daguerre
Gleichzeitig wurden einzelne Riesengemälde auf Tournee geschickt, das Publikum drängte sich, die gewaltigen Bilder, etwa Théodore Géricaults „Floß der Medusa“, zu sehen. „Der Hunger nach Bildern hat die Kunsthändler ins Geschäft gebracht“, so Ralph Gleis. Die Größen der damaligen Zeit sind inzwischen allerdings weitgehend vergessen. Arnold Böcklin, der heute an den Museumswänden hängt, rangierte bei Sachse damals noch im niedrigeren Preissegment. Zu gerne hätte man hier mehr gehört, von Parallelen womöglich in der Gegenwart. Doch das verboten sich die Diskutanten streng. Kunst kommt, Kunst geht, erklärte Kunsthistoriker Maaz leichthin: „Der Markt um 1830 wusste eben noch nicht, dass er gleich geboren wird.“
Géricault, Das Floß der Medusa
Louis Sachse war hier der Mann der Stunde, erster Promotor der Lithografie, Verleger von Adolf Menzel, Pionier auch auf dem Gebiet der Fotografie, die er mit Hilfe von Louis Daguerre in Berlin einführte. Das Biedermeier als Zeitalter der Beschaulichkeit – für Sachse gilt dies wahrlich nicht.
Anna Ahrens: Der Pionier – Wie Louis Sachse in Berlin den Kunstmarkt erfand. Böhlau Verlag, Wien 2017, 780 S., 100 €.
Montag, 11. Dezember 2017
Samstag, 9. Dezember 2017
Ist Gefühl der Stoff des Ästhetischen?
Schön traurig
Dr. Anna Husemann
04.12.2017 15:48
Negative Gefühle genießen – eine neue Studie zeigt, warum uns das in Film und Kunst gelingt.
Negative Gefühle genießen – eine neue Studie zeigt, warum uns das in Film und Kunst gelingt.
Warum schauen wir uns traurige Filme an? Was reizt uns an einem Kunstwerk, Theaterstück oder Musikstück, das uns Angst macht, uns zum Weinen bringt oder andere negative Emotionen in uns hervorruft? Forscher des Max-Planck-Instituts für empirische Ästhetik haben ein umfassendes psychologisches Erklärungsmodell für dieses scheinbar paradoxe Phänomen entwickelt.
Frankfurt – Die neuere Emotionspsychologie hat gezeigt, dass negative Gefühle besonders stark unsere Aufmerksamheit binden, besonders intensiv erlebt werden und besonders stark in Erinnerung bleiben. Max-Planck-Forscher um Winfried Menninghaus, den Direktor der Abteilung Sprache und Literatur am Max-Planck-Institut für empirische Ästhetik, haben diese Erkenntnisse auf eine Idee gebracht: Da die Künste ebenfalls Aufmerksamkeit binden, intensives Erleben ermöglichen und erinnert werden wollen, sind beide – die Künste und negative Gefühle – dann nicht füreinander prädestiniert?
Das in der renommierten Fachzeitschrift „Behavioral and Brain Sciences“ veröffentlichte psychologische Modell bejaht diese Frage. Es erklärt, warum Kunstwerke, die negative Emotionen hervorrufen, oft als intensiver, interessanter, emotional bewegender und weniger langweilig, ja sogar als schöner wahrgenommen werden können als ein reines Bad in positiven Gefühlen.
Das Modell enthält zwei Faktoren. Der erste Faktor war bereits gut untersucht: Wir ordnen die Wahrnehmung von Kunstwerken in eine andere Kategorie von Erlebnissen ein als die der alltäglichen Realität. Diese kognitive Distanzierung schafft eine Art Sicherheitsraum, in dem wir negative Emotionen erleben können.
Der zweite Faktor, das eigentliche Herzstück des neuen Modells, enthält auf dieser Grundlage mehrere Mechanismen, kraft deren negative Emotionen sogar positiv zur Kraftquelle intensiven Kunsterlebens werden können. Der erste wird aus der großen Bedeutung von Variation und Dynamik für ästhetisches Erleben abgeleitet: Künstlerische Kompositionen, die uns in Wechselspiele positiver und negativer Gefühle verwickeln, werden als abwechslungsreicher, spannender und interessanter wahrgenommen. Zudem haben gemischte Gefühle, die positive und negative Anteile enthalten, eine große Bedeutung für die Integration negativer Gefühle in die positive Betrachtungslust. So empfinden wir etwa tiefes emotionales Bewegtsein auch dann als positiv und lustvoll, wenn es traurige Gefühle enthält. Ebenso sind positiv erregende Gefühle von narrativer Spannung nicht ohne Gefühle von „Unsicherheit“, Sorge und Angst um Protagonisten zu haben.
Dazu kommt, dass auch die ästhetische Kraft der Darstellung selbst (z.B. die Schönheit der Musik, der Worte, der Sprache, Farben etc.) negative Emotionen sowohl intensiver als auch positiver erlebbar macht. Und schließlich kann die Suche nach einer Bedeutung ebenfalls in negativen Gefühlen etwas Positives entdecken.
Das scheinbare Paradox, warum negative Emotionen zur Lust an Kunstwerken gehören, wird also erklärt, indem neue Erkenntnisse der Emotionspsychologie mit grundlegenden Prinzipien ästhetischer Wahrnehmung zusammen gedacht werden. Die Ergebnisse zeigen nicht nur, warum bestimmte Kunstgattungen wie Tragödien, Horrorfilme oder Melodramen gefallen. Sie identifizieren vielmehr grundlegende psychologische Mechanismen, die der Wahrnehmung von Kunstwerken oder Medienprodukten überhaupt zugrundeliegen.
Originalpublikation:
Menninghaus, W., Wagner, V., Hanich, J., Wassiliwizky, E., Jacobsen, T., & Koelsch, S. (2017). The Distancing–Embracing model of the enjoyment of negativ
Nota. - Der erste systematische Fehler an dieser Untersuchung: Es wird ohne Begründung das Feld des Ästhe- tischen auf künstlerische Artefakte eingeschränkt. Das schiebt von vornherein die Bedeutungen in den Vorder- grund; denn was von Menschenhand gemacht ist, wurde zweifellos in einer Absicht gemacht, und vor aller Reflexion stellt sich die Frage ein: Was wollte er uns sagen?
Das ist auch bei Kunstwerken gewiss nicht das einzige, wonach eine ästhetische Betrachtung suchen könnte. Nichtmal die wichtigste, sagen manche, aber eben darüber lässt sich streiten; doch bei Kunstwerken immerhin eine berechtigte. Beim sogenannten Naturschönen wäre es aber ein dumme Frage, und darum ersetzt sie der naive Betrachter ganz unbefangen mit dem Erraten von "Gefühlen" - und die schiebt er dann rückwirkend in das Kunstschöne ein; und staunt, wenn der Trick auch mit dem Kunstscheußlichen funktioniert.
So auch hier. Das spezifisch Ästhetische am ästhetischen Erleben wird nicht erst in der Antwort, sondern schon in der Frage verfehlt. Das ist so plump, dass die Frage auftaucht, ob nicht das Institut selbst verfehlt ist.
PS. Bloß weil etwas, das in der Vorstellung vorkommt, in keinen Begriff passt, ist es noch lange kein Gefühl. Es könnte auch einfach eine Anschauung sein.
JE
Freitag, 8. Dezember 2017
Das Ästhetische an einem Gedicht.
Dalí
Bilder im Kopf – das
Geheimnis schöner Gedichte
Andrea Treber
Presse- und Öffentlichkeitsarbeit
Max-Planck-Institut für empirische Ästhetik
Max-Planck-Institut für empirische Ästhetik
05.12.2017 13:37
Eine neue Studie der New York University und des Max-Planck-Instituts für empirische Ästhetik zeigt, dass lebendige bildhafte Sprache die Attraktivität von Lyrik am stärksten beeinflusst. Die Ergebnisse verbessern unser Verständnis von ästhetischen Präferenzen im Allgemeinen.
Frankfurt - Die Wirkung poetischer Sprache wurde bislang vor allem anhand objektiver Kriterien wie Versmaß und Rhythmus gemessen. Zur ästhetischen Wahrnehmung gehört aber auch die subjektive Beurteilung. Wissenschaftler der New York University und des Max-Planck-Instituts für empirische Ästhetik haben nun am Beispiel von Gedichten subjektive Faktoren identifiziert, die unsere ästhetischen Präferenzen prägen. Das Ergebnis zeigt: Je stärker ein Gedicht lebhafte Sinnesbilder hervorruft, desto mehr gefällt es uns.
Mehr als 400 Teilnehmer bewerteten im Rahmen der Studie Gedichte der Gattungen Haiku und Sonett. Nach der Lektüre jedes Gedichtes gaben sie eine Beurteilung anhand von vier subjektiven Kriterien ab: Die Probanden stuften die Lebendigkeit der sprachlichen Bilder ein (zum Beispiel "wie ein sich ausbreitendes Feuer") und die Valenz, d.h. ob sie das Thema positiv oder negativ wahrnahmen. Zudem wurde ihre emotionale Erregung abgefragt sowie die ästhetische Anziehungskraft (wie sehr mag der Leser das Gedicht).
Edward Vessel, Wissenschaftler am Max-Planck-Institut für empirische Ästhetik, der die Studie gemeinsam mit Amy Belfi und Gabrielle Starr (New York University) durchführte, erklärt: "Wir vermuten, dass der Grund für den starken Einfluss der sprachlichen Bilder in ihrem Potential liegt, Bedeutung zu transportieren. Eine lebendige Sprache gibt dem Leser die Möglichkeit, Dinge durch seine Vorstellungskraft zu sehen, zu hören oder zu fühlen und so eine quasi-sinnliche Dimension zu erfahren." Der zweitstärkste Einflussfaktor für die ästhetische Anziehungskraft eines Gedichtes war eine positive Valenz. Der Grad der emotionalen Erregung hatte keinen starken Bezug zur empfundenen Attraktivität.
"Weil der Einfluss intensiver mentaler Bilder in unserer Studie so groß war, gehen wir davon aus, dass dieser Faktor auch unsere Präferenzen in anderen ästhetischen Genres beeinflussen kann", führt Vessel aus. Weitere Studien werden zeigen, inwieweit auch die Attraktivität beispielsweise von Musikstücken mit der Fähigkeit verbunden ist, Bilder in unseren Köpfen zu erzeugen.
Originalpublikation:
Belfi, A. M., Vessel, E. A., & Starr, G. G. (2017). Individual Ratings of Vividness Predict Aesthetic Appeal in Poetry. Psychology of Aesthetics, Creativity, and the Arts. Advance online publication. dx.doi.org/10.1037/aca0000153
Kontakt:
Edward Vessel (Co-Autor)
Tel.: +49 69 8300 479 327
edward.vessel@ae.mpg.de
Andrea Treber (Presse- und Öffentlichkeitsarbeit)
Tel.: +49 69 8300 479 652
presse@ae.mpg.de
Nota. - 'Zur ästhetischen Wahrnehmung gehört aber auch die subjektive Beurteilung': Das ist schön, so etwas zu lesen vonseiten eines Instituts für empirissche Ästhetik! Es ist nur nicht sicher, was sie unter 'ästhetischer Wahr- nehmung' verstehen wollen. Die subjektive Beurteilung allein wirds ja wohl nicht sein. Was also ist an einer Wahrnehmung ästhetisch?
Ich meinte (und meine) bis jetzt, eben dies, dass die keine 'Bedeutungen transportieren', sondern ohne dies 'ge- fallen'. "Ohne Interesse", heißt es bei Kant, und Interesse ist, was eine Bedeutung ausmacht. Da ist es heikel, beim Verstehen des Ästhetischen gerade bei der Wortkunst anzufangen. Denn welche Lautverbindungen nennen wir Wörter, wenn nicht solche, die eine Bedeutung bezeichnen (nicht "transportieren")?
Wenn nun der Bilderreichtum der Gedichte 'lebhafte Sinnbilder' hervorruft, muss es wohl daran liegen, dass er eine andere Bedeutung hervorruft, als die Wörter selber hatten. Das Ästhetische wäre dann nicht, dass sie 'Be- deutung transportieren', sondern dass sie Bedeutung verrätseln. Dass sie also Begriffe zu Bildern verflüssigen, und die sind naturgemäß vieldeutig. Dass sie schließlich 'Bedeutung' nicht "transportieren", sondern den Hörer oder Leser, der sie sich ausmalt, anhält, sie selber zu 'deuten'. Dass sie, kurz gesagt, den Hörer oder Leser zum Mitdichten verleiten.
Ob es zu dieser Erkenntnis der Experimente einer "empirischen Ästhetik" bedurft hätte?
JE
Dienstag, 5. Dezember 2017
Ein Portal für E.T.A. Hoffmann.
Gemütslage: exzentrisch
Die Staatsbibliothek zu Berlin widmet dem künstlerischen Tausendsassa E.T.A. Hoffmann ein Online-Portal.
von Gregor Dotzauer
Er ist alles andere als ein Vergessener – und doch ein hartnäckig Ungeliebter. E.T.A. Hoffmann gilt heute als verwegene Leidenschaft. Verglichen mit seinem Zeitgenossen Jean Paul, dem anderen romantischen Großironiker, ist er zweite Wahl, und dass Arno Schmidt, der Spezialist für sprachliche Sonderlinge, beide in hohen Ehren hielt, gehört zu den Empfehlungen eines untergegangenen Literaturzeitalters. Dabei wusste Hoffmann selbst, wie er andere verstören konnte. „Dass es zuweilen etwas exzentrisch in meinem Gehirnkasten zugeht, darüber freue ich mich eben nicht beim Besinnen“, schrieb er an seinen „trauten lieben einzigen Freund“, den preußischen Beamten, Aufklärer und Schriftsteller Theodor von Hippel. „Dies Exzentrische setzt mich offenbar herunter in den Augen aller, die um mich sind – und Leute, die alles in Nummern teilen und apothekerartig behandeln, möchten mir manchmal ihren orthodoxen Krummholz um den Hals werfen.“
Die Überspanntheit störte schon Jean Paul. Für Hoffmanns Debütband „Fantasiestücke in Callots Manier“ (1814), der auch das berühmte Schauermärchen „Der goldne Topf“ enthält, spendierte er auf Bitten des Verlegers noch eine Vorrede, in der es heißt: „In seiner dunkeln Kammer bewegen sich an den Wänden heftig und farbenecht die koketten Kleister- und Essigaale der Kunst gegeneinander und beschreiben schnalzend ihre Kreise. In rein ironischer und launiger Verkleinerung sind die ekeln Kunstliebeleien mit Künsten und Kunstliebhabern zugleich gemalt; der Umriss ist scharf, die Farben sind warm, und das Ganze voll Seele und Freiheit.“ Doch in den Folgejahren wuchs die Distanz beiderseits in Siebenmeilenschritten, und 1820 stellte Jean Paul unmissverständlich fest, Hoffmann sei „eine abwärts sinkende Sonne, die bei ihrem Aufgang kulminiert hat“.
Dem darf man getrost widersprechen, auch wenn sich nicht leugnen lässt, dass die Schatten, die E.T.A. Hoffmann (1776 – 1822) ins 21. Jahrhundert wirft, kürzer und kürzer werden. Rüdiger Safranski widmete dem „skeptischen Phantasten“ 1984 noch einmal eine schöne Biografie. In den Schulen stehen gerade noch die Kriminalnovelle „Das Fräulein von Scuderi“ oder die schwarze Erzählung „Der Sandmann“ über die besessene Liebe zu einer hölzernen Automatenfrau auf dem Lehrplan. Für sein vielschichtigstes Werk, die „Lebensan- sichten des Katers Murr nebst fragmentarischer Biografie des Kapellmeisters Johann Kreisler“, erwärmt sich kaum noch jemand.
Entsprechend klein ist die Zahl derer, die zu seinem Grab auf dem Friedhof Jerusalem III am Mehringdamm wallfahrten. Immerhin könnte man seiner dort als jenes Tausendsassas gedenken, der, wie die Inschrift festhält, „ausgezeichnet im Amte, als Dichter, als Tonkünstler, als Maler“ war.
Die Aufgabe, Ernst Theodor Wilhelm Hoffmann, der seinen dritten Vornamen aus Verehrung für Mozart gegen Amadeus eintauschte, in all seinen Facetten lebendig zu halten, übernimmt seit 2016 das stetig wachsende E.T.A.-Hoffmann-Portal (etahoffmann.net) der Berliner Staatsbibliothek. Ob man Hoffmann als Berliner Kammergerichtsrat, als Zeichner und Karikaturisten, als Bamberger Kapellmeister, eigenwilligen Komponisten oder Schriftsteller kennenlernen will: Das aus dem Nachlass der Hoffmann-Forscherin Christa Karoli finanzierte Portal bietet eine Vielzahl digitalisierter Autografen und flankiert sie mit Essays und Informationen zu Leben, Werk und Rezeption. Am 12. Dezember um 17.30 Uhr wird die Betaversion im Rahmen eines Festakts mit Ingo Schulze im Haus am Potsdamer Platz auf die Vollversion umgestellt (Anmeldung über die Website).
Das Portal ist eine einzigartige Fundgrube, aber seiner äußeren Aufgeräumtheit zum Trotz ein Verhau, der weder den Ansprüchen von Wissenschaftlern noch denen von Lesern gerecht wird. Die einen müssen ohne Volltextsuche leben, die anderen mit Werkausgaben in Frakturschrift, die sich nicht einmal herunterladen lassen. Und wer nach bestimmten Aspekten wie dem Hoffmann zugeschriebenen erotischen Roman „Schwester Monika“ forscht, bleibt in der Bibliografie stecken. Sei’s drum: Auch dieses Allerlei bewahrt etwas von seinem Geist.
Hoffmann als Kreisler
Nota. - Safranskis Hoffmann-Biographie ist nicht sein Magnum opus, aber im Hauptpunkt hat er Recht: Hoffmann ist der romantische Künstler schlechthin. In der Hauptsache Dichter, aber nur aus Versehen und weil er Geld brauchte, im Kopf mehr Musiker, im Herzen Theaterdirektor und Kulissenmaler, von Beruf Kammer- gerichtsrat. Geschmäht von allen, die einen guten Namen haben, geistigen Getränken stärker zugetan, als seiner Gesundheit zuträglich war, und ein treuer Ehemann.
Und ein Gutteil seiner Dichtung ist einfach Mist, hingeklatschter Schund für leicht erregbare Fräuleins, ja er brauchte das Geld, um die Zechen bei Lutter &Wegner zu bezahlen. Aber außerdem die reinsten Perlen der deutschen Romantik, und ich würde den ganzen Goethe hergeben und Schiller und Bertolt Brecht obendrauf, wenn ich je den dritten Band des Katers Murr lesen könnte.
JE
Dienstag, 14. November 2017
Reizbrei statt Erfahrung.
Charles Sheeler, American Landscape, 1930.
Adrian Daub schreibt in einem Beitrag für die Neue Zürcher vom 8. 11. 2017 unter anderm:
... Auf der Suche nach einem Standpunkt, der weder technologischen Fortschritt prinzipiell unter Verdacht stellte noch den Triumphzug Silicon Valleys verherrlichend und ausschmückend begleitete, besinnen sich die USA auf die Kunst der zwanziger Jahre: einer Ära also, in der die Kunst und der Geist keine Angst vor der Technologie hatten und sich deren Herausforderungen kreativ stellten.
Adrian Daub schreibt in einem Beitrag für die Neue Zürcher vom 8. 11. 2017 unter anderm:
... Auf der Suche nach einem Standpunkt, der weder technologischen Fortschritt prinzipiell unter Verdacht stellte noch den Triumphzug Silicon Valleys verherrlichend und ausschmückend begleitete, besinnen sich die USA auf die Kunst der zwanziger Jahre: einer Ära also, in der die Kunst und der Geist keine Angst vor der Technologie hatten und sich deren Herausforderungen kreativ stellten.
Anfang 2018 wird das De Young Museum
in San Francisco Sheeler und den anderen «Präzisionisten» seiner Ära
eine grosse Retrospektive widmen. Das De Young ist ein hochmodernes,
hochtechnisiertes Gebäude, das sich trotzdem harmonisch in die Eichen
und den dräuenden Küstennebel des Golden Gate Park einfügt. Die Schau,
das Museum, die Künstler, die hier versammelt werden, sie alle stellen
die Frage: Was passiert, wenn die Hypermodernisierung kommt, und ich
fühle mich eigentlich gar nicht schlecht dabei? Diese Frage hat in
Silicon Valley besondere Sprengkraft: Man weiss, dass man Schuldgefühle
haben sollte angesichts der Veränderungen, die man über die Welt bringt,
aber so ganz versteht man diesen Imperativ nicht. Man hat hier seine
Heimat in der Technik gemacht und wird gerne als warnendes Beispiel
abgetan.
Sheeler und
die restlichen Präzisionisten haben sich weder der Technikskepsis
hingegeben noch die Verwerfungen der technologischen Moderne als
deterministisches Prinzip gefeiert wie die italienischen Futuristen.
Auch den Philosophen John Dewey trieb die ganz unnostalgische Frage um,
wie sich moderne Erfahrung durchdringen und strukturieren lasse. Obwohl
er nicht explizit von Technologie ausgeht, kann man das ferne Rattern
der Fliessbänder und das Pfeifen der Lokomotiven auch aus seiner
Ästhetik heraushören.
Charles Sheeler, Rolling Power
Charles Sheeler, Rolling Power
Deweys
Behauptung ist, dass die Reizüberflutung durch die moderne Welt nicht
aufgrund der Masse von Reizen ein Problem sei, sondern aufgrund der
unklaren Kontur dieser Reize. Unsere «Erfahrung» sei, so Dewey, ein
einziger Reizbrei, was fehle, sei die Möglichkeit, «eine Erfahrung zu
haben». Eben hier könne Kunst helfen, weil sie uns die Dinge in
künstlicher Isolation, Konzentration und Abgeschlossenheit präsentiere –
wir können sie durch Kategorien wie Anfang, Ende und Struktur erfahren. ...
Nota. - Wahrnehmung jeder Art geschieht in der Spannung zwischen Figur und Grund. Je gewöhnlich-selbstverständli- cher der Grund, umso außerordentlicher tritt die Figur hervor. Doch gewöhnlich und selbstverständlich kann auch das Tohuwabohu sein; auf einem Bild von Jackson Pollock würde ein weißer Fleck zur Figur reichen. Da hat John Dewey völlig recht: wenn die Reize flutend rauschen, werden sie gar nicht wahrgenommen, sondern das, was sie unterbricht und in die Schranken weist.
Was selbstverständlich und gewöhnlich ist, hängt aber nicht nur von der "Umwelt" ab, sondern auch von der Bildung ("Erfahrung") des Wahrnehmenden. Das ist eines der Probleme, um nicht zu sagen: das Problem der Kunst seit der Industrialisierung, seit der Entstehung einer breiten Masse von Gebildeten und einer noch größeren Masse von weniger Gebildeten, die aber doch als Konsumenten zählen, kurz seit der Scheidung der Kunst in Avantgarde, Mainstream und Kitsch. Kunst, die als solche gelten will, muss neu sein - das musste sie immer; aber früher konnte neu auch lediglich anders sein, doch seit sie modern ist, muss sie auch gegen etwas auftreten.
Charles Sheeler, Titel?
Bloß seit alles schonmal dagewesen ist, ist das nicht mehr so einfach. Zwar kann dem unbefangenen Auge Charles Sheeler heute wie eine Offenbarung vorkommen, und bis gestern war das mein Fall. Aber heut schon nicht mehr.
JE
Nota. - Wahrnehmung jeder Art geschieht in der Spannung zwischen Figur und Grund. Je gewöhnlich-selbstverständli- cher der Grund, umso außerordentlicher tritt die Figur hervor. Doch gewöhnlich und selbstverständlich kann auch das Tohuwabohu sein; auf einem Bild von Jackson Pollock würde ein weißer Fleck zur Figur reichen. Da hat John Dewey völlig recht: wenn die Reize flutend rauschen, werden sie gar nicht wahrgenommen, sondern das, was sie unterbricht und in die Schranken weist.
Was selbstverständlich und gewöhnlich ist, hängt aber nicht nur von der "Umwelt" ab, sondern auch von der Bildung ("Erfahrung") des Wahrnehmenden. Das ist eines der Probleme, um nicht zu sagen: das Problem der Kunst seit der Industrialisierung, seit der Entstehung einer breiten Masse von Gebildeten und einer noch größeren Masse von weniger Gebildeten, die aber doch als Konsumenten zählen, kurz seit der Scheidung der Kunst in Avantgarde, Mainstream und Kitsch. Kunst, die als solche gelten will, muss neu sein - das musste sie immer; aber früher konnte neu auch lediglich anders sein, doch seit sie modern ist, muss sie auch gegen etwas auftreten.
Charles Sheeler, Titel?
Bloß seit alles schonmal dagewesen ist, ist das nicht mehr so einfach. Zwar kann dem unbefangenen Auge Charles Sheeler heute wie eine Offenbarung vorkommen, und bis gestern war das mein Fall. Aber heut schon nicht mehr.
JE
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