Verpuppte Welt, 1906
aus derStandard.at, 22. Jänner 2019,
Kubin und Blauer
Reiter:
Seelische Abgründe
Das Münchner Lenbachhaus beleuchtet die Verbindung des österreichischen
Zeichners zu der wegbereitenden losen Künstlergruppe
von Ivona Jelcic
"Lieber Kubin!", schreibt Wassily Kandinsky im April 1910 nach Zwickledt
in Oberösterreich, "Arbeiten Sie? Viel? Träumen Sie? Ich mache jetzt
endlich das, was ich ,Compositionen' nennen möchte, und höre beinahe
ausschließlich Schimpfe (...) Ihnen möchte ich gerne die Sachen zeigen."
Alfred Kubin antwortet begeistert: "Vielleicht wird man in Ihnen später
den Beginn einer neuen Kunstepoche sehen."
In der Tat kündigt sich Neues an: Kandinsky hat begonnen, Farben und
Formen frei auf der Leinwand einzusetzen, 1911 weist die Neue
Künstlervereinigung München seine abstrakte Komposition V für eine
Ausstellung zurück. Zusammen mit Franz Marc und Gabriele Münter tritt er
daraufhin aus der Vereinigung aus. Auch Kubin wird von Münter eilig per
Post informiert. Er soll bei der Geburtsstunde des Blauen Reiters dabei
sein.
Die Dame auf dem Pferd, 1901
Irrationale Bedrohungen
In der zweiten Ausstellung der Künstlergruppe im Frühjahr 1912 ist Kubin
mit Blättern aus dem Mappenwerk Sansara. Ein Cyklus ohne Ende
vertreten. In vielfigurigen Szenen brechen irrationale Bedrohungen in
die behäbige bürgerliche Welt ein. Aber Schlangen in der Stadt sind
längst nicht das unheimlichste Gezücht, das Kubins Albtraumwelten
bewohnt. Bereits in den frühen Zeichnungen wimmelt es von spukhaften
Visionen und grausigen Deformationen. Unter den messerscharfen Kufen
eines Schaukelpferds werden menschliche Leiber zerstückelt, Die Angst
hängt als Gespenst am Bein des gestürzten Reiters, um ihn in den Abgrund
zu ziehen. Um 1899 war Kubin, gerade zum Studium nach München gezogen, unter dem
Eindruck der symbolistischen Radierungen Max Klingers in einen
Schaffensrausch geraten. In wenigen Jahren entstand ein riesiges
Konvolut an Tuschfederzeichnungen, die in die Abgründe der Seele
schauen.
Mythisches Tier
Gegenseitige Wertschätzung
Und es war Kandinsky, der Kubins Arbeiten 1904 in der
Künstlervereinigung Phalanx erstmals in München präsentierte. Die enge
Verbindung und gegenseitige Wertschätzung der beiden sollte bis weit
über das durch den Ersten Weltkrieg bedingte jähe Ende des Blauen
Reiters hinaus bestehen bleiben. Und doch war darüber bisher wenig
Konkretes bekannt.
Im Münchner Lenbachhaus, das neben der weltweit größten Sammlung zur
Kunst des Blauen Reiters auch das Kubin-Archiv mit fast 400 Zeichnungen,
Skizzen- und Tagebüchern beherbergt, werden die künstlerischen und
persönlichen Verflechtungen erstmals eingehender beleuchtet.
um 1901
Spannende
Einblicke geben die Briefwechsel Kubins mit den KünstlerInnen des Blauen
Reiters.
Bibelillustration
Über die formalen Gegensätze hinweg war das Interesse am "Geistigen in
der Kunst" ein verbindendes Element. Stilistische Resonanzen zeigen sich
zwischen Kubin und Paul Klee. Die von Annegret Hoberg kuratierte
Münchner Schau zeichnet anhand ausgewählter Arbeiten auch
Entwicklungslinien nach. Und landet dabei in einer Phase Kubins, die von
der Suche nach neuen Impulsen geprägt war und unter anderem zu
Experimenten an einer flächigen Malerei à la Gauguin geführt hat.
Jede Nacht besucht uns ein Traum, um 1902
Interessanter sind da noch Kubins in Wien aufgesaugte Einflüsse von
Koloman Moser, der ihn in die Technik der Kleisterfarbenbilder
einführte. Für eine Weile tauchte er da zu Tiefseegespenstern ab.
1912 war bereits ein lockerer Federstrich charakteristisch für Kubin
geworden. Drei Jahre zuvor hatte er seinen fantastischen Roman Die
andere Seite veröffentlicht, bereits 1908 einen Erzählband von E. A. Poe
illustriert. Kandinsky wünschte sich für den Almanach Der Blaue Reiter
einen Text ("Schreiben Sie davon, was Sie zum Frühstück aßen, bei wem
Sie Schuhe kaufen – alles, was Sie machen, wird gut und mit Dank
aufgenommen!") – geliefert hat Kubin Gezeichnetes. 1913 fragte Franz
Marc bei ihm für ein Bibelillustrationsprojekt mit Kandinsky, Klee oder
Kokoschka an. Kubin war der Einzige, der seine Arbeit noch abliefern
konnte. Marc starb 1916 bei Verdun.
Bis 17. 2.
Lenbachhaus
Mittwoch, 23. Januar 2019
Donnerstag, 17. Januar 2019
Montag, 14. Januar 2019
Raten Sie...
...von wem das ist.
Ein Tipp: Nicht von Kokoschka.
Na schön, ich verrate es Ihnen: Es heißt Somerset House Terrace from Waterloo Bridge und ist von John Constable; um 1819.
Donnerstag, 3. Januar 2019
Ästhetische Betrachtung ist Anschauung gegebener Verhältnisse.
... Ästhetische
Betrachtung ist Anschauung gegebener Verhältnisse. Sie geschieht ohne
andere Absicht als eben die: Ver- hältnisse anzuschauen.
Doch viel weiter als das sich Darbietende abzuweiden reichten seine frühesten Zwecke nicht. Noch heute verbringen die we- nigen überlebenden und in unwirtlichen Gegenden abgedrängten Jäger-und-Sammler-Völker weniger Zeit mit dem Nahrungs- erwerb als ein Bürger der Industriegesellschaft. Ihr Leben ist noch keineswegs von morgens bis abends "verzweckt", Muße haben sie reichlich. Hätten unsere Vorfahren nicht durch neugieriges Betrachten der Erscheinungen ihren Gesichtskreis er- weitert, hätten wir nie Gelegenheit bekommen, uns über Erkennen und Anschauen Gedanken zu machen.
Doch die Erfindung der Arbeit wurde zu einem Flaschenhals. Die Zeit wurde knapp, der Horizont wurde eng. Das müßige Betrachten wurde zum Privileg der Herrschenden, und weil sie, wenn sie nicht Krieg führten, nichts besseres zu tun hatten, konnten sie es kultivieren.
Da sind wir nur. Zweckhaftes Erkennen und uninterssiertes Anschauen haben sich getrennt und unabhängig von einander fortentwickelt. Auf der einen Seite die Industrie, auf der andern die Kunst. Aber im wirklichen Leben nehmen sie keineswegs denselben Rang ein. Der Mensch in der Arbeitsgesellschaft ist in erster Linie absichtsvoll, Betrachten ist ein Luxus, den er sich allenfalls nach getaner Arbeit leisten kann. Oder weil er den herrschenden Klassen angehört und andere für sich arbeiten lässt.
Nachtrag. - Dass ästhetische Betrachtung weniger Werten von Qualitäten als insbesondere Anschauung von Verhältnissen ist, hat zuerst J. F. Herbart bemerkt; siehe Praktischen Philosophie. Qualifizieren von Verhältnismäßigem - das ist ein origineller Gedan- ke.
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