Freitag, 31. August 2018

Eine Physik der Bilder.

aus FAZ.NET, 29. 8. 2018
Die Bilder des Pop-Art Künstlers Eduardo Paolozzi, die Anfang dieses Jahres in der Berlinischen Gallerie zu sehen waren, sind im kunsthistorischen Spektrum bei mittlerer Entropie und Komplexität anzusiedeln

Kann man Kunstgeschichte berechnen?
Das historische Verständnis der Malerei mag kompliziert erscheinen. Dabei kann man als Physiker die gesamte Kunstgeschichte anhand von nur zwei Zahlen verstehen. Eine Glosse.
  
Von Sibylle Anderl

Dass Naturwissenschaftler unter einem Ordnungstick leiden, kann als Antrieb für den wissenschaftlichen Fortschritt gelten. Denn obgleich die Welt uns oft als schreckliches Chaos erscheint, fügt sie sich doch glücklicherweise mit etwas Mühe in die geregelten Bahnen mathematisch beschreibbarer, allgemeiner Zusammenhänge. Ein bisschen Sortierarbeit, ein bisschen Interpretation, dann wird sich schon schnell offenbaren, welche tieferen Prinzipien sich hinter der vermeint- lichen Unordnung verstecken! Der unerschütterliche Glaube an den Erfolg der Methode scheint heute stärker denn je und macht auch nicht vor Gebieten halt, die naturwissenschaftlichen Betrachtungsweisen bislang eher fremd waren: In digita- lisierter Form kann man schließlich auch Dinge sortieren, die sich bislang quantitativen Methoden zu entziehen suchten.

Kunstwerke zum Beispiel. Die Physiker Higor Sigaki, Matjaž Perc und Haroldo Ribeiro haben sich in einer aktuellen „PNAS“-Studie 140 000 Gemälde von mehr als 2300 Künstlern aus dem Zeitraum zwischen 1031 und 2016 vorgenom- men, diese jeweils in kleine Gruppen von Pixeln zerlegt und dann deren Entropie und Komplexität bestimmt. Erstere beschreibt den Ordnungsgrad des Bildes: Ein Wert nahe 1 beschreibt eine zufällige Verteilung der Pixel, ein Wert bei null markiert wiederkehrende Muster. Letztere bezeichnet das Vorliegen von Strukturen: Sowohl völlige Ordnung als auch völlige Unordnung entsprechen einer geringen Komplexität des Bildes. Wenn man der Methode der Naturwissenschaftler folgt, wird demnach jedes Gemälde auf zwei Zahlenwerte reduziert und kann bequem mit anderen Gemälden verglichen werden.
„La Tour Eiffel“ von Georges Seurat in der Kunsthalle Schirn in Frankfurt am Main: Werke des Pointillismus bestechen durch weiche Kanten und wenig Ordnung.„La Tour Eiffel“ von Georges Seurat in der Kunsthalle Schirn in Frankfurt am Main: Werke des Pointillismus bestechen durch weiche Kanten und wenig Ordnung.
Nicht nur das: Die gesamte Kunstgeschichte wird dadurch als ebene Linie interpretierbar. Gemäß dieser Linie ist die Kunst bis zum 17. Jahrhundert im Durchschnitt sehr viel geordneter als die nachfolgende moderne Kunst bis zur Mitte des 20. Jahrhunderts. Ab 1950 wenden sich die Künstler der Gegenwartskunst dann aber wieder der Ordnung zu und übertreffen damit sogar ihre Vorgänger der Renaissance, des Neoklassizismus oder der Romantik. Auch in Hinsicht auf Komplexität ist in der Gegenwartskunst, die vor klaren Kanten nicht zurückschreckt, deutlich mehr zu holen als etwa in den verwaschenen Bildern des Impressionismus. „Jede Kunstperiode ist durch einen bestimmten Grad von Entropie und Komplexität ausgezeichnet“, so das Fazit der Wissenschaftler. Da freut sich jeder Zahlenfreund.

Noch glücklicher wäre man jedoch, wenn sich auch noch ein allgemeines Gesetz fände, das uns die historische Entwick- lung der Kunststile erklären kann. Den Autoren des Papers schwebt etwas vor, wie es qualitativ bereits vor rund hundert Jahren vom Schweizer Kunsthistoriker Heinrich Wölfflin formuliert wurde: die Kunstgeschichte als zyklische Bewegung zwischen linearen und malerischen Darstellungsperioden. Die vorgestellte Entropie-Komplexitäts-Kurve könne solch eine Entwicklung projiziert abbilden, so die Autoren. Wenn man sich die Kurve anschaut, muss man allerdings feststellen: Schön ist sie nicht. Zyklisch auch nicht. Als Naturwissenschaftler hat man da eigentlich höhere Standards. Und muss wohl eingestehen: Kunst ist und bleibt im Kern unordentlich.


Nota. - Eine Betrachtung von Kunstepochen und Kunstrichtung nach dem Kriterium von Ordnung und Unordnung, gerin- ger oder großer Komplexität ist gar nicht unsinnig. Immerhin sind es Kriterien, die keinen unmittelbaren Zusammenhang mit sachlich-thematischen Gesichtspunkten haben; aber einen mittelbaren womöglich doch? Wobei man freilich zu be- denken hat, dass Ordnung und Unordnung im physikalischen Sinn - nämlich im Sinn derThermodynamik - fast das Ge- genteil bedeuten wie im Alltagsverstand. Dass "im Mittel" die mittlere Komplexität den Standard ausmacht, ist als Infor- mation nicht neu; also keine. Interessant ist dagegen der Grad der Abweichung bei den Einen und den Andern. Da mag man sich hier und da fragen, ob rein ästhetische Gegebenheiten unter diesen oder jenen historisch gegebenen subjektiven Bedingungen womöglich über das Reinästhetische hinaus weisen.

Doch quantifizieren lässt sich immer nur nach vorab festgelegten Begriffen. Und da macht geordnet und ungeordnet eben den Unterschied von Ordentlich und Unordentlich aus. Auch Wölfflins ästhetische Kategorien, die, grob gesagt, zwi- schen klassizistisch und expressiv unterscheiden, sind meta-ästhetisch; oder hypo-ästetisch, wenn man will. Das logische Problem ist abere immer, dass die Begriffe, nach denen quantifiziert wird, in aller Regel selber schon außerästhetisch wertend eingefärbt sind.

Wir sehen es am zweiten angeführten Bildbeispielen deutllich. "Weiche Kanten und wenig Ordnung" heißte es da. Tat- sächlich ist kein zweiter Maler so 'anästhetisch' schematisierend vorgegangen wie Seurat. In pedantischer Fleißarbeit hat er seine malerischen Entwürfe in präzise Punkte aufgelöst und nicht gezögert, seinen Impressionismus einen wissen- schaftlichen zu nennen, was der unbefangene Laie für ein Paradox hält.

Es hat wohl die Anwendung quantifizierender Methoden auf die bildende Kunst einen Sinn. Aber nur, wenn sie nicht von Physikern angewendet werden; sondern von Ästhetikern, die wissen, dass im ästhetischen Bereich nicht Begriffe, son- dern Anschauungen angezeigt sind. Wie aufgrund derer aber abgegrenzt und sortiert werden soll, wäre selber ein künst- lerisches Problem.
JE

Mittwoch, 29. August 2018

Der größte Freak aller Zeiten.


aus Der Standard, Wien, 28. August 2018, 13:51

Der super Freak
Er war einer der größten Popstars aller Zeiten. Ein tragischer Solitär, der am Mittwoch seinen 60. Geburtstag gefeiert hätte  

von

In der Vorwoche musste er kurz den Platz räumen. Die Eagles hatten ihn überholt. Ihre Best-of-Sammlung stieß Michael Jacksons Thriller vom Thron der meistverkauften Alben – zumindest in den USA. Weltweit sollen von Thriller 66 Millionen Kopien verkauft worden sein, da kommen die Eagles nicht ran.

Diese Woche dürfte sich das wieder zugunsten von Jacko verschieben. Vor neun Jahren starb Michael Jackson, tragisch früh mit 50 Jahren, am Mittwoch wäre er 60 Jahre alt geworden. Weltweit wird des Superstars gedacht. Er war der größte schwarze Popstar. Sony Music veröffentlicht anlässlich des Geburtstages die Alben Off The Wall, Thriller, Bad, Dangerous, History und Invincible als Picture Discs und nennt die in High Definition Audio aufgelegte Edition Michael Jackson: The Diamond Celebration!


Michael Jacksons Aufstieg zum Superstar erfolgte an einer Zeitenwende. Disco war am Ausbluten, aus dem Underground kommend verwandelte sich Punk zum Postpunk und zur New Wave, der Synthesizer machte den Funk synthetisch, aus der New Yorker Bronx wummerte Hip-Hop.

Neue Ära

Eine neue Ära brach an, und mit MTV wurde ein Format geboren, das Musik für die Massen verbildlicht in die Haushalte transportierte. Gleichzeitig trat der 1958 in Gary in Indiana geborene Michael Jackson an, sich zu emanzipieren. Vier Jahre nach dem Abgang der erfolgreichen Familienformation Jackson 5 vom Label Motown veröffentlichte er das Album Off The Wall.


Michael Jackson als Leadsänger der Jackson 5 mit "I Want You Back".

Es war sein fünftes Solowerk und das erste, auf dem er alt genug war, um in Amerika einen anständigen Drink bestellen zu dürfen. Bis dahin war er ein erfolgreicher Kinderstar. Mit den Jackson 5 und solo hatte er schon vor der Volljährigkeit Millionen Platten verkauft. Mit dem Image der niedlichen Kaulquappe, dem er altersbedingt schon nicht mehr gerecht werden konnte.

Jones, Wonder, McCartney

Mit dem Produzenten Quincy Jones im Studio und Songwritern wie Stevie Wonder oder Paul McCartney sollte 1979 sein Jahr werden. Off The Wall schlug richtig ein. Es verkaufte sich 20 Millionen Mal und machte aus Jackson einen Superstar. Mit Thriller toppte er sich 1982 selbst – das Album Bad rundete 1987 ein Dreigestirn ab, an das niemand in diesem Jahrzehnt herankam. An seiner privaten Verlorenheit und den darin begründeten Depressionen änderten diese Erfolge jedoch nichts.


Beat It.

In der musikalischen Artenvielfalt der 1980er wurde Jackson zum King of Pop ausgerufen. Seine auf Hochglanz polierte Musik wurzelte in Soul, Funk und (stellenweise) Gospel, wurde aber zusehends stromlinienförmig, zugunsten der Massentauglichkeit. Jackson sprach mit seinen Songs vorwiegend ein Publikum an, das sich an der Schwelle zum Erwachsenwerden befand. Dessen – und seine – Verunsicherung formulierte er mit dünner, heller Stimme.

Im Sauerstoffzelt

Persönliche Probleme hatte er, doch war er noch weit entfernt von der erratischen Figur, die sich später mit Neverland ihre eigene Märchenwelt errichtete, die mit minderjährigen Buben im selben Bett übernachtete, im Sauerstoffzelt gegen das Altern ankämpfte, sich freudlos fortpflanzte, einen Schimpansen ihren besten Freund nannte und ihre Nase den Chirurgen zum Spielen überließ. Derlei biografische Einträge erschienen ab den 1990ern bedeutsamer als seine immer desperater werdenden Versuche, mit neuen Alben an alte Erfolge anzuknüpfen.

We Are The World

Doch Off The Wall, Thriller und Bad definierten eine Epoche. Jacksons Erfolg riss Rassenschranken nieder, sein Amalgam aus Funk, Disco und Pop (und etwas Rock) stürmte weltweit die Charts. Trotz oft ernster Themen wurde seine Musik vornehmlich als optimistische Popmusik wahrgenommen, die den weißen Yuppie-Zeitgeist ebenso transportierte wie afroamerikanisches Selbstvertrauen.

Moonwalk in der Dorfdisco

Als Performer reichte ihm damals niemand das Wasser, als solcher hat er bis heute den Maßstab im Mainstream gesetzt. Er modernisierte die ekstatischen Bühnenshows von Soul- und Funkkünstlern wie James Brown oder Joe Tex. In jeder Dorfdisco mühte sich am Wochenende jemand am Moonwalk ab.


65. Geburtstag von Liz Taylor

Sein musikalisches Erbe zeigt sich heute in der Musik von Acts wie Weeknd und Usher oder Rappern wie Blood Orange. Und natürlich in der Musik von Stars wie Justin Timberlake, die Kaderschmieden entstammen, in denen Jackson den Herrgottswinkel definiert. Mit etwas Fantasie kann man sogar den Einsatz von Autotune als Fortsetzung von Jacksons Falsett-Kicksern betrachten, die Künstlichkeit des Ergebnisses wirkt da stimmig.

Elvis und die Beatles

Die heutige Weltführerschaft des Hip-Hop im Musikbusiness wäre ohne Jacksons immensen Erfolg beim weißen Publikum schwer vorstellbar. Er zwang MTV umzudenken. Seine Fans nötigten den Sender, das fast 14-minütige Thriller-Video mehrmals pro Stunde zu spielen. Mit seinem Einfluss steht er auf einer Stufe mit Elvis Presley (dessen Tochter er 1994 ehelichte) und den Beatles (deren Backkatalog er sich einmal unter den Nagel riss).


Dangerous

In seinen letzten Jahren und Arbeiten manifestierte sich diese Wirkmächtigkeit nicht mehr, da überwog der Tratsch den Freak. Erst als die Nachricht seines Todes eintraf, rückte einem plötzlich ins Bewusstsein, was dieser tragische Solitär, dieses körperliche und psychische Wrack bewirkt hatte.

Am Abend der Wiederkehr

Das besaß Elvis-, Lady-Di- und John-Lennon-Dimension. Madonna weinte, und einen Moment lang hielt die Welt inne und versuchte sich mit dem Gedanken zu arrangieren, dass einer der Größten nicht mehr war. Just in dem Moment, als Jackson sich nach Jahren als Sujet der Schadenfreude und der Klatschspalten wieder beweisen wollte.

50 Konzerte waren in London anberaumt gewesen, eine Million Menschen hätten Jackson sehen sollen. Unvorstellbare 800.000 Karten waren verkauft worden – doch anstatt wiederzukehren, ging Michael Jackson für immer.


Man In The Mirror

Nota. -
Wenn man das Allgemeine recht verstehen will, müsse man sich bloß nach einer berechtigten Ausnahme umsehen, sagt Kierkegaard. Die größte Ausnahme von allen Allgemeinheiten aller Zeiten war Michael Jackson, und berechtigt war sie ästhetisch. Er ist mit nichts und niemand zu vergleichen, er war der größte Freak aller Zeiten (Sie müssen's nur recht verstehn!).
JE




 

Mittwoch, 22. August 2018

Ach, bloß in den USA.


Ruhig Blut - die Eagles hätten Thriller als das meistverkaufte Album aller Zeiten überholt? Aber nur in den USA. MJ ist, mit Verlaub, ein Welt-Ereignis.





Dienstag, 7. August 2018

Zwei Ästhetiken in einem Bild.

Emilio Sánchez Perrier - Alcalá de Guadaíra, near Seville

After finding success in his native Andalusia, Emilio Sánchez Perrier (1855 - 1907) moved to Paris in 1879 and joined the ateliers of Jean-Léon Gérôme and Félix Ziem. The synthesis of Gérôme's traditional academic training and Ziem's expressive, naturalistic and Impressionistic approach is evident in Sánchez Perrier’s exquisitely rendered landscapes.
aus Gandalf's Gallery

Félix Ziem - ein später Vertreter der Schule von Barbizon; Jean-Léon Jérôme - der bedeutendste Repräsentant der Salon-Malerei. Bei Sánchez Perrier verbindet sich die akribische Präzision des Einen mit der tonalen Großflächigkeit von Corot und seinen Nachfolgern von Pissarro bis Cézanne. Bei einem Einzigen ist das originell. Hätte er Schule gemacht, würde man sagen: sterile Manier.



 

Montag, 6. August 2018

Empirische Ästhetik.

Isaac Levitan, Birkenhain 
aus derStandard.at, 6. August 2018, 08:30

Was wir schön finden: 
Bei der Natur sind wir uns einig, nicht aber in der Kunst
Eine aktuelle Untersuchung zeigt: Menschen urteilen über natürliche Objekte einheitlicher als über kulturelle Werk

Frankfurt am Main – Über Geschmack lässt sich bekanntlich nicht streiten. Aus wissenschaftlicher Sicht trifft diese gängige Aussage zumindest teilweise zu, wie neue Forschungen zeigen. In einer Reihe von Experimenten wurden Studienteilnehmer gebeten, sich Bilder verschiedener ästhetischer Bereiche anzusehen. Diese reichten von menschlichen Gesichtern über Naturlandschaften bis zu Architektur und Kunstwerken.

Die Probanden sollten bewerten, wie ästhetisch ansprechend sie die Bilder fanden. In einer zweiten Aufgabe mussten sie sich mehr anstrengen, um durch schnelles Drücken von Tasten ihre Lieblingsbilder länger auf dem Bildschirm angezeigt zu halten. Während die erste Aufgabe darauf abzielte, die "Vorliebe" der Teilnehmer für das, was sie sahen, zu beurteilen, maß die zweite Aufgabe den Grad des "Begehrens". Anhand der beiden Aufgaben haben die Forscher dann den Grad des "gemeinsamen Geschmacks" für jeden Bereich, aus dem die Bilder entstammten, gemessen – also das Maß, in dem sich die Menschen darüber einig waren, was sie sehen wollten.

Unterschiedliche Kunstgeschmäcker

Beide Aufgaben zeigten, dass es die größten Übereinstimmungen im gemeinsamen Geschmack bei Gesichtern gibt, gefolgt von Naturlandschaften. Wenn es um Gesichter und Landschaften geht, tendieren unterschiedliche Menschen offensichtlich dazu, das Gleiche zu mögen. Anders sieht die Sache bei Architektur oder Kunstwerken aus. Hier gab es kaum Überschneidungen im Geschmack. Was das Lieblingskunstwerk einer Person war, war für eine andere durchaus das unbeliebteste.

Die nun in der Fachzeitschrift "Cognition" veröffentlichten Studienergebnisse weisen auf einen grundlegenden Unter- schied zwischen natürlich vorkommenden ästhetischen Bereichen und Artefakten der menschlichen Kultur hin. "Ver- schiedene Menschen neigen dazu, auf natürlich vorkommende ästhetische Kategorien auf ähnliche Weise zu reagieren", sagt Edward Vessel, Neurowissenschafter am Max-Planck-Institut für empirische Ästhetik und Hauptautor der Studie, "aber sie reagieren sehr individuell auf Artefakte, also auf von Menschen geschaffene Werke."

Relevanz im Alltag

Obwohl nicht klar ist, was genau den Unterschied zwischen natürlich vorkommenden ästhetischen Bereichen und kultu- rellen Artefakten ausmacht, argumentieren die Autoren der Studie, dass dieser Unterschied etwas mit der Relevanz der verschiedenen Bereiche für das menschliche Alltagsverhalten zu tun haben könnte. "Ästhetische Urteile über Gesichter und Landschaften haben vielleicht eher konkrete Konsequenzen für unsere täglichen Entscheidungen als Urteile über Kunstwerke oder Architektur", vermutet Vessel.

Dies führe vermutlich dazu, dass verschiedene Menschen bei Gesichtern und Landschaften ähnliche Merkmale schätzen. Aus früheren Studien ist bekannt, dass Menschen – unabhängig von Ethnie und kulturellem Hintergrund – Gesichter bevorzugen, die symmetrisch sind und besonders männlich beziehungsweise weiblich ausgeprägt sind. Bei Landschaften wiederum werden allgemein offene Ausblicke, das Vorhandensein von Wasser und Anzeichen für menschliche Nutzung positiv bewertet.

Dass dagegen die Alltagsrelevanz von Kunst und Architektur nicht immer sofort erkennbar ist, könnte dazu führen, dass hier die meisten Menschen nicht zu einem übereinstimmenden Urteil gelangen. In weiteren Studien am Max-Planck-Institut für empirische Ästhetik in Frankfurt will Vessel der Frage nachgehen, ob und inwiefern das menschliche Gehirn auf unterschiedliche Weise auf diese verschiedenen ästhetischen Bereiche reagiert. (red,)



Abstract
Cognition: "Stronger shared taste for natural aesthetic domains than for artifacts of human culture."




Nota. - Das Kreuz ist, dass, wo 'empirische' Ästhetik gesagt wird, evolutionäre* Ästhetitk gemeint ist. Und dies nach der durchaus irrigen Maßgabe, dass 'das Ästhetische' als dem unteren Erkenntnisvermögen angehörend eine unserer primiti- veren geistigen Verrichtungen sei. Denn nur so ist verständlich, dass manche ästhetischen Leistungen als mehr und andere als weniger der Auslese der am besten Geeigneten unterworfen aufgefasst werden! Gewissermaßen 'noch mehr der Natur angehörig' als der Kultur. Maßstab ist handgreiflicher Nutzen auf der ersten semantischen Ebene. 

Wohl kommt es dem Individuum, sobald es darauf reflektiert, so vor, als sei das Urteil gefällt! oder gefällt nicht vor aller sachlichen Erwägung gefallen. Wir wissen aber, dass die zivilisierte Menschheit seit gut zehntausend Jahren in der selbst- geschaffenen Kulturnische der Arbeitsgesellschaft zugebracht hat. Die Frage Wozu taugt es? ist ihr längst habituell ge- worden. Um die Frage, ob es gefällt, im Bewusstsein als primär zu empfingen, muss das Individuum bereits von der vor-bewusst vor-gängigen Frage, wozu es taugt, abgesehen haben. 

Ästhetische Urteile arglos auf der ersten semantischen Ebene anzusiedeln, ist unter dieser mehrfachen Bedingtheit nicht angemessen. Das Sinnliche kam evolutionär zweifellos vor dem Kognitiven. Doch heute ist unser Gehirn ein Ganzes und eine seiner Leistungen ist so 'rezent' wie jede andere. Was immer sinnlich wahrgenommen wird, ist bereits mehrfach re- flektiert und gehört selber sozusagen schon einer zweiten semantischen Ebene an.* 'Dies und jenes ist' empfinden nur noch Kinder, deren Akkulturation eben erst begonnen hat. 'Dies und jenes ist so' empfinden wir alle, wir nehmen alles wahr, als sei es schon, wenn auch unvollständig, so oder so bestimmt, und von der Bestimmtheit zu abstrahieren ist ein sekundärer Akt.

Nun kommen wir zwar zu demselben sachlichen Ergebnis, aber es bedeutet ganz etwas anderes. An dem nackten Gesicht mir gegenüber und an einer Naturlandschaft vor mir muss ich nicht von viel Bedingtheit abstrahieren, sie tritt mir nicht in den Weg und sticht mich nicht ins Auge. Meine Abstraktionsleistung ist eine kleine. Je mehr sich der Anblick unserer überkomplexen Alltagwirklichkeit annähert, umso aufwendiger wird das Absehen. Um so schwieriger wird es, über die Bestimmungen, die andere an den sichtbaren Objekten längst vorgenommen, hinweg zu sehen und das heraus zu suchen, was ich so ansehen kann, als ob es (noch) aller Bestimmtheit ledig sei.** Soll ich mich selber aller Absicht enthalten, muss ich mir erst die Absichten der andern aus dem Blick schaffen.

In der bildenden Kunst kippt die Sache nun wieder um. Ein Bild, eine Skulptur hat einen Gegenstand. Das ist eine erste Reflexion, von der nicht abstrahierbar ist. Habe ich nun diesen Gegenstand zu bestimmen oder kann ich mir das versa- gen? Je 'gegenständlicher' das Bild, umso mühseliger.... usw. Bis Anfang des 19. Jahrhunderts erzählten alle Bilder - sofern sie nicht bloße Landschaft als Gegenstand hatten - eine Geschichte. Erst als sich die Malerei dank der Landschaft vom Geschichtenerzählen und schließlich von den Gegenständen selbst gelöst hatte, können die Bilder rein ästhetisch aufgefasst werden. Und seither gehen die Dispute der Kenner gar nicht mehr um Geschmackssachen, sondern darum, ob dieses oder jenes abzubilden "überhaupt noch Kunst ist". 

Denn merke: Über Geschmack lässt sich vortrefflich streiten. Das haben die alten Römer auch gar nicht bestritten. Sie haben nur gesagt, über Geschmack ließe sich nicht disputieren - nämlich mit Argumenten streiten. Und in der Tat: Beim Argumentieren geht es ums Bestimmen; und das kommt bei Geschmacksfragen immer zu spät.
JE


*) Der evolutionistischen Betrachtung der Ästhetik steht prima facie im Weg, dass Weniges im Menschen so veränderlich und so leicht zu kultivieren ist wie eben - sein Geschmack.

**) In Fichtes Wissenschaftslehre wird zwischen 'Gefühl' und 'Anschauung' streng unterschieden: das Anschauen eines Dings als Dieses ist eine erste Reflxionsbestimmung. 

***) Das gelingt überraschend gut bei den Bildern der amerikanischen Hyperrealisten. Die sehen so hyperbestimmt aus, dass man schon gar nicht mehr wissen will, als was es bestimmt werden soll; und das ist Unbestimmtheit von hinten.