Samstag, 29. Dezember 2018

Elementare Ästhetik.

kurt michel, pixelio.de

Das Schönste, das wir erleben können, sei das Geheimnisvolle, hat Albert Einstein gesagt. Der war ein großer Geist, wir zitieren ihn gern, und so kommt manch beiläufig gesprochener Satz zu hohen Ehren. Ob er diesen beiläufig ge- sprochen hat, weiß ich nicht. Aber eine ästhetische Theorie wollte er sicher nicht aufstellen.

Hätte er aber können: Es ist ihr Geheimnis, das die Schönheit ausmacht. "Kunstwerke sind Rätsel", meinte Adorno, und das war nicht beiläufig gemeint. Rätselhaft sind Kunstwerke freilich nur, wenn sie welche sind. Doch gibt es Na- turerscheinungen, die unbeschadet ihrer wissenschaftlichen Erklärung immer noch rätselhaft bleiben. Ob sie dann schön sind, mag der eine so, der andere anders sehen. Ästhetisch erheblich sind sie jedenfalls. 




Freitag, 28. Dezember 2018

Der ästhetische Zustand - gehirnphysiologisch.

aus scinexx                                                                                                                       van Gogh, Sternennacht

Gute Kunst wirkt nach 
Unser Gehirn reagiert in überraschender Weise auf gute Kunst.

Tiefgehender Eindruck: Was passiert in unserem Gehirn, wenn wir ein Kunstwerk betrachten? Diese Fragen haben nun Forscher erstmals mittels Hirnscans beantwortet – und Überraschendes entdeckt. Denn bei Bildern, die wir als besonders beeindruckend empfinden, schaltet sich ein Hirnnetzwerk ein, dass normalerweise nur unser Innenleben steuert. Lässt uns das Bild dagegen kalt, bleibt auch dieses „Default Mode Netzwerk“ stumm. 

Schönheit liegt nicht nur im Auge des Betrachters, sondern vor allem im Gehirn. Denn erst die Reaktion unseres Denkorgans entscheidet, ob ein ästhetischer Reiz bei uns Wohlgefühl auslöst oder nicht. Studien zeigen, dass gleich mehrere Netzwerke im Gehirn reagieren, wenn wir etwas als schön empfinden. Auch unser Belohnungszentrum ist beteiligt und ruft das besonders Glücksgefühl hervor.

Blick ins Gehirn beim Kunstgenuss

Doch gerade bei der Betrachtung eines Kunstwerks bleibt unser Eindruck oft nicht statisch, sondern verändert sich mit der Dauer des Anschauens. Stellen wir uns vor, wir betrachten van Goghs „Sternennacht“ zum ersten Mal. Vielleicht fällt uns zuerst das Vorherrschen der Farbe Blau auf. Dann schauen wir genauer hin und entdecken die Sterne und die Farbringe um sie herum. Schließlich nehmen wir das kleine Dorf und seine Details wahr. Dabei wirkt das Blau des Himmels immer noch nach.

Was im Gehirn bei einer solchen Kunsterfahrung abläuft, haben nun Amy Belfi von der Missouri University of Science and Technology näher untersucht. Für ihre Studie baten die Forscher ihre Probanden, sich jeweils 15 Sekunden lang ein Kunstwerk auf dem Bildschirm anzuschauen. Während dieser Zeit zeichnete ein funktioneller Magnetresonanz-Tomograf (fMRT) die Hirnaktivität der Teilnehmer auf.

Netzwerk fürs Innenleben

Das Ergebnis war überraschend: Immer dann, wenn die Probanden ein Bild als besonders bewegend oder beeindruckend empfanden, wurde in ihrem Gehirn das sogenannte Default Mode Netzwerk (DMN) aktiv. Dieses Netzwerk jedoch feuert normalerweise vor allem dann, wenn wir uns der inneren Nabelschau hingeben – wenn wir tagträumen, geistig abschalten oder auch in leichtem Schlaf liegen.

Normalerweise müsste daher die Aktivität des Default Mode Netzwerks sinken, wenn wir ein Bild betrachten. Denn dann verarbeitet das Gehirn vornehmlich äußere ästhetische Reize. Tatsächlich blieb das DMN auch immer dann stumm, wenn die Studienteilnehmer ein Kunstwerk anschauten, das sie nicht attraktiv fanden, wie die Forscher berichten. 

Überraschende Aktivität 

Anders aber ist es, wenn ein Kunstwerk uns besonders gefällt: „Finden wir ein Kunstwerk ästhetisch ansprechend, werden Teile des DMN wieder aktiv, obwohl der Fokus auf der Außenwelt – dem Kunstwerk – liegt“, berichtet Koautor Edward Vessel vom Max-Planck-Institut für empirische Ästhetik. Unser Default Mode Netzwerk bleibt dann über die gesamte Zeit der Betrachtung aktiv.
 
Nach Ansicht der Forscher belegt dies, dass die Wirkung eines besonders beeindruckenden Kunstwerks erst durch die Kombination äußerer Reize und innerer Reaktionen zustande kommt. Unsere Aufmerksamkeit ist dabei einerseits auf die Außenwelt, andererseits auf unser Innenleben gerichtet. „Wir konnten beobachten, dass dieser Hirnzustand relativ selten eintrat und wahrscheinlich ein Merkmal für bewegende ästhetische Erfahrungen ist“, sagt Belfi. (NeuroImage, 2018; doi: 10.1016/j.neuroimage.2018.12.017)

Quelle: Max-Planck-Institut für empirische Ästhetik


Freitag, 21. Dezember 2018

Van Gogh ganz ohne Manier.

van Gogh, In den Dünen, 1883

Am Großteil der Bilder, die van Gogh vor seiner provenzalischen Zeit gemalt hat, stört mich einerseits der schockierende Mangel an Talent (oder an gestalterischem Willen), und andererseits die krampfhafte Suche nach einem eigenen Stil. Als er aber in Arles seinen eigenen Stil mehr als reichlich gefunden hatte, brach ein zuvor ganz unmerkliches Talent hervor. 

Nicht ganz, nur fast unmerklich. Ein paar Stücke waren ihm früher schon unterlaufen, wo er ganz unbefangen nur das gemalt hat, was er eben vor Augen hatte, und so, wie seine Hände es ihm eben erlaubten. Die paar Blicke vom Montmartre über die Dächer von Paris vom Mai 1886 gehören dazu.

Und dieses hier: "Ich kam triefend nass aus den Dünen hinter Loosduinen nach Haus, wo ich drei Stunden an einer Stelle im Regen gesessen hatte, wo alles nach Ruisdael, Daubigny oder Jules Dupré aussah."

Die Stelle aus einem Brief zeigt, dass er ganz unbefangen doch nicht war. Ruisdael ist ein ehrgeiziger Vergleich, und Daubigny und Dupré waren renommierte Vertreter der Schule von Barbizon. Ganz so intimistisch wie jene malt er nicht mehr, er ist schon expressiver, doch die Farben sind ganz Corot; selbst das knallrote Fleckchen rechts unten fehlt nicht.

 

Dienstag, 18. Dezember 2018

Unscheinbare Avantgarde.

Claude Monet, Gare St. Lazare im Sonnenlicht, 1877

Monet hat sich nicht um Avantgardismus bemüht. Er hat, wie es sich eigentlich gehört, jedem Motiv gegeben, was ihm frommte.

Eine besondere Neigung hatte er für die Pariser Bahnhöfe, Dampf und Technik, für Monets Verhältnisse ziemlich trüb und düster, aber nicht ohne Dynamik.

Hier aber ist nicht das Innere eines Bahnhofs, sondern die Außenansicht. Die Sonne scheint, dass da Eisenbahnen fahren, deutet nur der Dampf im Licht an. Das Bild entstand auf dem Höhepunkt der impressionistischen Bewe- gung. Das sieht man. Aber es weist weit darüber hinaus, man sieht Les Fauves, deutschen Expressionismus und die Farben des Münchener Kandinsky.

Das Bild ist wohl recht unbekannt, ich habe es nie zuvor gesehen. Dabei weist es weit über seine Zeit hinaus und ist eigentlich ein Kracher.


Mittwoch, 28. November 2018

Das Schönste.



Das Schönste, das wir erleben können, ist das Geheimnisvolle. Es ist das Grundgefühl, das an der Wiege von wahrer Kunst und Wissenschaft steht.

Albert Einstein


 

Samstag, 17. November 2018

Mussolinis Architektur als Weltkulturerbe.

aus FAZ.NET, 17.11.2018-19:14                                                        Lakkis elliptische Markthalle mit Rechteckturm

Griechische Insel Leros 
Mussolinis Architektur als Welterbe?

von Monika Etspüler, Lakki 

Die griechische Insel Leros will für ihre Architektur den Welterbestatus. Die dort gelegene Stadt Lakki wurde als Einheit im Stil des Rationalismus gebaut, sie entstand, als die Insel zu Italien gehörte.

Die Insel Leros ist so etwas wie die Unbekannte der griechischen Dodekanes-Gruppe in der östlichen Ägäis. Im Hauptort des Eilands mit achttausend Einwohnern, Agia Marina, findet man die klassische Postkartenidylle enger Gassen, weißer Fassaden und strahlendblauem Himmel über azurfarbenem Meer. Doch Leros hat noch ein anderes Gesicht, zu finden auf der Westseite der Insel in dem Ort Lakki. Die prägenden Elemente dort sind breite Straßen, Alleen mit Eukalyptusbäumen und großzügig angelegte Gebäude.



Die Uferpromenade ziert ein hufeisenförmiges Kino, dessen zylindrische Front sich dem Meer entgegenwölbt. Unweit des ehemaligen Hotels Roma ragen die hohen, schmalen Arkaden der Grundschule empor, an die sich wie ein Ufo ein rundes Atrium anschließt. Eines der architektonisch kühnsten Gebäude ist das Ensemble der elliptischen Markthalle mit viereckigem Uhrenturm, bei dem rechte Winkel, kubische und Kreisformen eine gewagte, aber harmonische Synthese eingehen.


Der Ort beginnt sich herauszuputzen. Doch viele Gebäude dämmern dem Zerfall entgegen. Dennoch ist George Trampoulis, der Leiter des historischen Archivs von Leros, der Ansicht, Lakki verdiene es, in die Liste des Unesco-Welterbes aufgenommen zu werden. Trampoulis argumentiert mit den baulichen und historischen Besonderheiten der in den dreißiger Jahren errichteten Architektur. Lakki ist die einzige Stadt außerhalb Italiens, die als funktionsfähige Einheit im Stil des Rationalismus geplant und errichtet wurde. Diese italienische Variante der Klassischen Moderne, die sich durch Minimalismus und Funktionalismus auszeichnet, darf in einem Atemzug mit Mies van der Rohes Weißenhofsiedlung in Stuttgart genannt werden. Doch während die Wohnsiedlung des deutschen Werkbundes wegen ihrer weißen Dachterrassen als „Araberdorf“ verspottet wurde und Hitler sie abreißen lassen wollte, entwickelte sich die „Architettura Razionale“ unter Benito Mussolini zu einer Hauptströmung in der italienischen Architektur und zur vorherrschenden Stilrichtung des Faschismus.


Vormachtstellung in der Ägäis

Vorhersehbar war das nicht. Im Gegensatz zum nationalsozialistischen Deutschland hatte das faschistische Italien lange keine einheitliche Kultur- und Kunstideologie. Unterschiedliche Architekturströmungen bekämpften einander. Noch in den zwanziger Jahren dominierten verschiedene Ausprägungen des Historismus. Eine Gruppe junger italienischer Architekten war es, die diese Bauweisen angesichts der technischen und industriellen Entwicklung des frühen zwanzigsten Jahrhunderts als nicht mehr zeitgemäß empfand. Sie forderte eine Rückbesinnung auf die geometrischen Formen der Antike. Baumaterialien wie Beton, Stahl und Glas sollten Transparenz und Funktionalität unterstreichen. Damit war die Bewegung der Architettura Razionale begründet.





Als Paradebeispiele für sie gelten Musterstädte wie Sabaudia, Pontinia oder Pomezia südlich von Rom. Sie zeichnen sich durch monumentale Gebäude mit schmucklosen Fassaden aus, die einer strengen Geometrie gehorchten und entlang axialer Straßen und großer Plätze angeordnet waren. Auch auf den Inseln des Dodekanes und in den ehemaligen afrikanischen Kolonien der Italiener finden sich zahlreiche Beispiele rationalistischer Architektur. Doch wie kam es, dass fern von Rom eine ganze Stadt in diesem Stil aus dem Boden gestampft wurde?


Nach Jahrhunderten unter osmanischer Herrschaft gingen die Dodekanes-Inseln 1923 in den Besitz des Königreichs Italien über. Mussolini betrachtete die Inselgruppe als wichtigen Standort zur Sicherung seiner Vormachtstellung in der Ägäis. Lakki war damals ein unbedeutendes Dorf in sumpfiger Gegend; der Ort besaß aber den größten natürlichen Hafen im östlichen Mittelmeer, der sich hervorragend für militärische Zwecke eignete. Mussolini ließ ihn zu einem zentralen Flottenstützpunkt mit Fliegerbasis ausbauen. Parallel entstand die Stadt Lakki. An ihrer Grundstruktur hat sich bis heute nichts geändert. In Hafennähe liegt der Wirtschafts- und Geschäftsbezirk mit Kino, Hotel und Markt. Dahinter erstrecken sich die Wohnviertel, in denen die italienischen Arbeiter, Offiziere und Unteroffiziere ihre Quartiere hatten. Der Ort, geplant für einige tausend Menschen, erhielt ein Krankenhaus, eine Kirche und hieß fortan nicht mehr Lakki, sondern – wohl in Anspielung auf das riesige Hafenbecken – Porto Lago.

 

„Lakki ist zwar im rationalistischen Stil erbaut, jedoch nicht vergleichbar mit Städten wie Sabaudia“, urteilt Trampoulis. Die Architektur erreiche hier ein viel höheres Maß an Individualität und Gestaltungsvielfalt als in Italien. „Vermutlich verschaffte die große Entfernung zu Rom den Städtebauern mehr Freiräume und Möglichkeiten zum Experimentieren“, meint er. Ähnlich äußerte sich der griechische Architekt Anthony C. Antoniades schon in den achtziger Jahren. Antoniades schrieb damals, die Gebäude von Lakki sollten als glücklicher Unterschied zu den zentralen Positionen und Praktiken in ihrer dezentralen Kreativität und relativen Freiheit betrachtet werden. 


Antoniades verlangte auch, endlich die rationalistische Architektur als solche zu würdigen statt sie nur mit dem Faschismus gleichzusetzen. Architekturkritiker diskutieren freilich weiterhin darüber, ob es angemessen sei, Bauten unter rein ästhetischen Gesichtspunkten zu beurteilen, ohne die mit ihnen verknüpfte Ideologie zu berücksichtigen.


Eindeutig fiel jedoch die Reaktion der einheimischen Bevölkerung aus, nachdem die Inselgruppe 1947 an Griechenland abgetreten wurde. Für die Menschen war zunächst alles, was mit italienischer Architektur zu tun hatte, mit ihren Erfahrungen unter dem italienischen Faschismus verbunden. Diese extreme Ablehnung erklärt sich nicht zuletzt durch die Figur des Cesare Maria De Vecchi, der ab 1936 Gouverneur auf den Dodekanes war. Mit seiner aggressiven Italianisierung brachte er die Bevölkerung gegen sich auf. Er erklärte Italienisch zur offiziellen Sprache, entzog den Einheimischen das Wahlrecht. Außerdem setzte De Vecchi die antisemitischen Rassengesetze auf den Dodekanes um. Als er 1940 die Inseln verließ, blieben vor allem Ressentiments gegen alles, was mit ihm in Verbindung gebracht wurde. Mit der Folge, dass auch die rationalistischen Gebäude von Lakki verrotteten.

 
Erst allmählich wurde deren architektonische und historische Bedeutung wiederentdeckt. Mit Hilfe staatlicher und privater Gelder begann man mit Sanierungsmaßnahmen. Einer, der das Kulturerbe Lakkis zu seiner Herzensangelegenheit gemacht hat, ist der Italiener Enzo Bonanno. Jahrelang waren Bonanno und seine Frau mit ihrer Segelyacht im Mittelmeer unterwegs. 1998 legten sie in Leros an. Seitdem leben sie auf der Insel. Auf die Frage, warum, erklärt er: „Nicht wir haben die Insel gefunden, sondern die Insel uns.“ Mit dem von ihm gegründeten Verein „Freunde von Leros“ pflegt Bonanno einen regen Kulturaustausch und will die rationalistische Architektur Lakkis in der Welt bekannt machen.

Donnerstag, 15. November 2018

So bunt war die Antike.

aus Die Presse, Wien, 11. 11. 2018

Bunte Antike

Nicht nur Marmorstatuen waren einst bunt bemalt. Auch Bronzeskulpturen waren über und über farbig gestaltet.


Spätestens seit einigen Großausstellungen – zuletzt 2012/13 auch im Wiener Kunsthistorischen Museum – ist der interessierten Öffentlichkeit klar, dass das Bild der Antike in unseren Köpfen nicht immer der Realität entspricht. Konkret: Antike Statuen erstrahlten nicht in makellosem Weiß, sondern waren über und über bunt bemalt. Anders als dies der Vater der Archäologie, Johann Joachim Winckelmann, lange Zeit propagierte, wurden Gesichter einst fleischfarben gefärbt, Gewänder waren bunt gemustert, Augen lebensecht nachgebildet usw. Das zeigten moderne Analysemethoden wie etwa UV-Reflektografie oder -Fluoreszenz, mit deren Hilfe Farbreste auf dem Marmor nachgewiesen wurden.
 

Dass die Antike bunt war, ist heute Stand des Wissens – Rekonstruktionen des früheren Erscheinungsbildes sind in allen großen Museen zu bestaunen, inklusive denen in Rom und Athen.

Bei Bronzestatuen sieht die Sache anders aus: Da mit herkömmlichen Analysemethoden auf Metall kaum Spuren von Überzügen etc. nachgewiesen werden können, war man bis vor Kurzem der Meinung, dass die Metallkunstwerke ausschließlich durch die Kraft ihrer bildhauerischen Gestaltung wirken. Doch mit neuen Analysemethoden (Röntgenfluoreszenz, Thermografie) zeigte sich, dass diese Kunstwerke ebenfalls farbig gestaltet waren.

Eine auf solchen Erkenntnissen beruhende Rekonstruktion ist derzeit im Liebieghaus in Frankfurt/Main zu bewundern. In der Sonderausstellung „Medeas Liebe“ werden Nachbildungen von zwei lebensgroßen Statuen gezeigt, die 1885 am Quirinalshügel in Rom gefunden wurden. Laut Ausstellungskurator Vinzenz Brinkmann handelt es sich um Amykos und Polydeukes, zwei Gestalten aus der Argonautensage, die sich einen heftigen Faustkampf geliefert haben. Die Platzwunden, Beulen, Blutergüsse und -tropfen sind mit roten Kupfer- und Granateinlagen betont (für die es im Original Aussparungen in der Bronze gab), die Augäpfel wurden mehrfarbig aus geschnittenen Steinen ergänzt, die Haut- und Haarpartien mit schwefeligen Substanzen und mit in Leinöl gelöstem Bitumen gezielt in unterschiedlichen Farbtönen patiniert.


Im Detail kann man über die Rekonstruktionen sicherlich streiten – Brinkmann spricht auch von einem „Vorschlag zum originalen polychromen Erscheinungsbild“. Doch der Gesamteindruck ist schlicht überwältigend! So wird Antike erlebbar – und selbst jene alten Mythen, die wir aus der Schulzeit als verstaubt und verworren in Erinnerung haben, werden wieder lebendig.


Der Autor leitete das Forschungsressort der „Presse“ und ist Chefredakteur des „Universum Magazins“.


(C) Liebieghaus Skulpturensammlung, Frankfurt am Main


Pressetext Liebieghaus Skulpturensammlung, Frankfurt am Main: 

Besonders interessant ist, dass die Macher der Ausstellung den Faustkämpfer vom Quirinal in der Argonautensage verorten. „Die Argonautensage ist Themenkomplex der griechischen Mythologie und handelt von der Fahrt des Iason und seiner Begleiter nach Kolchis im Kaukasus, der Suche nach dem Goldenen Vlies und dessen Raub. Die Reisegefährten werden nach ihrem sagenhaft schnellen Schiff, der Argo, die Argonauten genannt.“ (Wikipedia) „Seit ihrer Auffindung 1885 ist die Deutung der berühmten Bronzen vom Quirinal, des sog. Faustkämpfers und des sog. Thermenherrschers, umstritten. Untersuchungen im Kontext der vom Liebieghaus betriebenen Polychromieforschung haben neue Erkenntnisse zur formalen und erzählerischen Gestaltung der beiden Bronzen erbracht und ihre Deutung als Darstellung eines der zentralen Abenteuer der Argonautensage bestätigt. Dadurch rückt die Gruppe in den Fokus des Ausstellungsprojektes, für das ein aufwendiger Nachguss der Statuen realisiert wurde. (…)

Seit ihrer Auffindung 1885 in Rom ist die Deutung des sog. Faustkämpfers und des sog. Thermenherrschers, zwei der wenigen im Original erhaltenen griechischen Großbronzen, umstritten. Anfänglich wurden beide Bronzefiguren einer Statuengruppe zugeordnet. Später konstatierte man einen abweichenden Zeitstil und bestritt die Zusammengehörigkeit.
 

Als man noch eine gemeinsame Herkunft der Bronzen annahm, schlug man für die Deutung der Figuren bereits eine Begebenheit aus der griechischen Argonautensage vor: Der griechische Held Polydeukes, Bruder des Kastor, besiegt im fernen Thrakien Amykos, den boxsüchtigen König der thrakischen Bebryker, im Faustkampf. (…).


 
Die Untersuchungen im Kontext des Liebieghaus Polychromieprojekts haben neue Erkenntnisse zur formalen und erzählerischen Gestaltung der beiden Bronzen erbracht. Es kann nun in der Ausstellung gezeigt werden, dass der sog. Thermenherrscher Schwellungen an Gesicht und Ohren sowie an den Händen aufweist. Dies legt nahe, dass auch diese Statue eine Person zeigt, die gerade einen schweren Boxkampf gerungen hat. Ebenso ließen sich für den Faustkämpfer neue Erkenntnisse gewinnen: An seiner Brust haben sich Ritzungen einer „barbarischen“ Körperbehaarung finden lassen. Dieses „ungepflegte“ Körperhaar macht die Figur unzweideutig zur Darstellung eines Nichtgriechen.
 
Durch die Bestätigung der Deutung der berühmten Bronzen vom Quirinal als Darstellung eines der zentralen Abenteuer der Argonautensage rückt die Gruppe in den Fokus der Ausstellung. Die soeben fertiggestellten spektakulären Rekonstruktionen der Statuen zeigen wichtige narrative Elemente, die die Erzählung um die Figuren Polydeukes und Amykos besonders anschaulich machen. 

Dienstag, 30. Oktober 2018

Heinrich Füssli, ein Gruselromantiker im Rokkoko.

Johann Heinrich Füssli: „Amor und Psyche“ (um 1810)   | Foto: kunstmuseum
aus Badische Zeitung, 27. Oktober 2018                                                              Johann Heinrich Füssli Amor und Psyche, um 1810

Ganz großes Drama 
Das Kunstmuseum Basel widmet dem Schweizer Maler Johann Heinrich Füssli eine Ausstellung.

Von Hans-Dieter Fronz 

Sogar ein Bier brauen ließen sie am Rheinknie zu seinen Ehren. "Veli Shakesbeer", ein dunkles, leicht würziges Gebräu wie zu Shakespeares Zeiten, so ist auf dem Etikett zu lesen, gibt es im Restaurant des Kunstmuseums Basel. Nutzte Johann Heinrich Füssli (1741–1825) für seine Bilder mit literarischen Motiven doch als Vorlagen gerne Szenen aus den Dramen des großen Briten. In London wurden sie, mit Werken anderer Künstler, von 1786 an dauerhaft in zwei Shakespeare-Galerien präsentiert. 17 von ihnen finden sich jetzt unter den knapp 70 Gemälden des Künstlers mit literarischen Sujets im Kunstmuseum Basel.

Der Nachtmahr, Zweite Fassung

Ein Bild von Füssli kennen viele. Mit "Nachtmahr" gelang dem gebürtigen Zürcher 1782 in London eine Sensation. Dort hatte er sich 1765 niedergelassen, dort lebte er – mit der Unterbrechung eines neunjährigen Rom-Aufenthalts – bis zu seinem Tod 1825. Das frappierend modern anmutende Gemälde existiert in etlichen Varianten. Eine davon, aus einer Schweizer Privatsammlung, bereichert jetzt die Ausstellung "Füssli. Drama und Theater". Das Bild läuft sozusagen außer Konkurrenz. Denn während Thema der Schau Füsslis Gemälde zu Werken der Literatur sind, fehlt dem "Nachtmahr" ein literarischer Bezug. Oder hat die auf einem Sofa im Gazekleid hingestreckte Dame vor dem Einschlafen womöglich belletristischen Stoff konsumiert, der ihr nicht gut bekommen ist? Eine jener zu Füsslis Zeit modischen Schauerge- schichten vielleicht – "Gothic Novel" hieß das Genre, auch der überaus gebildete und belesene Künstler verschmähte es keineswegs.


Cerasimus und Huon fliehen vor dem Elfenkonig Oberon

Stünde "Der Nachtmahr" am Beginn des Parcours und nicht an seinem Ende, das Gemälde schlüge in seiner Dunkelto- nigkeit und düsteren Stimmung den passenden Ton zu den übrigen Gemälden an. Viele dieser Bildschöpfungen haben als Schauplatz dunkel verschattete, anonyme Innenräume. Nicht wenige Szenen führen in Verliese, Grotten und Höhlen. Kaum einmal, dass die abgeschatteten Interieurs einen Blick nach draußen gewähren wie das Fenster in "Milton als Kind". Düster sind selbst viele Szenen im Freien, der Schauplatz ist meist in abendliches oder nächtliches Dunkel gehüllt. Eine wolkenverhangene Landschaft bei Dämmerung bildet die Bühne für den Rütli-Schwur, die Bilder zu Shakespeares "Sommernachtstraum" und Wielands "Oberon" spielen in Waldesdunkel.

Delirium, Wahnsinn, Tod 
Gänzlich im Vagen bleibt der nächtige Schauplatz von "Amor und Psyche" [s. o.]. Die Konstellation mit dem über die in seinen Armen schlafende Psyche gebeugten Liebesgott erinnert stark an die von "Nachtmahr". Ist der Schauplatz von Füsslis Bildern ein abstrahierter? Die Seele – Psyche – mit ihren inneren Dämonen? Als Künstler wie Dichter steht Füssli an der Schwelle der Klassik zur Romantik. Diese interessierte sich brennend nicht nur für die "Nachtseiten der Naturwissenschaft" (der Titel eines Buch des Naturphilosophen Gotthilf Heinrich Schubert), sondern auch für die des Individuums: für Phänomene wie Somnambulismus oder, lange vor Freud, das Unbewusste.
 Die Einsamkeit bei Tagesanbruch

Die literarischen Motive, zu denen Füssli greift, umkreisen nicht selten existenzielle Ausnahmezustände: Delirium, Wahnsinn, Tod. Auch die zahlreichen Szenen von Kampf, Bedrohung und Befreiung mögen Materialisationen seelischer Konflikte sein. Wenn sich bei Ovid Theseus und Ariadne mit dem Faden ins Labyrinth des Minotaurus vorwagen, tasten sie sich bei Füssli womöglich ins eigene Innere vor.

 Fallstaff im Wäschekorb 1792

Die Bilder sind großes und vorwiegend großformatiges Drama; nicht umsonst liebte Füssli Shakespeares Tragödien und Komödien. "Shakespeare der Leinwand" nannten sie den "wilden Schweizer" an der Themse. Füssli fährt Hexen und Helden, Kobolde und Höllenhunde auf, Skylla und Charybdis, die Migardschlange und andere Ungeheuer, nicht selten in Lebensgröße. Der eigentliche Held des Gemäldes "Oberon träufelt Blumensaft in die Augen der schlafenden Titania" nach Shakespeares "Sommernachtstraum" ist ein Kobold, der sich im Hintergrund diabolisch ins Fäustchen lacht. An Satan zeigt Füssli größeres Interesse als an Adam und Eva oder den himmlischen Heerscharen. Er vergegenwärtigt ihn in der Statur einer Heroengestalt in antiker Nacktheit. Dankbare Motive liefern ihm Sophokles und Vergil, das Nibelungenlied und die Edda – oder zeitgenössische Dichter wie William Cowper, Wieland oder Friedrich de La Motte Fouqué. Zu Miltons Versepos "Lost Paradise" entstehen 47 Bilder.

The Night-Hag Visiting Lapland Witches

Füssli liebe den "Thrill mit theatralen Mitteln", sagt Eva Reifert, die Kuratorin. Gegenüber den extremen Hell-Dunkel-Kontrasten und der dramatischen Gebärdensprache tritt die anatomische Richtigkeit gern in den Hintergrund. Mit Vorliebe greift Füssli Momente der Krise, der dramatischen Wendung, des Übergangs heraus; "mittlerer Augenblick" heißen sie ihm. Wobei seine reiche Vorstellungskraft jede naturgetreue Illustration überflutet. Vom "Elysium der Phantasie" spricht ein Aphorismus. Den Parcours beschließen Autorenbilder: Shakespeare als Säugling an der Brust der Allegorie der Tragödie. Oder der blinde, seiner Tochter diktierende Milton. "Ein bisschen brainy" nennt Reifert diese dem Genre "Der große Dichter als Kind" geschuldeten Gemälde.

Kunstmuseum Basel, St. Alban-Rheinweg 60, Basel. Bis 10. Februar, Di bis So 10–18 Uhr, Do bis 20 Uhr.

 Die drei Hexen 1783

Nota. - Ich habs schon öfter angemerkt: Guardi, Caspar Wolff, Thomas Jones, Vernet,  Wright of Derby und eben - Heinrich Füssli in England lassen mich daran zweifeln, dass die ironische, nachtseitige Romantik eine so spezifisch deutsche Angelegenheit ist, wie man meint (und auch mein merkwürdiges Faible für Fragonard findet hier einen Unterschlupf). Das forciert leichtsinnige Rokkoko konnte mit dem aufziehenden Aroma der Fäulnis des Ancien Régime seine Frivolität nicht mehr... nun ja, nicht mehr ganz ernstnehmen und musste ihr einen Spritzer von Gift und Galle beimengen; doch auch das noch ein wenig scherzhaft.
JE


Mittwoch, 12. September 2018

Johan Christian Dahl in Bergen.

aus Tagesspiegel.de, 12. 9. 2018                                                                                   Blick vom Lyshornet, 1836

Die Erfindung Norwegens

Er gilt als einer der größten Künstler seiner Heimat: Das norwegische Museum Bergen zeigt das Gesamtwerk des romantischen Malers Johan Christian Dahl.

von Bernhard Schulz

Dresdens Silhouette hebt sich dunkel gegen den nächtlichen Himmel ab. Hinter Wolken versteckt bricht der Mond kaum hervor, gießt aber sein silbriges Licht über die Wolken und spiegelt sich endlich in der Elbe, die das Licht wie ein metallener Spiegel zurückwirft.

So kann man die Ansichten beschreiben, die Johan Christian Dahl vom nächtlichen Dresden gemalt hat. Es war eines der erfolgreichsten Motive des norwegischen, in Elbflorenz ansässigen Malers; er hat es verschiedentlich variiert. So prangt denn auch die Version „Dresden im Mondschein“ von 1843 an der Wand des Kunstmuseums im norwegischen Bergen aus der eigenen Sammlung.

1843

Jetzt ist das Bild inmitten norwegischer Landschaften zu sehen. Das Museum in Bergen ist prädestiniert dafür, eine Retrospektive des Malers zu veranstalten, denn er ist 1788 als Sohn eines Fischers und Fährmanns in der westnorwegischen Hafenstadt geboren, und das Museum verwahrt große Teile des künstlerischen Nachlasses. Dahl allerdings verließ Bergen in jungen Jahren, um Maler zu werden und schließlich nach Dresden zu gehen, wo er 1857 denn auch starb.

Einer der größten Künstler Norwegens

In Dresden schloss er Freundschaft mit dem 14 Jahre älteren Caspar David Friedrich, beide wurden Mitglieder der Akademie, sie wohnten im selben Haus, Dahl oben, Friedrich darunter, und kommerziell war Dahl der erfolgreichere. Beide sind Romantiker, und doch zeigen sie innerhalb dieser Richtung, die mehr eine Haltung denn einen Stil bezeichnet, höchst unterschiedliche Temperamente.

Vesuv 1820

In Bergen begreift man, warum das wohl so sein musste; zumal wenn man zuvor ein wenig von der norwegischen Landschaft gesehen hat, die Dahl schließlich zu seinem Hauptgegenstand erkor.

Erst 1826 reiste Dahl nach Norwegen, und angesichts der heutigen Infrastruktur des Landes vermag man sich kaum vorzustellen, wie mühsam und aufwendig die Erkundung der Landschaft für Dahl gewesen sein muss. Er kehrte zu vier weiteren, ausgedehnten Reisen zurück und brachte all die Motive mit nach Dresden, gezeichnet und im Gedächtnis, aus denen er seine Landschaftskompositionen schuf.

„Die Kraft der Natur“ ist die Retrospektive überschrieben, und das Katalogvorwort preist Dahl als „einen der größten Künstler Norwegens mit einer bemerkenswerten Rolle in der europäischen Kunstgeschichte“. Anschließend kommen die Verfasser zur Sache, und das ist die der im frühen 19. Jahrhundert entstehenden norwegischen Nation (als Staat ist Norwegen erst seit 1905 souverän): „Viele Norweger sehnten sich nach einer wahrhaft nationalen Kunst von internationaler Bedeutung.“ Die eben lieferte Dahl, der zu Beginn seiner Laufbahn noch die übliche Italien-Tour absolviert und Ansichten aus dem Golf von Neapel mitgebracht hatte. Aber schon da interessierten ihn mehr die wilden Eruptionen des Vesuv.

 Die Bucht von Neapel mit Vesuv

Lust am Sensationellen

Die Bergener Ausstellung ist weitgehend thematisch sortiert. So kommt Dahls Lust am Sensationellen zum Vorschein. Eine ganze Abteilung ist Schiffsuntergängen und Wracks gewidmet. Heutigen Betrachtern, denen die Dramatik der Segelschifffahrt fern gerückt ist, imponieren weit stärker die Landschaften.

Dahl musste nichts erfinden, nichts überhöhen, um erhabene Landschaften im Sinne des Gegensatzpaares von Schönheit und Erhabenheit zu schaffen. Norwegen ist einfach so. Sturmgezauste Bäume, kahle Hochflächen, Schnee und Eis, das konnte Dahl auf seinen Reisen ausgiebig studieren. Immer wieder arrangierte er auf den Reisen sorgsam gezeichnete Detailstudien zu großen – nicht großformatigen – Kompositionen, sodass der Dresdner Malerkollege Carl Gustav Carus auf der Höhe von Dahls Ruhm missmutig „immer wieder dieselben Birken und Fichten und Felsen“ rügte. Dahl, und daran ist nichts Schlechtes, bediente seine wachsende Sammlerschar.

 
Was er nicht bediente, nicht malen konnte oder wollte, war die metaphysische Bedeutungsebene, wie sie Friedrich in nahezu allen seinen Bildern einzog. Romantisch ist bei Dahl der Gegenstand, die Landschaft, nicht aber die Aussage. Die transzendente Schwingung der Gemälde Friedrichs ist seine Sache nicht. Dahl verlangt nach keinem Jenseits.

Gebirge und Wolken verschmelzen

Kurator Knut Ormhaug, der die Ausstellung zusammengestellt und die meisten Katalogbeiträge verfasst hat, verweist auf die große Anzahl an Wolkenstudien, die Dahl – ähnlich dem englischen Zeitgenossen John Constable – immer wieder gemalt hat. Eine über und über mit den kleinformatigen Studien behängte Wand zeigt die Vielfalt dieser Bilder, die in ihrer Spontaneität und Frische dem heutigen Blick so sehr entsprechen.


Besonders eindrucksvoll sind die Gemälde, in denen Landschaft und Himmel, Gebirge und Wolken verschmelzen wie beim „Blick vom Lyshornet“, einer kahlen Bergkuppe nahe Bergen. Wasser gibt es in Norwegen reichlich, dafür sorgen Gebirge und Gletscher. Also hat Dahl zahlreiche sprudelnde Wildbäche und gischtende Wasserfälle gemalt und Zeitgenossen mit der Fähigkeit verblüfft, die Geschwindigkeit des Wassers präzise festzuhalten, wie es erst Jahrzehnte später der Kamera möglich wurde. Oft kommt das Licht dann seitwärts, wie beim „Hellefossen“ von 1836, wo sich die Stromschnellen des Flusses und die dahinjagenden Wolken entsprechen.

Dahl ganz bei sich

Nur hat Dahl nichts Metaphysisches im Sinn, vielmehr setzt er einen Fischer auf einem Steg klein hinzu, der mit ins Wasser gehängten Körben offenbar Lachse fangen will, während dem Schornstein eines bescheidenen Hauses am Ufer kräuselnder Rauch entsteigt. Auch die „Birke im Sturm“ von 1849 gibt kein Sinnbild des Lebens ab, sondern ist eine wunderbare Naturstudie; gemalt zu einer Zeit, da sich der Geschmack von der Dresdner Romantik ab- und dem Realismus der aufkommenden Düsseldorfer Akademie zuwandte.

Wolken bei Sonnenaufgang

Südwestnorwegens Landschaft ist rau, groß, erhaben mit einem Stich ins Sensationelle – mehr Ah und Oh statt stillen Staunens. Johan Christian Dahl hat ihr Ausdruck gegeben. Vor drei Jahren zeigten Dresdens Staatliche Kunstsammlungen Dahl zusammen mit Friedrich und bestätigten die kunsthistorische Rangfolge, die Friedrich nun einmal höher platziert. In Bergen aber ist Dahl nicht nur allein, sondern im Wortsinne ganz bei sich – bei sich und dem Land, dem er künstlerisch zu europäischer Geltung verhalf.

Bergen (Norwegen), KODE, bis 7. Oktober. Katalog auch in Englisch, 399 NOK

1841

Samstag, 8. September 2018

Wahrheit der Kunst.

Le Corbusier Ubu Panurage - No. 42

Wir haben die Kunst, damit wir nicht an der Wahrheit zugrunde gehn. 
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Nietzsche, Aus dem Nachlass der Achtziger Jahre, N° 19
[S. 831]  







Freitag, 31. August 2018

Eine Physik der Bilder.

aus FAZ.NET, 29. 8. 2018
Die Bilder des Pop-Art Künstlers Eduardo Paolozzi, die Anfang dieses Jahres in der Berlinischen Gallerie zu sehen waren, sind im kunsthistorischen Spektrum bei mittlerer Entropie und Komplexität anzusiedeln

Kann man Kunstgeschichte berechnen?
Das historische Verständnis der Malerei mag kompliziert erscheinen. Dabei kann man als Physiker die gesamte Kunstgeschichte anhand von nur zwei Zahlen verstehen. Eine Glosse.
  
Von Sibylle Anderl

Dass Naturwissenschaftler unter einem Ordnungstick leiden, kann als Antrieb für den wissenschaftlichen Fortschritt gelten. Denn obgleich die Welt uns oft als schreckliches Chaos erscheint, fügt sie sich doch glücklicherweise mit etwas Mühe in die geregelten Bahnen mathematisch beschreibbarer, allgemeiner Zusammenhänge. Ein bisschen Sortierarbeit, ein bisschen Interpretation, dann wird sich schon schnell offenbaren, welche tieferen Prinzipien sich hinter der vermeint- lichen Unordnung verstecken! Der unerschütterliche Glaube an den Erfolg der Methode scheint heute stärker denn je und macht auch nicht vor Gebieten halt, die naturwissenschaftlichen Betrachtungsweisen bislang eher fremd waren: In digita- lisierter Form kann man schließlich auch Dinge sortieren, die sich bislang quantitativen Methoden zu entziehen suchten.

Kunstwerke zum Beispiel. Die Physiker Higor Sigaki, Matjaž Perc und Haroldo Ribeiro haben sich in einer aktuellen „PNAS“-Studie 140 000 Gemälde von mehr als 2300 Künstlern aus dem Zeitraum zwischen 1031 und 2016 vorgenom- men, diese jeweils in kleine Gruppen von Pixeln zerlegt und dann deren Entropie und Komplexität bestimmt. Erstere beschreibt den Ordnungsgrad des Bildes: Ein Wert nahe 1 beschreibt eine zufällige Verteilung der Pixel, ein Wert bei null markiert wiederkehrende Muster. Letztere bezeichnet das Vorliegen von Strukturen: Sowohl völlige Ordnung als auch völlige Unordnung entsprechen einer geringen Komplexität des Bildes. Wenn man der Methode der Naturwissenschaftler folgt, wird demnach jedes Gemälde auf zwei Zahlenwerte reduziert und kann bequem mit anderen Gemälden verglichen werden.
„La Tour Eiffel“ von Georges Seurat in der Kunsthalle Schirn in Frankfurt am Main: Werke des Pointillismus bestechen durch weiche Kanten und wenig Ordnung.„La Tour Eiffel“ von Georges Seurat in der Kunsthalle Schirn in Frankfurt am Main: Werke des Pointillismus bestechen durch weiche Kanten und wenig Ordnung.
Nicht nur das: Die gesamte Kunstgeschichte wird dadurch als ebene Linie interpretierbar. Gemäß dieser Linie ist die Kunst bis zum 17. Jahrhundert im Durchschnitt sehr viel geordneter als die nachfolgende moderne Kunst bis zur Mitte des 20. Jahrhunderts. Ab 1950 wenden sich die Künstler der Gegenwartskunst dann aber wieder der Ordnung zu und übertreffen damit sogar ihre Vorgänger der Renaissance, des Neoklassizismus oder der Romantik. Auch in Hinsicht auf Komplexität ist in der Gegenwartskunst, die vor klaren Kanten nicht zurückschreckt, deutlich mehr zu holen als etwa in den verwaschenen Bildern des Impressionismus. „Jede Kunstperiode ist durch einen bestimmten Grad von Entropie und Komplexität ausgezeichnet“, so das Fazit der Wissenschaftler. Da freut sich jeder Zahlenfreund.

Noch glücklicher wäre man jedoch, wenn sich auch noch ein allgemeines Gesetz fände, das uns die historische Entwick- lung der Kunststile erklären kann. Den Autoren des Papers schwebt etwas vor, wie es qualitativ bereits vor rund hundert Jahren vom Schweizer Kunsthistoriker Heinrich Wölfflin formuliert wurde: die Kunstgeschichte als zyklische Bewegung zwischen linearen und malerischen Darstellungsperioden. Die vorgestellte Entropie-Komplexitäts-Kurve könne solch eine Entwicklung projiziert abbilden, so die Autoren. Wenn man sich die Kurve anschaut, muss man allerdings feststellen: Schön ist sie nicht. Zyklisch auch nicht. Als Naturwissenschaftler hat man da eigentlich höhere Standards. Und muss wohl eingestehen: Kunst ist und bleibt im Kern unordentlich.


Nota. - Eine Betrachtung von Kunstepochen und Kunstrichtung nach dem Kriterium von Ordnung und Unordnung, gerin- ger oder großer Komplexität ist gar nicht unsinnig. Immerhin sind es Kriterien, die keinen unmittelbaren Zusammenhang mit sachlich-thematischen Gesichtspunkten haben; aber einen mittelbaren womöglich doch? Wobei man freilich zu be- denken hat, dass Ordnung und Unordnung im physikalischen Sinn - nämlich im Sinn derThermodynamik - fast das Ge- genteil bedeuten wie im Alltagsverstand. Dass "im Mittel" die mittlere Komplexität den Standard ausmacht, ist als Infor- mation nicht neu; also keine. Interessant ist dagegen der Grad der Abweichung bei den Einen und den Andern. Da mag man sich hier und da fragen, ob rein ästhetische Gegebenheiten unter diesen oder jenen historisch gegebenen subjektiven Bedingungen womöglich über das Reinästhetische hinaus weisen.

Doch quantifizieren lässt sich immer nur nach vorab festgelegten Begriffen. Und da macht geordnet und ungeordnet eben den Unterschied von Ordentlich und Unordentlich aus. Auch Wölfflins ästhetische Kategorien, die, grob gesagt, zwi- schen klassizistisch und expressiv unterscheiden, sind meta-ästhetisch; oder hypo-ästetisch, wenn man will. Das logische Problem ist abere immer, dass die Begriffe, nach denen quantifiziert wird, in aller Regel selber schon außerästhetisch wertend eingefärbt sind.

Wir sehen es am zweiten angeführten Bildbeispielen deutllich. "Weiche Kanten und wenig Ordnung" heißte es da. Tat- sächlich ist kein zweiter Maler so 'anästhetisch' schematisierend vorgegangen wie Seurat. In pedantischer Fleißarbeit hat er seine malerischen Entwürfe in präzise Punkte aufgelöst und nicht gezögert, seinen Impressionismus einen wissen- schaftlichen zu nennen, was der unbefangene Laie für ein Paradox hält.

Es hat wohl die Anwendung quantifizierender Methoden auf die bildende Kunst einen Sinn. Aber nur, wenn sie nicht von Physikern angewendet werden; sondern von Ästhetikern, die wissen, dass im ästhetischen Bereich nicht Begriffe, son- dern Anschauungen angezeigt sind. Wie aufgrund derer aber abgegrenzt und sortiert werden soll, wäre selber ein künst- lerisches Problem.
JE