Bilder vom Untergang des amerikanischen Reiches
Die Kraft der Erinnerung, die zurückbleibt: Das Pariser Centre Pompidou
widmet dem großen amerikanischen Zeichner Cy Twombly eine grandiose
Retrospektive. Es ist schön da und rätselhaft.
Seine Bilder sind Rätsel. Als sei etwas Großes, Unbestimmtes über die Leinwand gehuscht und habe dort Spuren hinterlassen, die sich nicht mehr vollständig lesen und entschlüsseln lassen.
Hieroglyphen, Kringel, kaum Farben, viel Luft. Cy Twomblys Bilder haben eine verstörende Schönheit, die sich scheinbar sofort erschließt, die bezaubert, betört, aber es bleibt immer ein Rest Rätsel.
Was so scheinbar einfach, ja kindlich wirkt, ist tief in der kleinen und großen Geschichte des Menschseins verwurzelt. Liebe, Begehren, Tod, römische Kaiser und griechische Helden bevölkern seine Bilder, am Ende tauchen die Blüten auf, das Sinnbild des selbstverliebten Narziss und das Symbol der Kunst.
Erste Rückschau seit Twomblys Tod 2011
Zurückgenommen und farblos beginnt er das Abenteuer, um mit einer Farbexplosion zu enden. Als alter Mann erst erobert er die bunte Welt.
„Cy Twombly“ heißt die große Retrospektive schlicht, die jetzt das Pariser Centre Pompidou dem amerikanischen Künstler widmet. Es ist die erste große Rückschau seit Twomblys Tod im Jahr 2011.
Sie zeichnet 60 Jahre seines Schaffens nach. 140 Werke sind in der großen Galerie versammelt, Zeichnungen, Fotografien und Skulpturen, aber vor allem Gemälde natürlich, darunter einige, die noch nie in Europa zu sehen waren.
In Paris kann man beispielsweise eines von Twomblys „doodle paintings“ bewundern, weiße Kreidekringel auf grauem Schultafelgrund, dessen Pendant im vergangenen Jahr bei Sotheby’s in London für 70 Millionen Dollar versteigert wurde.
Cy Twombly, 1928 als Edwin Parker Twombly Jr. in Lexington, in den amerikanischen Südstaaten geboren, hat seinen Spitznamen Cy vom Vater geerbt. Den hatten sie, weil er Sportlehrer und Baseballspieler war, nach Cyclone Young, einem Pitcher der Chicago White Socks benannt.
Noch einmal malen auf dem Totenbett
Cy wie Zyklon also. „Selbst der Name ist interessant“, sagte Roland Barthes in früher Vorahnung zum Pariser Galeristen Yvon Lambert.
Auf einer Bank zwischen den Gemälden, im sechsten und letzten Stock des Centre Pompidou, sitzt Nicola del Roscio, Twomblys langjähriger Gefährte im Leben, Assistent aber vor allem Präsident der Twombly Foundation, und erzählt vom Tod des Künstlers. Als er mit 83 Jahren in einem Krankenhaus in Rom im Sterben lag, verlangte er noch einmal nach Pinsel und Farbe. Twombly war schon zu schwach, der Wirbelsturm aus ihm gewichen.
Fifty Days at Iliam Shades of Achilles, Patroclus and Hector, 1978
Aber er hielt die Vorhänge seines Zimmers für Leinwände. Als wollte er noch im Augenblick des Todes tun, was sein Leben ausgemacht hatte: Spuren hinterlassen. „The strength of memory that is left behind.“ Die Kraft der Erinnerung, die zurückbleibt. Das waren seine letzten Worte, erzählt del Roscio.
Die Twombly-Retrospektive ist das, was man heute ein Event nennt, ein Must. Sie macht zugleich den Auftakt einer langen Reihe von Ausstellungen in Paris und ganz Frankreich, mit der das Pariser Centre Pompidou im kommenden Jahr seinen 40. Geburtstag feiert.
Schatten des Mordes an John F. Kennedy
Obwohl chronologisch angelegt, ist sie „mit dem Herzen“ gehängt, versichert Jonas Storsve, Konservator am Centre Pompidou und Kommissar der Ausstellung. Er will mit seiner Auswahl vor allem Twomblys Obsession der Serie Rechnung tragen.
In drei große Teile gliedert sich die Schau, die drei wichtigen Zyklen gewidmet sind: „Nine Discourses on Commodus“, gemalt 1963 nach dem Mord an Kennedy, „Fifty Days at Iliam“ aus dem Jahr 1978 und „Coronation of Sesostris“ aus der Sammlung Pinault. Aber zwischen diese drei großen Orientierungslinien der Ausstellung schieben sich andere Zyklen und Serien, darunter auch Fotografien.
Auf seiner ersten Reise nach Europa und Nordafrika, die er mit seinem Freund Robert Rauschenberg unternimmt, fotografiert Twombly einen Tisch mit Leinendecke in Tétouan. Aus seiner Zeit als Student im legendären Black Mountain College ist eine Serie von Schwarzweißfotos mit Flaschen und Gefäßen zu sehen, die an die Stillleben Giorgio Morandis erinnern.
Starvse ist es gelungen, Bilder zusammenzubringen, die lange nicht nebeneinander zu sehen waren: „Empire of Flora“, „The School of Fontainebleau“ aus der Berliner Sammlung Marx treffen auf „Dutch Interior“ und „School of Athens“, allesamt aus den frühen Sechziger Jahren.
Der trauernde und der rächende Achilles
Am eindrucksvollsten aber ist die Gegenüberstellung vom trauernden und rächenden Achilles. Achilles Rache, „The Vengeance of Achilles“, heißt die Leihgabe aus dem Kunsthaus Zürich: ein Kapuzenwesen? Es ist das A, das fortan Achilles für ihn repräsentiert, zugleich aber auch ein Vulkan kurz vor dem Ausbruch oder die Spitze des Kostüms der Henker des Klu Klux Klan.
Ihm gegenüber „Achilles Mourning the Death of Patroclus“: eine dünne Linie trennt das Bild in ein oben und unten, vorher und nachher, Leben und Tod. Das Leid Achilles hat sich verknäult. An einem dünnen Faden hängt es an dem, was vom verstorbenen Freund bleibt. Patroklos war in die Rüstung des Freundes Achilles geschlüpft und für ihn gestorben. Twombly las im Trojanischen Krieg vor allem das Unglück liebender Männer.
Den Mord an Präsident Kennedy verarbeitet er in einer Serie aus neun Gemälden, „Nine Discourses of Commodus“. Als der New Yorker Galerist Leo Castelli die Reihe 1964 zeigt, ist die amerikanische Kritik unerbittlich: „Ein Fiasko“, notiert Donald Judd im „Arts Magazine“.
Ihr Titel spielt an auf den blutrünstigen römischen Herrscher, aber wer die Bilder länger betrachtet, sieht die Filmaufnahmen aus Dallas vor sich. Auf grauen, glänzendem Grund, durchsetzt mit Rosa, Reminiszenz an Jackies rosafarbenes Kostüm und Hut, verteilt sich das Blut und es ist, als wäre das Hirn des Präsidenten ein zweites Mal explodiert.
Der Niedergang des amerikanischen Reiches
„Cy war schockiert nach dem Mord Kennedys“, erzählt del Ruscio, „er sah zwischen dem Rom von Commodus und der Gewalt Amerikas eine Parallele.“ Es war der Beginn des Niedergangs des Römischen Reiches.
Die Ausstellung zeigt ein Werk zwischen den Welten. Zwischen Europa und Amerika, zwischen Vergangenheit und Gegenwart. Es ist angesiedelt irgendwo zwischen geschriebenen Wort, Abdruck und Spur, im bedeutungsvollen Nichts: ein leises Murmeln, durchsetzt vom grellen Schrei.
Cy Twombly, bis 24. April 2017, Centre Pompidou, Paris
Untitled, 1985
Nota. - Also mir hat sich die verstörende Schönheit dieser Bilder nicht sofort erschlossen. Als ich die ersten - ziemlich späten - sah, habe ich laut gelacht. Die Anekdote, wonach ein amerikanischer Kritiker mit dem Satz "Das kann meine vierjährige Tochter auch" Furore gemacht hat, hatte ich grade zuvor gehört, und ich fand ihn durchaus glaubhaft. Ich habe mir eine ganze Menge von diesen Sachen ansehen müssen - aber das habe ich freiwillig getan -, um in der Masse, dem Vergleich, den gemeinsamen Nennern und den Unterschieden doch etwas darauf zu finden, was nicht Zufall und Beliebigkeit, sondern gestaltender... Wille mag ich nicht sagen, aber Absicht wäre direkt falsch; jedenfalls etwas, womit die Augen eine Weile beschäftigt sind.
Ob es Kunst ist, kann ich nicht beurteilen. Ein Künstler hat es gemacht, als ein solcher hat er gelebt und, das kann man mit Rücksicht auf den Handeln gar nicht laut genug sagen, gewirkt. Alles Weitere wäre eine ästhetische Frage, da will ich mich auch noch nicht ranwagen. Aber es ist auf jeden Fall eine lebenslange Variation zu dem Thema Was kann man denn heute noch malen? - und das ist natürlich Kunst.
Ein Schlaumeier wird sagen: Aber ob es wirklich gemalt ist, wird man ja wohl fragen dürfen. Doch ob er nicht mindestens mit seinen ganz späten Sachen den zeitgenössischen Kunstmarkt hat verhöhnen wollen, braucht man sich gar nicht zu fragen.
JE
aus einem Kommentar, 18. 9. 2015
Nota. - Das kann meine vierjährige Tochter auch, hat ein namhafter Zeitungsmann wohl gesagt, und das machte die Runde. Es hängt Twombly - außer bei den Aficionados - bis heute an. Bei vielen, ach, den meisten Stücken muss man sagen: zu Recht.
Ionisches Meer, 1987. (Das könnte die vierjährige Tochter vielleicht doch nicht, oder höchstens zufällig, aber nicht mit Absicht. Und dann ist ein keine Kunst.)
Aber wenn daraus geschlossen wird, dann könne es keine Kunst sein, denn die kommt von Können, so wird es falsch. Wenn ihm das gefiel, wenn er es gerne malte, wenn Andre darauf etwas zu sehen meinen, was sie vorher nicht kannten - welchen handwerklichen Kanon verlangt man dann noch, und wieso? Wenn er wiedergeboren würde, würde er alles nochmal genauso malen, aber keinem Menschen zeigen und für sich behalten, hat er gesagt. Warum soll man ihm das nicht glauben?
Vielleicht war er wohlhabend und auf den Verkaufspreis nicht angewiesen. Dann verstünde ich auch, warum ich das Gefühl nicht loswerde: Der Mann hat das alles zum Hohn auf den Kunstmarkt gemacht. Warum soll ich über meine Bilder reden? hat er gesagt. Ich habe sie doch gemalt. Das reicht. Wenn ich dann lese, welcher Tiefsinn den Ausstellern eingefallen ist, denke ich: Das ist ein Gesamtkunstwerk unter dem Titel Die Selbstreflexivität der Gegenwartskunst und ihres Geschäftsbetriebs.
Untitled 1985
Ich will aber nachtragen: Das ist ein bisschen ernst gemeint. Es ist nämlich nicht wahr, dass er nichts konnte. Ich habe einiges aus den 80er Jahren gesehen - siehe oben -, das man sich gut eine Weile lang anschauen kann. Vielleicht zeige ich das hier mal, aber vorher will ich mir doch erst noch ein wenig mehr ansehn.
JE
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