Sonntag, 24. Juni 2018

Geschmack und Absicht in der Kunst.

 Vera Mukhina  

Es ist offenbar etwas anderes, ob ich von der Kunst als einem kulturellen Faktum, oder von der Kunst als von dem rede, was der Künstler tut. Vor allem dann, wenn ich nach dem Gewicht des Ästhetischen - und, symmetrisch, der Rolle der Absicht - in der Kunst frage.

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Wobei - dies gleich vorweg - die Frage nach der Absicht nicht dasselbe ist wie die Frage der Gegenständlichkeit. Dass in dem Maße, wie die außerästhetische Absicht aus den Werken schwand, auch die Gegenstände erst verflachten und dann verblass- ten, liegt nahe, und dass sie schließlich ganz verbannt wurden, war psychologisch unvermeidlich. Aber dauern konnte es nicht. Denn für die ästhetische Wahrnehmung ist es zweierlei, ob eine Absicht schlicht und einfach nicht da ist - Da wird der Be- schauer sagen: Da gibt's nichts zu sehen -, oder ob sie aktiv bestritten wird: Dann 'betrachte' ich ein Verhältnis, nämlich das Verhältnis von Gestalt und Absicht selbst.

Das bloße Fortlassen der Gegenstände hatte bloß am Beginn der Abstrakten Kunst eine polemische Spitze. Nach einer Weile wurde es selber konventionell, dekorativ und - leer. Malevitch hat den Bogen in nur wenigen Jahren ganz geschlagen. In den fünfziger Jahren war ein Gegenstand auf einem Bild skandalös. Heute ist ein abstraktes Bild einfach anachronistisch. Selbs Cy Womblys Kritzeleien deuten Gegenstände immerhin an.

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Die ältesten Artefakte der Menschheit, die wir als Kunstwerke ansehen, weil wir einen geschmacklichen Gestaltungswillen am Werke sehen, dürften kultischen Zwecken gedient haben. Was der Kult sonst auch immer sein mag - eine Absicht hat er, und nur davon ist hier die Rede. Irgendwann gilt dann der Kult nicht nur spirituellen, sondern auch weltlichen Mächten. Von Kunst im engeren Sinn könnte man schon  reden, soweit die zusätzlich aufgewendete ästhetische Mühe nicht prosaisch dem Schmuck, sondern einer Weihe des Gegenstands zugedacht ward, die jenseits seiner irdischen Brauchbarkeit liegt. Das Ästhe- tische hat sich in einem gewissen Sinn schon verselbständigt; aber noch nicht als ästhetisches. 

Die Kunst der (italienischen)* Renaissance ist dann ein ständiges Bäumchen-verwechsle-dich zwischen dem Schönen als Ver- sinnlichung des Numinosen und den heiligen Berichten als Vorwand für neue Abenteuer des Geschmacks. Hier ist Kunst gewissermaßen zu sich gekommen. Eindeutigkeit zur einen oder anderen Seite kann sich ein begnadeter Exzentriker erlauben - der ist selber fragwürdig -, aber der Mainstream lebt von der Vieldeutigkeit.

Die allerdings dahinschmolz in dem Maß, wie im Rokoko das Heilige nur noch parodistisch als das Schaurige überlebte und die Kunst der Romantik das Vieldeutige geradezu zu ihrem Gegenstand machte. Folglich wird sie zunehmend sich selbst zum Thema. Selbstbezüglichkeit ist ein Kennzeichen der modernen Malerei, unter jedem Bild steht mit Geheimtinte: Na, wie hab ich das gemacht?! Und gedacht hat sich der Maler: Ich hab es so gemacht, weil er es anders gemacht hat.** Das liegt allerdings weit außer- halb aller absichtslosen Betrachtung. Dass der Künstler keine Absicht verfolgte, wer soll das glauben? Wer will zur Geltung kommen, das sieht ein Blinder mit dem Krückstock.

Na ja, er muss seinen Lebensunterhalt verdienen, das ist ein mildernder Umstand. Und natürlich muss er dazu auf den Markt schielen, das kann man ihm nicht verübeln. Dabei mag manches auf die Leinwand kommen, was seinem eignen Geschmacks- urteil nicht standhält. Er träumt davon, eines Tages nur mein Eigenes malen zu können. Doch wenn er Pech hat, weiß er, wenn's so weit ist, nicht mehr, was sein Eigenes ist. 

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Das Problem, dass sein Eigenes nach aller Wahrscheinlichkeit schonmal dagewesen ist, bleibt ihm allerdings nicht erspart. Der Versuchung, hilfsweise die Absicht in die Kunst zurückzutragen, ist schon mancher erlegen, und die Ausflucht in die Selbst- parodie ist längst nicht mehr originell. Andererseits: Ob man dieses darf oder jenes nicht, ist kein ästhetischer Gesichtspunkt. Das Ästhetische kann sich immer nur allein rechtfertigen, in jedem Stück neu.


*) Die Renaissance nördlich der Alpen hat es nie bis zum Schönheitskult der Italiener gebracht. Sie war immer expressiver. Was wurde ausgedrückt? Erkanntes oder Angeschautes?


**) Das gabs natürlich schon immer, aber nur in kleiner Münze, betreffend die individuelle Kunstfertigkeit. Heute hat jeder seine eigene Kunstphilosophie, und eigentlich dünkt sich jeder unvergleichlich.




Samstag, 23. Juni 2018

Die Kindlichkeit der Kunst.

 
Klee, Roter Ballon                                                                          aus Von der Künstlichkeit des Kindes und er Kindlichkeit der Kunst.

Die Kindlichkeit des Kindes und die Künstlichkeit der Kunst haben einen gemeinsamen Nenner, und zwar: eine Sache um ihrer selbst willen tun. Es ist die Art von Tätigkeit, die landläufig Spiel genannt wird. Immer wieder hat man versucht, das Spiel definitorisch gegen die Arbeit abzusetzen. Vergeblich

Nämlich solange der Unterschied in den technischen, ergonomischen Merkmalen der Tätigkeit selbst gesucht wurde. 

Der Unterschied liegt in ihrer verschiedenen Bedeutung fürs Leben. Arbeit ist eine Tätigkeit, die um eines gesetzten Zweckes willen geschieht. Der Zweck ist ihr Was, die Unbotmäßigkeit des toten Stoffs bestimmt das Wie: An der Sicherheit, mit der sie den Stoff dem Zweck anverwandelt, mißt sich ihre Qualität. 

Und wenn es möglich wird, die Tätigkeit zu ersparen und ihre Qualität den Maschinen einzubauen, umso besser. Industriear- beit, Lohnarbeit ist die „reine“ Form der Arbeit. Nicht logisch, aber historisch, und darauf kommt’s an. Sie ist die Art von Tätigkeit, die gesellschaftlich gilt – qua Tauschwert, denn der ist der allgemeinste Zweck. Die Mühsal ist, allen Etymologien zum Trotz*, kein Bestimmungsgrund von Arbeit. Wenn Arbeit Spaß macht, hört sie nicht schon auf, Arbeit zu sein. 


Spiel dagegen wird „um seiner selbst willen“ getan. Aber was bedeutet das? Daß es „befriedigt“? Dann wäre die Befriedigung Zweck, nicht die Tätigkeit, und wir würden uns im Kreise drehn. Das Eigentümliche am Spiel ist aber, daß vorher nicht fest- steht, ob es befriedigen wird oder enttäuschen. 

Das Eigentümliche am Spiel ist sein offener Ausgang. Daß es also keinen Zweck hat. 

Es werden Folgen eintreten, wie bei allem, was man tut. Aber man weiß nicht, welche. Man kann sie nicht „bedenken“. Man mag sie erahnen oder erhoffen, aber man muß es wohl drauf ankommen lassen… Spiel ist Risiko, und das Risiko ist sein Zweck. Es lebt vom Zauber des Unbestimmten. Arbeit dagegen will Bestimmtheit. 

Die Unbestimmtheit der Zwecke – daß man erst sehen wird, was es werden soll, wenn es etwas geworden ist -, das macht Kunst zum Spiel. Die Künstler der Vergangenheit waren sich ihrer Zwecke freilich sicherer als die heutigen. Sie wußten sich beauftragt. Zuerst von geistlichen, dann von immer weltlicheren Mächten. Erst als der Markt die Künstler vom Geheiß der Auftraggeber befreit und ihre Existenz aber auch unsicher gemacht hatte, wurde der Ausgang der künstlerischen Tätigkeit offen. Kunst trat in einen polemischen Gegensatz zur Bürgerlichkeit – d. h. zur Arbeit.

Der Künstler wurde vor die Tür gesetzt und lebt seither in einem Reich des Ungewissen. Wie die Kinder. Nur am Sonntag ließ man ihn in die gute Stube: wie die Kinder. In ihnen beiden hat unser Gattungsstil überlebt, als Residuum. Der Vergleich von Kunst und Kindheit ist mehr als eine Metapher. Denn ist der Künstler immer ein bißchen wie ein Kind, so ist das Kind, mit Maurice Ravel zu reden, „von Natur künstlich“.

*) mhd. arebeit: Mühsal ; engl. labour von lat. labare: „unter einer Last wanken“, frz.travail  von lat. trepanum - ein Strafinstrument für unbotmäßige Sklaven 


Nota. - Hier ist die Rede von dem, was Künstler tun, nicht von Ästhetischem und Zweckmäßigem; und das ist das historisch Gegebene. Ästhetisches und Zweckhaftes unterscheidet erst die philosophierende Reflexion.


 

Freitag, 22. Juni 2018

Ästhetik und Erkenntnis.

Gravitationswellen

Der Berliner Tagesspiegel berichtete am 18. 6. über eine Tagung zum 25. Jubiläum des Potsdamer Einstein-Forums zur Ästhetik der Erkenntnis.

Hier mein Kommentar:


Das sind in Wahrheit zwei Fragen, die unmittelbar gar nicht zusammenhängen. Das eine ist, ob ein Forscher nicht gut daran tut, wenn er vor einem neuen, großen Problem zuweilen in den ästhetischen Zustand abtaucht und die Reflexion einstweilen ab- schaltet - und so vielleicht zu einer Erleuchtung kommt. Ein anderer trinkt einen Kaffee oder zieht sich eine Linie. Das ist eine heuristische Frage und ist rein pragmatisch zu beantworten. Den Kopf freimachen und die Einbildungskraft spielen lassen wird immer nützen. Dass aktive Forscher darüber miteinander reden, ist vielleicht nützlich, aber ein irgendwie allge- meineres theoretisches Interesse kann es nicht beanspruchen. Immerhin lehrt die Erfahrung: Sobald die neugierige Anschau- ung des Forschers zur analytischen Reflexion und zu den empirischen Details übergeht, treten die Begriffe wieder in ihr Recht und ist die Schönheit regelmäßig wieder perdü.

Das andere ist die erkenntnislogische und gar metaphysische Frage, ob wissenschaftliche Erkenntnis und ästhetisches Erleben letzten Endes womöglich "aus demselben Stoff gemacht" sind.

Da muss man schon etwas weiter ausholen.

Die empirische Psychologie kennt das Faktum der Gestaltwahrnehmung. Es ist ein Phänomen, das sowohl dem ästhetischen Erleben als auch der Kognition angehört: dass nämlich schon die rein sinnliche Wahrnehmung - sehen und hören - nicht aus dem Zusammensetzen einzelner Reize besteht, die erst vom reflektie- renden Verstand zu sinnvollen Ensembles zusammen- gestzt werden, sondern dass umgekehrt schon das sinnliche Warhnehmen selbst "von sich aus" in der strukturlossen Masse der Sinnesreize nach bedeutungsvollen Figuren sucht, die die einzelnen Reize zueinander 'in Beziehung setzt' und dadurch eigentlich erst identifizierbar macht.

Dass unser Gehirn so verfährt, ist offenbar eine stammesgeschichtliche Erwerbung. Es besagt nur, dass unsere Gattung damit bislang immer ganz gut gefahren ist. Über die Natur der Dinge oder über die Wahr- heit unseres Wissens lehrt es uns gar nichts.

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Bevor wir uns in den Fallstricken unserer vorgefertigten Begriffe verheddern, dies: Von der Natur der Dinge wissen wir gar nichts und können nichts wissen. Wir wissen nur das, was in unserm Bewusstsein vorkommt - das ist eine Tautologie, beide Ausdrücke bedeuten dasselbe. In unserm Bewusstsein stecken aber kein Dinge, sondern nur Vorstellungen von Dingen. Al- lenfalls könnten wir mittelbar etwas von den Dingen wissen, sofern wir Grund zu der Annahme haben, dass den Vorstellun- gen in unserm Kopf etwas an oder in den Dingen außerhalb unserer Köpfe entspricht. Diese Frage also gilt es zu klären, und danach können wir an die Prüfung der Frage gehen, was wir von den Dingen wissen. Tiefer werden wir in die Wahrheit nicht eindringen.

Wenn wir also die Dinge vorderhand nicht nach ihrem Wesen unterscheiden können, können wir sie doch beobachtend danach unterscheiden, wie sie in unser Bewusstsein hineinkommen: "nach Schönheit" oder "nach Wahrheit"? Auch hier kommen wir mit vordefinierten Begriffen nicht weiter. 'Was ist Wahrheit?' fragte Pontius Pilatus, und 'Was ist Schönheit?' fragte Plato lange da- vor.

Schön ist nach Kant, 'was ohne Interesse gefällt'. Wenn es mehr sein sollte als technische Brauchbarkeit - wie sollte das vom Wahren nicht auch gelten? Dazu gesellt die scholastische Tradition das Gute - drei Transzendentalien als drei Namen für das Ab- solute. Drei Namen als drei Weisen des Anschauens; wieder ist die Fragen: Wie kommen sie ins Bewusstsein?

Was wahr ist (und was nicht) wird begriffen, was schön ist (und was nicht) wird angeschaut. Begreifen - nämlich in all seinen möglichen Bestimmungen erfassen - kann ich nur das, was ich zuvor angeschaut habe. Denn nur das ist überhaupt bestimmbar. Begreifen ist Fortschreiten vom Anschauen zum Bestimmen, doch was immer ich bestimmt habe, kann ich wieder anschauen - als ein Bestimmbares, als ein zu-Bestimmendes; und so weiter in infinitum.

Kann ich anschauen, ohne zu begreifen? Kann ich anschauen, ohne zu bestimmen? Der moderne Mensch, bürgerliche Sub- jekt des Vernunftzeitalters, lebt in einer hoch arbeitsteiligen Gesellschaft, wo er nicht lange bestehen könnte, wäre ihm nicht das Bestimmen längst habituell geworden. Gewohnheitsmäßig neigt er zum Bestimmen, doch mit etwas gutem Willen kann er es sich auch verkneifen; aber wollen muss er es.

Das aber wäre das ästhetische Wahrnehmen. Es ist ein Wahrnehmen, das sich des fortschreitenden Bestimmens enthält. Jeg- lichen Urteils sich enthalten kann es nicht: Das wäre überhaupt kein Wahrnehmen. Ästhetisch nenne ich ein Wahrnehmen, das als solches - ohne allen Vergleich, ohne alle Reflexion - mit einer Wertung verbunden ist: gefällt oder gefällt nicht? ("Ohne Interesse" wohlbemerkt.) 

Damit ist Schluss. Mehr an ihm kann die ästhetische Betrachtung nicht finden, sobald die danach sucht, hört sie auf, ästhetisch zu sein; beginnt sie, aus Bestimmungen weitere Bestimmungen herzuleiten, und macht sich ans Begreifen - das aber nie an ein Ziel kommt; es gilt immer nur vorübergehend.

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Bis hier ist der Ertrag denkbar trivial: Der Forscher mag, wenn es in seinem Temperament liegt, wann immer er mit dem Rä- sonnieren nicht weiterkommt, nach einem ästhetischen Bild suchen, das ihn immerhin in irgendeine Richtung führt. Wie weit, kann er immer nur ausprobieren, und wenn er Pech hat, merkt er viel zu spät, dass er sich verrannt hat. Mit andern Worten, er ist gut beraten, wenn er seinen bildhaften Phantasien mit Ironie und trockenem Verstand begegnet. Aber irgendein Vor-Urteil braucht der empirische Forscher, denn Erfahrungen laufen einem nicht über den Weg: Man muss sie machen, indem man vor- gefundene Daten mit einem Entwurf vergleicht. Da sind ästhetischen Vor-Urteile so gut wie andere; nur diesem fallen sie leichter jenem, und hinterher propagieren kann man sie besser als alles andere.

Aber es ist wie immer doch etwas vertrackter als auf den ersten Blick. Was ist denn der Sinn des Begreifens? Im Unterschied zum anschaulichen Bild lässt sich der Begriff im Gedächtnis archivieren, bei Bedarf hervorholen und - was das weltgeschicht- lich Umwälzende an ihm war - einem Andern, der mit dem Be- stimmen auch schon ein Stück vorangekommen ist, mitteilen. (Technisch: aus dem analogen Modus in den digitalen Modus übersetzen.) Um den jeweiligen Grad der Bestimmtheit mag es immer wieder Missverständnisse geben, aber es ist immerhin etwas da, worüber man streiten und worüber man sich vertragen kann. Ohne ein Mindestmaß an Bestimmtheit könnte man miteinander nur handgreiflich werden.

Seit ein solches Mindestmaß an Bestimmtheit im öffentlichen Verkehr als allgemeinverbindlich vorausgesetzt wird, redeten die Menschen von einem Vernunftzeitalter. Nicht so als solle behauptet werden, dass überall die Vernünftigen herrschen. Aber so, dass Vernunft allenthalben als der letztendliche Maßstab gilt.

Ein Ding bestimmen heißt am ihm Merkmale feststellen. Ein Merkmal ist das Verhältnis eines Dings zu einer möglichen Ab- sicht (Zweck, Interesse; auch das Interesse an bloßer Erkenntnis ist ein Interesse). Bestimmungsgrund ist die Absicht, das Ding resoniert nur: Es sind erst die Merkmale, die ein Ding zu einem solchen machen. Der Begriff des Dings ist das Schema seiner Merkmale.
 

Etwas ins Unendliche fortbestimmen heißt: ein ums andere Merkmal an ihm finden, alias: eine um die andere Absicht an es heften.

Ins Unendliche fort?

Vernunft bedeutet: an den Dingen Merkmale finden, die jeder wiedererkennt, weil er die Absichten, denen sie gelten, mit allen Andern teilt oder teilen könnte. Es wird der Moment kommen, wo einer, wie vernünftig er auch wäre, die Merkmale nicht wie- derkennen kann, weil er die Absichten nicht mehr teilt. Das ist der Normalfall in den Wissenschaften. In der scientific community werden tausende von Bestimmungen geteilt, die über den Horizont des wissenschaftlichen Laien und Normalmenschen hin- ausgehen, weil seine Absichten ganz woanders liegen. Und an der vordersten Front sowohl der empirischen Forschung als auch der Theorie wird Absichten gefrönt, die das Gros der Wissenschaftler nicht versteht, weil es sie nicht mehr oder noch nicht teilt. 

So ist es faktisch. Aber prinzipiell könnte jeder Vernünftige bei genügendem Eifer soweit kommen. Da sind keine Grenzen gesetzt. Die Grenzen der Anschauung wurden jedoch schon längst überschritten. Die Einstein'schen Begriffe vom Raum-Zeit-Kontinuum und von der Raumkrümmung liegen in anschaulicher Forschung gewonnene Daten zu Grunde. Doch vorstellen kann sie sich kein Mensch. Und auch nicht jene mikrophysikalischen Quanten, die mal als Teilchen, mal als Welle erscheinen, und womöglich an zwei Orten gleichzeitig. Niemandem, der die empirischen Forschungen, die diesen Begriffen zu Grunde liegen, nicht selber durchgeführt hat, werden sie je anschaulich werden.
 
So ist es heute schon. Davor, dass das Bestimmen ins Unendliche fort geht, kann einem nur schwindelig werden. Übereinstim- mung wird faktisch gar nicht mehr möglich sein. Es heißt bereits, an deer vordersten Front gälte unter Forschern und Theo- retikern, sobald das engste Mikrodetail verlassen wird, eine neue Doxa an Stelle von Wissenschaft - die darauf beruht, dass man seinem Nahbarn eben glauben muss, weil man seine Versuche in der Wirklichkeit nicht wiederholen kann. 

Das Denken wurde zu bestimmt. Wenn einer den Stein des Weisen doch einmal entdecken sollte, wird es nichts nützen, weil er es niemanden mehr wird mitteilen können.

*

Oder, wenn schon nicht mehr in Begriffen, doch wieder in Bildern?

Vor Jahr und Tag war viel vom Iconic turn in der Wissenschaft die Rede. Damit war mehr gemeint als bei der oben bespro- chenen Tagung des Einstein-Forums. Es ging um die Frage, ob die unvermeidliche sprachliche Form der Mitteilung ihrer Er- gebnisse nicht zu einer Fessel für das Denken der Wissenschaft geworden ist.

Das war alles noch zu spekulativ und ist im Sande verlaufen. Allenfalls am Beispiel der damals in größerem Umfang zur Anwendung kommenden Hologramme fand man einen Anhaltspunkt. Aber die dienten auch nur wieder zur Illustration der begrifflichen Vorträge, selber zum Denkzeug taugen sie nicht.

Ein viel weiterer Ausblick öffnet sich freilich auf der gegenüberliegenden Seite der vorstellenden Tätigkeit, da, wo das Ästhetische, wie es sich gehört, 'um seiner selbst willen' wahrgenommen wird: in der Kunst.


'Musik sei nicht zu unbestimmt, um in Worte gefasst zu werden, hat Felix Mendelssohn gesagt, sondern zu bestimmt.
Heute würden wir sagen: Das Musikstück – und jedes Kunststück – ist über bestimmt. So sehr bestimmt, dass es durch allgemein-geltende Zeichen eben nicht sicher erfasst und vollkommen re-präsentiert werden kann. Das Kunststück ist singulär. De sin- gularibus non est scientia – Von einem Einzigen gibt es kein Wissen, sagten die Scholastiker. Das, was ganz allein auf der Welt so ist, wiees ist, das kann durch kein Anderes – Bekanntes – auf der Welt beschrieben werden. Es ist lediglich quale; schon quid wäre zu viel gesagt, weil das an ein Verhältnis zu Anderem glauben lässt.' 18. 2. 16

Wie kann aber ein Gegenstand ästhetischer Anschauung 'bestimmt' worden sein? Absichten, Zwecke und Interessen fallen als Bestimmungsgrund aus. Welcher käme sonst in Betracht?

Offenbar kein Verhältnis, in das ich die Anschauung selber setzen will, sondern eines, in dem ich sie vorfinde: anschauliche Ver- hältnisse. Da haben wir Formate, Proportionen, Farben, Linien, Massen, Rhythmus, Hell-Dunkel-Werte, langsam-schnell und laut und leise und so weiter. Sie alle werden zusammengehalten durch ein ordnendes Prinzip: das Figur-Grund-Verhältnis. Es ist die Grundlage der Gestaltwahrnehmung, und die hat - siehe oben - mit Wahrheit und Erkenntnis nichts zu tun. Aber sie ist unsere. Sie ist die Grundlage allen Anschauens. 

Ästhetische Betrachtung ist Anschauung gegebener Verhältnisse. Sie geschieht ohne andere Absicht als eben die: Verhältnisse anzuschauen.

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Wie ich es also drehe und wende: Ästhetik und Erkenntnis sind zwei paar Schuhe.



Nachtrag.  Das Ästhetische ist kein Merkmal an den Dingen, sondern eine Weise ihrer Wahrnehmung: die Weise, die sich ihrer Bestimmung durch Zweckbegriffe enthält. 'Das Reinästhetische' gibt es nicht: das wäre ein Wahrnehmen ohne jeden Zweck. Doch ohne Zweck - wenn auch ohne einen dem Individuum bewussten Zweck - sind schon die Gestaltgesetze nicht zustande gekommen, sie sind von praktischen Lebensinteresse vollgesogen: Wir können nicht Oben und Unten unterscheiden, ohne Über- und Unterordnung zu assoziieren, nicht Hell und Dunkel unterscheiden, ohne Tag und Nacht hinzu zu meinen, nicht Vorn und Hinten ohne Bald und Später, nicht Laut und Leise ohne Stark und Schwach.

Sicher kann man es trainieren. Doch zu welchem... Zweck? Man müsste das zweckfreie Betrachten selber zum Zweck machen und dürfte sich nicht wundern, wenn ihm das nicht bekommt. Es ist zwar so gekommen, dass sich die "ästhetische Praxis", nämlich die Künste, vor gut einem Jahrhundert aller sachlichen Bezüge entledigen wollten, aber das konnte nicht weit führen und, was dasselbe ist, nicht lange dauern. Das Ästhetische ist weder an noch für sich. Es lebt in und von der Spannung mit dem sachlich Zweckhaften. Je krasser jenes im zwanzigsten Jahrhundert nach vorne drängte, umso schriller hat sich dieses zu be- haupten gesucht. 

Doch das Geld vermittelt Alles und die Spannung hat schon lange nachgelassen.

Dienstag, 12. Juni 2018

Nicht abstrakt.

 
Nein, das ist nichts Abstraktes. Das Bild heißt Landschaft, Steppe und wurde von Arkhip Kuindji 1896 naturalistisch auf Leinwand gemalt. Doch bei der Wahl des Motivs wird er sich was gedacht haben.




Montag, 11. Juni 2018

Kleiner Meister.


Albert Lebourg war ein impressionistischer Epigone. Große Neuerungen scheint er nicht beabsichtigt zu haben. Ein bloßer Nachahmer war er aber nicht, ihm sind einige eigenwillige Stück gelungen.


























Sonntag, 10. Juni 2018

Gibt es noch Hoffnung für den Kunstunterricht?

Malevitsch
 
In einem Interview mit dem Berliner Tagesspiegel lamentiert die Vizepräsidentin der hiesigen Universität der Künste, Susanne Fontaine, über das ständige Zurückdrängen des Kunstunterrichts in den Schulen. Für eine "umfassende ästhetische Bildung" plädiere sie, schreibt das Blatt. Aber was folgt, sind nur Platitüden, bei denen einem die Füße einschlafen.

Ich habe mir diesen Kommentar nicht versagen mögen:

Was die ästhetischen Fächer an der Schule am meisten bedroht, ist, dass sie sich von Leut*innen wie Frau Fontaine vertreten lassen. Nachdem sie sich im ersten Halbsatz gegen die Input-Output-Mentalität der Bildungspolitiker ausgesprochen hat, sagt sie im folgenden Halbsatz, der Kunstunterricht solle sich an dem orientieren, "was junge Menschen für ihr eigenes Leben brauchen, um sich als Erwachsene in ihrer Welt zurechtzufinden". 

Doch dann würden die Befürworter von Digitaler-Bildung-statt-Kunstunterricht immer das letzte Wort behalten.

Die elementare Bildungsmacht der Kunst gründet darin, dass sie eben nicht und in keiner Weise Teil der Ausbildung fürs wirkliche Leben ist. Die ästhetische Welt ist die Region in unserm Horizont, die schlechterdings frei von allem Zweck ist.  

So etwas gibt es. Das weiß nur einer, der es erfahren hat: Es gibt ein Reich, wo das Erbsenzählen ein Ende hat, wo nicht gemessen und verglichen wird, wo nicht alles bedingt und vermittelt ist und wo nicht eine Hand die andere wäscht und das Hemd näher sitzt als die Hose. Es gibt ein Reich, wo jeder selber wägen und werten muss, und zwar unerachtet allen Vorteils.

Nein, im Kunstunterricht kann auch noch der letzte 'lernen', dass es dieses Reich vielmehr nicht 'gibt' wie Regen und Sonnen- schein, sondern dass ein jeder es selber betreten muss, wenn es da sein soll.

Den Nutzen eines solchen Schulfachs kann nicht jeder erkennen?

Das ist ja das Problem, zu dessen Lösung das Fach beitragen soll.

Aber natürlich nur, wenn es nicht Teil des schulischen Pensums ist, sondern sein Gegenpol.  



 

Donnerstag, 7. Juni 2018

Winckelmanns Tod.

Anton v. Maron:  Johann J. Winckelmann (1768)   | Foto: Klassikstiftung Weimar
aus Badische Zeitung, 7. 6. 2018

Auf der Suche nach der wahren Schönheit
Vor 250 Jahren ist der Archäologe und Begründer der modernen Kunstwissenschaft Johann Joachim Winckelmann gestorben.

Von Christa Sigg 
 
Auf dem Messer, das fein säuberlich für das Gerichtsprotokoll skizziert wurde, steht an zwei Stellen "sangue" – Blut. Siebenmal stach der Mörder zu, um an die wertvollen Medaillen zu kommen, die ihm seine leichtsinnige Bekanntschaft voller Stolz gezeigt hatte. Dann floh Franceso Archangeli hastig mit der Beute aus der Osteria Grande in Triest und bemerkte gar nicht, dass das Opfer noch lebte. Gegen 10 Uhr fand man den schwer verwundeten Mann in seinem Zimmer, etwa sechs Stunden blieben ihm, um der herbeigeeilten Polizei den Tathergang zu schildern – und endlich seine wahre Identität preiszugeben.

Anders ist es nicht zu erklären, dass die Beamten gar so akribisch ermittelt haben. Denn mit dem Antikenforscher Johann Joachim Winckelmann ist am 8. Juni 1768 eine europaweit geachtete Berühmtheit gestorben. Der junge Goethe war völlig erschüttert, und selbst der kritische Lessing hätte dem sprachgewaltigen Winckelmann gerne mehrere Jahre seines eigenen Lebens geschenkt. So schön und mit durchaus erotischem Unterton hatte noch keiner auf Deutsch über die Kunst geschrieben. Und bei allem Pathos wird man bis heute gepackt von der Begeisterung und Präzision, mit der Winckelmann die Kunst der alten Griechen beschrieb. Das heißt, die römischen Kopien, die er damals noch für Originale halten musste.


Genauso hat er seinen Zeitgenossen die Augen für Raffaels Sixtinische Madonna (1512) geöffnet und geschwärmt, "wie groß und edel ihr ganzer Contur" sei. Und dann ist es schon nicht mehr weit bis zur "edlen Einfalt und stillen Größe", diesem arg strapazierten Credo, das Winckelmann 1755 in seinem Schönheitsevangelium "Gedanken über die Nachahmung der griechischen Werke in der Malerei und Bildhauerkunst" formuliert hat. Der Apoll von Belvedere verkörperte für ihn das Vollkommene, genauso stand die Laokoon-Gruppe ganz oben auf seiner Liste erlesener Kunstwerke.

Damit schrieb Winckelmann auch entschieden gegen den Überwältigungsbarock und die verschnörkelt-überladene Kunst des Rokoko an. Bei allem Respekt, den er dem "großen Rubens" entgegenbrachte, waren ihm dessen wogende Fleischberge samt Zellulite-Inseln ein Graus, denn sie seien "weit entfernt von den griechischen Umrissen der Körper". Und wenn wir ehrlich sind, sitzt dieses Schönheitsideal nach wie vor fest in unseren Köpfen. Vom Sixpack durchtrainierter Sportskerle bis zum wohlproportionierten Damenleib, der dank Bodyshaping keinerlei Problemzonen kennt. Wobei das Nonplusultra für den homosexuellen Winckelmann ein androgyner Körper war, in dem sich weibliche und männliche Elemente vereinen. In manchen Punkten nimmt das bereits den modernen Genderdiskurs vorweg.



Winckelmanns Ansprüche waren enorm, und für die zeitgenössische Kunst ließ er nur ein Rezept gelten: Um groß und unnachahmlich zu werden, müsse das Alte, also die griechische Antike nachgeahmt werden. Damit hat der Begründer der modernen Archäologie und der Kunstwissenschaft beträchtlich dazu beigetragen, den Klassizismus zu befördern. Dass in der Antike so herausragende Kunst geschaffen wurde, führt der tief von der Aufklärung überzeugte Schöngeist auf die Freiheit der Griechen und ihre Demokratie zurück. Das hatte nicht zuletzt mit seiner eigenen materiellen Abhängigkeit zu tun, aus der sich Winckelmann nur durch endlosen Fleiß und Disziplin befreien konnte. Sowieso war der sagenhafte Aufstieg zur international anerkannten Kulturautorität für den 1717 geborenen Sohn eines Schuhmachers aus Stendal nicht vorgesehen. Doch schon in jungen Jahren gerät er immer wieder an Förderer, die sein Talent erkennen. Und die Leidenschaft für die antike Literatur tut ein Übriges.

Das Studieren ist die eine Seite, Winckelmann trifft aber auch auf einflussreiche Vermittler wie den päpstlichen Nuntius Archinto, der ihn 1755 nach Rom holt, und bald darauf Alessandro Albani. Der Kardinal besitzt eine außergewöhnlich qualitätvolle Kunstkollektion, die gepflegt und bearbeitet werden will – und deren beste Stücke dank dem späteren bayerischen König Ludwig I. in München gelandet sind. Dem längst zum Katholizismus konvertierten Protestanten gelingt schließlich sogar der Sprung in den Kirchenstaat, wo er 1763 zum Commissario delle Antichità, also zum obersten Denkmalpfleger, befördert wird. 


In manchen Punkten nimmt er bereits den modernen Genderdiskurs vorweg 

Fünf Jahre bleiben ihm, um weiter zu forschen und sein entwicklungsgeschichtliches System der griechischen Kunst aufzustellen. Dann beschließt er, auf dem Höhepunkt seines Erfolgs, nach Deutschland zu seinen Anhängern zu reisen. Doch in Regensburg erleidet der labile Gelehrte einen so heftigen "melancholischen Anfall", dass es ihn nur mehr zurück nach Rom drängt. Sein Heimweg führt ihn allerdings über Wien, wo er von Kaiserin Maria Theresia die vier verhängnisvollen Medaillen erhält.



Archangeli ist übrigens nicht weit gekommen. In einem aufsehenerregenden Prozess wurde der Mörder Winckelmanns zum Tod durch Rädern verurteilt. Das Motiv? Habsucht und Gier gab der vorbestrafte Koch an, das Drumherum lässt dennoch Raum für die wildesten Spekulationen. Ob es zwischen dem Männer favorisierenden Ästheten und dem pockennarbigen Archangeli tatsächlich eine Affäre gegeben hat, daran scheiden sich die Geister. Winckelmann war jedenfalls inkognito unterwegs, und vielleicht haben auch seine strengen Ideale zwischendurch eine Pause gebraucht.