Der disegno (ital., Zeichnung) umfasst nicht nur die reine Zeichnung, er beinhaltet vielmehr das Konzept eines Kunstwerks. Dieses ist – so die damalige Auffassung – von Gott gegeben und entsteht im Kopf des Künstlers. Die Linien der Zeichnung verleihen demnach der außergewöhnlichen Begabung des Künstlers sichtbaren Ausdruck. Laut Giorgio Vasari, dem Florentiner Kunsttheoretiker, ist Michelangelo der unangefochtene Meister des disegno. Vasari spricht dem colorito (ital., Farbigkeit) hingegen eine geringere Bedeutung zu. Er erklärt, die Farbe sei nur oberflächliche Zutat zu einem Kunstwerk. Vasari behauptet, die Figuren in Tizians Gemälden seien schlecht gezeichnet. Und geht sogar noch einen Schritt weiter: Mit dem Einsatz von Farbe wolle Tizian über diesen Mangel hinwegtäuschen. In Venedig bezieht Tizians Freund Lodovico Dolce Position in der Debatte. Der Schriftsteller und Theoretiker erwidert, dass Tizian meisterhaft zeichne. Außerdem hauche er Gemälden mit seinen Farben Lebendigkeit ein!
Ludovico Dolce, Dialogo della pittura di M. Lodovico Dolce, intitolato l'Aretino, 1557
Nota. - Ganz so Unrecht hatte Vasari nicht. Insbesondere heißt Zeichnung Umriss.Und ohne den keine Per- spektive. Beide zusammen machen die Körperlichkeit, eigentlich: die Gegenständlichkeit der Gegenstände aus. Das war die große Errungenschaft der Renaissance gewesen. Bei Tizian weicht sie auf. Die Umrisse ver- schwimmen (seit Raffael) und die Perspektive verliert sich im Ungefähr. Das ist das Charakteristikum des Manierismus, dem Tizian ein Bresche geschlagen hat. Doch Vasari war selber ein Wegbereiter des Manieris- mus. Er hat sich bloß nicht soviel getraut wie Tizian; von Tintoretto ganz zu schweigen.
JE
Vasari, Perseus und Andromeda
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