Dienstag, 23. Januar 2018

Zivilisierte Sinne.


alphalernen

In der Neuen Zürcher berichtete Lena Stallmach am 20. Januar über neue Studien über geringe Fähigkeit von Angehörigen hochzivilisierter Länder, Gerüche voneinander zu unterscheiden. Selbst so markante Aromen wie Zimt und Rose würden in der Hälfte der Fälle verfehlt.

...es hapert nicht nur bei der Identifikation von Gerüchen, sondern auch wenn es darum geht, einen Duft zu beschreiben. Dabei geraten Menschen in westlichen Ländern regelmässig ins Stottern: Es fehlen uns schlicht die Worte dafür. Bei Farben haben wir präzise Bezeichnungen wie rot oder grün, doch Gerüche beschreiben wir oft qualitativ (angenehm oder eklig), oder aber mit anderen bekannten Gerüchen, zum Beispiel «Es riecht nach Banane». Doch ist diese Wortlosigkeit kein generelles Phänomen, sondern kulturell bedingt. Denn es gibt durchaus Völker, die ein eigenes Vokabular für Gerüche besitzen und dieses sehr effizient zu verwenden wissen.

So zeigten Forscher um Asifa Majid vom Max-Planck-Institut für Psycholinguistik in Nijmegen, Niederlande, bereits vor vier Jahren, dass eines dieser Völker Düfte ähnlich präzise beschreiben kann wie Farben. Das Volk der Jahai lebt im Regenwald zwischen Thailand und Malaysia und kennt 12 Wörter, die ausschliesslich für Gerüche verwendet werden. Mit diesem Vokabular schaffen es die Jahai, alltägliche Düfte so zu beschreiben, dass jeder von ihnen weiss, was gemeint ist.

Die Forscher hatten die Jahai mit englischen Muttersprachlern verglichen. Jene konnten Farben genauer beschreiben als diese, versagten abeer bei den gerüchen völlig.

In einer neuen Studie untersuchten Majid und Nicole Kruspe von der Lund University in Schweden nun, ob die Fähigkeit, Gerüche präzise zu benennen, mit der Sprachfamilie, dem Leben im Regenwald oder der Tätigkeit als Jäger und Sammler zusammenhängt. Dafür verglichen sie zwei Volksgruppen aus dem gleichen Kultur- und Sprachkreis (Aslian) auf der Malaiischen Halbinsel. Die Semaq Beri bestreiten ihr Leben wie die früher untersuchten Jahai als Jäger und Sammler. Die Semelai kultivieren Reis auf gerodeten Flächen.

Es zeigte sich, dass die Semaq Beri die getesteten Gerüche auch so präzise beschrieben wie Farben. Doch die sesshaften Semelai hatten grosse Mühe beim Beschreiben von Gerüchen, ähnlich wie englischsprechende Menschen. Und dies, obwohl sie ähnliche Wörter für Gerüche kennen wie die Semaq Beri. Wahrscheinlich hätten sie mit der sesshaften Lebensweise verlernt, die Wörter korrekt anzuwenden, nimmt Majid an.

Die Fähigkeit, Gerüche zu beschreiben, hänge offenbar mit den mit den Lebensumständen zusammen, sagt Thomas Hummel, Riechforscher am Universitätsklinikum Dresden. In unsern Industriegesellschaften nämen wir Gerüche kaum noch bewusst whr und redeten auch nicht darüber.

Anders die Völker der Semaq Beri und der Jahai. Sie reden häufig über Gerüche. Diese spielten nicht nur bei der Nahrungsbeschaffung eine wichtige Rolle, sondern auch im täglichen Zusammenleben, sagt Majid. So würden die beiden Völker etwa glauben, dass jeder Mensch einen persönlichen Geruch besitze und dass sich die Gerüche von verwandten Menschen nicht mischen dürften, das werde nämlich als inzestuös angesehen.


Samstag, 20. Januar 2018

Aus Caravaggios Vermächtnis.

Caravaggio, Begräbnis der Hl. Lucia,1608
 
Das ist eines der spätesten Bilder Caravavaggios. Er war eben aus dem Gefängnis in Malta nach Sizilien geflohen und erhielt durch Vermittlung eines römischen Freundes den Auftrag, für die Kirche Santa Lucia in Syrakus ein Altarbild mit der Grable- gung der dortigen Stadtheiligen Sta. Lucia zu malen.

Es hat die Ausmaße von drei mal vier Metern und besteht zu über der Hälfte aus aus einer ockergrauen Hauswand. Das Bild ist fast monochrom, heraus sticht nur das Weiß der Bischofsmütze und die knallrote Stola des segnenden Priesters. Das Licht fällt von rechts oben und sein Widerschein bildet einen weißen Keil, der von rechts in die graubraune Fläche ragt, und fasst die Trauernden zu einer Einheit zusammen.


Es scheint mir radikaler als etwa die letzten, düsteren Bilder vom Martyrium der Hl. Ursula und der Verleugnung Petri, die immerhin dramatisch belebt sind von individualisierten Figuren. Es zeigt keine Handelnden, sondern einen Moment fast außerhalb der Zeit, und verzichtet auf all die Effekte, mit denen der Maler zuvor aufgetrumpft hatte. Wer mir bislang nicht glauben wollte, dass Rembrandt beim Vergleich mit Caravaggio den Kürzeren zieht - hier kann er sich's mit eignen Augen ansehen.





Dienstag, 2. Januar 2018

Giorgio de Chirico in Madrid.


Beunruhigende Musen, 1916/18
aus Der Standard, Wien, 2. Jänner 2018, 15:57

Ausgesetzt auf dem metaphysischen Schauplatz des Lebens
Mit der Ausstellung "Traum oder Wirklichkeit" würdigt das Madrider Caixaforum den italienischen Meisterkünstler

von

Die visionären Bilderwelten Giorgio de Chiricos (1888-1978) sind farblich von immenser Strahlkraft. Der, der sich selbst "pictor summum", der "höchste Maler", nannte, setzt auf rigoros-geometrische Ordnung, klare Linien und Formen. Seine Pittura metafisica gilt als Italiens früher Vorreiter des Surrealismus.


Eine seltene Chance, in de Chiricos Welt einzutauchen, bietet aktuell das Caixaforum Madrid. 143 Werke versammelt die Retrospektive, ein chronologisch konzipierter Rundgang durch alle Schaffensperioden. Gezeigt werden überwiegend Gemälde, die Skulpturen als Motive dienten, wie Beunruhigende Musen (Gemälde 1917, Plastik 1974), Reuiger Minotaurus oder Der große Troubadour.

 
Il grande trovatore, 1917

Il trovarore, um 1968

Kuratiert von Mariastella Margozzi und Katherine Robinson, zeigt die Schau "die zwei Wege, die de Chirico zeitlebens eingeschlagen hat", so Robinson. "Zum einen das Überraschende, das Metaphysische, seine italienischen Piazze. Eine Welt abseits des Alltäglichen und des Realen." Zentral sind de Chiricos "manichini", anonyme Gliederpuppen. "Zum anderen seine Rückbesinnung auf Neobarock und Neoklassizismus." Und sein neometaphysisches Spätwerk der 1960er- und 1970er-Jahre wie die Mysteriösen Bäder (Bagni misteriosi). Ein Motiv, das in den Illustrationen zu Jean Cocteaus Mythologie (1934) erstmals auftaucht.


Der Betrachter  1976

"Unglaubliche Einsamkeit"

De Chirico, als Sohn italienischer Eltern 1888 im griechischen Volos (Thessalien) geboren, studierte erst in Athen, später in München an der Akademie der Bildenden Künste. Vor dem Ersten Weltkrieg die Erleuchtung: Er sehe nun anders, erklärte de Chirico später "seine Vision", die er 1910 in Florenz hatte. Verknüpft mit frühen Einflüssen, die ihn zeitlebens prägen sollten, wie die Traumbilder seines Lehrmeisters Max Klinger oder die symbolistische Gedankenwelt Arnold Böcklins.

Friedrich Nietzsches Beschreibungen von menschenleeren Piazze in Turin verinnerlichte de Chirico – insbesondere die dort im Winterlicht spürbare "unglaubliche Einsamkeit". Der Mensch, sofern sichtbar, ist unkenntlich klein. Wirft aber lange, bedrohliche Schatten auf seiner Piazza Metafísica. Überwältigend das Spiel mit unmöglichen Verhältnissen aus Licht und Perspektive, das der junge Weltenbummler bis 1915 in Paris perfektionierte.

In Paris legte de Chirico auch den Grundstein für seine Karriere. Sein frühes Werk war 1911 im Salon d'Automne ausgestellt und von Picasso und Apollinaire rezipiert worden. René Magritte soll in Tränen ausgebrochen sein, als er de Chiricos Liebeslied (1914) erstmals zu Gesicht bekam.


Metaphysische Vision von New York, 1975

Gesichtslose Puppen

In den Kriegsjahren war de Chirico nicht kampffähig und abseits der Front stationiert. Er zeichnete seine später zum Markenzeichen gewordenen Schneiderpuppen. Gesichtslos wie die Menschen der Zeit, die einem Weltuntergang gleichkam. Eingebettet in skurrile architektonische Szenarien, de Chiricos rätselhafte "metaphysische Innenräume", die wie Schaufenster aussehen. Sein Einfluss wirkte auf sein direktes Umfeld, den Futurismus von Carlo Carrà, mit dem er 1917 die Scuola Metafisica ins Leben rief. Auf Dadaisten und Surrealisten wie den jungen Max Ernst oder Salvador Dalí, und darüber hinaus auf die Neue Sachlichkeit (George Grosz), den Magischen Realismus, die Pop-Art und die Konzeptkunst.

Als Theoretiker und Maler vollzog de Chirico in den frühen 1920er-Jahren eine Kehrtwende. Er suchte Halt bei den alten Meistern, allen voran Raffael und Signorelli, wie er in seiner Schrift Die Rückkehr zum Handwerk (1919) darlegte. Hellenistische Tempelruinen, wiederkehrende Säulenfragmente und die Mythologie finden sich in seinem Versuch einer Restauration, die zum Bruch mit Bretons Surrealisten führt.

Selbstporträt mit dem Kopf Merkurs, 1923

In der neometaphysischen Spätphase strotzten seine Traumwelten neuerlich vor enigmatisch-facettenreichem Unsinn: Er setzte in Odysseus Heimkehr (1973) den Irrfahrer als anlandende Statue ins Setting eines Wohnzimmers in Ithaka, mit Tempel, Sofa und Meerblick. Sinnbild für eine seiner Konstanten, den ewigen Konflikt der Innen- mit der äußeren Welt. 

Caixaforum,, Madrid, bis 18. Februar


Nota. - Vielleicht nicht in der Kunstgeschichte, aber beim größeren Publikum kommt Chirico nur bis Anfang der 20er Jahre vor, bis zu den Metaphysischen Innenräumen, aber die neoklassischen und gar neobarocken Stücke seither bleiben allgemein unbeanchtet. 

Es ist guter Ton, mit alten Vorurteilen aufzuräumen. Aber bei Chirico kommt man dabei nicht weit. 
Die postmetaphysischen Sachen sind, obwohl sie nun alle Titel tragen, die man verstehen kann, ganz nichtssagend. Er legt jetzt mehr Wert auf akribisches Handwerk, siehe obiges Selbstporträt mit Merkur, und bringt es stellenweise zu einiger Virtuosität; nur erkennt man nicht, wozu es gut ist. Doch seit er sich von der Renaissance dem Barock zuwendete - dem holländischen mehr als dem italienischen -, übernimmt er von Frans Hals dessen wüsten Strich, und wenn es nun auch bunt und expressionistisch zugeht, hat man nicht das Gefühl eines Zugewinns.

Die späte Rückwendung zu den 'metaphysischen' Motiven war ein Notausgang: Epigone seiner selbst. Die eigenen frühen Gemälde zu geglätteten und vergoldeten Skulpture klassizisieren!


Hektor und Andromache, 1917


 
Hektor und Abdromache, 1970

Es kommt nichts Neues hinzu, das man begrüßen könnte, nicht einmal die Faktur ist noch erwähnenswert. Die gelegentlichen Versuche, doch nochmal was Eigenes zustande zu bringen, machen verständlich, dass er auf dem Weg nicht beharrt hat.


Odysseus' Heimkehr, 1968

Aber das alles schmählert nicht im mindesten, dass seine Stücke aus dem zweiten Jahrzehnt zu dem Bedeutendsten zählt, das das 20. Jahrhundert hervorgebracht hat, und wenn man ihn einen Vorläufer des Surrealismus nennt, tut man ihm Unrecht, denn er war besser als sie (als die meisten).

JE