Dienstag, 26. März 2019

Beruht die gegenwärtige Renaissance-Begeisterung auf einem Missverständnis?

Andacht im Museum. Blick in die Renaissance-Ausstellung im Frankfurter Städel, die noch bis zum 26. Mai zu sehen ist.
aus Tagesspiegel.de, 25.03.2019                                       Renaissance-Ausstellung im Frankfurter Städel; noch bis zum 26. Ma

Publikumsmagnet Renaissancekunst
Verweilen in der Sturmzeit
Ob in Berlin, Frankfurt, London oder Mailand: Die Renaissancekunst ist gerade mächtig en vogue. Doch ihre Beliebtheit beruht auf einem Missverständnis.

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Stolz steht der Mann am Fenster, im dunklen Gewand der Wohlhabenden und Mächtigen, eine Persönlichkeit von Rang. Alvise Gradignan della Scala war Farbenhändler, Besitzer eines Geschäfts für Künstlerbedarf – ein in Venedig damals hoch geachteter Beruf. Tizian hat seinen Lieferanten 1561/62 großformatig porträtiert; Hommage an eine Branche, der die venezianische Malerei viel verdankt.

Das internationale Handelszentrum in der Lagune war ein Umschlagplatz für Pigmente. Venedig hatte die besten Farben, sie wurden eingesetzt in der Glasindustrie und bei den Textilien. Venedig produzierte Luxusgüter, und davon profitierten seine Maler. Sie saßen an der Quelle. Tizians Bild des Alvise Gradignan mit dem Pigmentengefäß auf dem Fenstersims, sonst in der Galerie der Alten Meister in Dresden zuhause, hängt derzeit im Frankfurter Städel – als bedeutendes Beweisstück für die Ausstellung „Tizian und die Renaissance in Venedig“.

Tizian, Bildnis des Farbenhändlers Alvise Gradignan dalla Scala, um 1561-62 

Ein Gütesiegel wie kein zweites 

Die Renaissance verleitet zu Rekorden, macht Museumsdirektoren und Besucher glücklich. Über zwanzig Werke von Tizian sind in Frankfurt jetzt zu sehen, so viele wie noch nie zuvor in Deutschland, betont das Museum. Und natürlich auch Bilder von Tintoretto, Veronese, Sebastiano del Piombo, Jacopo Bassano und Lorenzo Lotto, darunter seine radikal-freche, in hellem Blau und Weiß strahlenden „Judith mit dem Haupt des Holofernes“ aus der Sammlung einer römischen Bank.

Lorenzo Lotto, Judith mit dem Haupt des Holofernes 

Mitte Februar hat die Schau im Städel eröffnet, kurz zuvor ging in der Alten Pinakothek in München die Präsentation „Florenz und seine Maler. Von Giotto bis Leonardo da Vinci“ zu Ende. Lorenzo Lotto widmeten der Prado in Madrid und die National Gallery London im vergangenen Jahr eine wunderbare Porträt-Ausstellung. Die Berliner Gemäldegalerie erfreut sich an „Mantegna und Bellini“, wiederum in Zusammenarbeit mit London. Die Liste lässt sich fortsetzen. 2018 war Tintorettos 500. Geburtstag, Venedig ehrte seinen Maler vor allem mit einer großen Ausstellung im Dogenpalast. 2019 wird das Leonardo-Jahr, mit da Vincis 500. Todestag. Großer Auftritt für Mailand. Renaissance geht immer.

Unbekannter Kopist, Mona Lisa nach Leonardo

Gern erinnert man sich an die fabelhafte Versammlung der „Gesichter der Renaissance“ 2009 im Berliner Bode-Museum. Auch die jüngsten Ausstellungen, ob Frankfurt, München oder Berlin, zeichnen sich durch hohe und höchste Qualität aus. Die italienische Renaissancemalerei ist ein Gütesiegel wie kein zweites auf dem Marktplatz der Museen, ein Publikumsmagnet wie das überlaufene Venedig, das neuerdings von Tagestouristen Eintritt nimmt.

Das Kunsterlebnis bietet Teilhabe an

Erleben wir eine Renaissance der Renaissance? Das mag übertrieben sein, und es dreht sich auch um einen sehr großen Zeitraum, grob um das 14. bis 16. Jahrhundert, von einem einheitlichen Stil kann da gar nicht die Rede sein. Aber die Beliebtheit der „Wiedergeburt“, die eigentlich ein kompletter Neustart in die Moderne ist, keine Wiederholung der Antike, fällt auf. Drei Gründe könnte es dafür geben. Es sind Phänomene und Probleme einer permanent expandierenden, heiß- und leerlaufenden Kunstwelt.

 Giotto, Aus d. Franziskus-Zyklus

Das erste ist die mit die Zunahme der Biennalen verbundene Politisierung des Ausstellungsbetriebs. Biennale-Kunst ist in der Regel für oder gegen etwas engagiert, demnächst wohl wieder in Venedig. Kunst bietet freien und geschützten öffentlichen Raum, als Plattform sozialen Austauschs angesichts multipler Bedrohungsszenarien. Dann aber auch häufig: als platte Form.

Nach all den ästhetischen Umwälzungen des 20. Jahrhunderts wenden sich viele Künstler direkt einer gesellschaftspolitischen Agenda zu, meist den Erscheinungsformen der Globalisierung. Die Arbeiten bekommen dadurch etwas Journalistisches, im besten Fall zupackend Aktuelles. Nicht anders im Theater: Bildende Kunst und darstellende Kunst praktizieren das Ein- und auch Übergriffige, das Kunsterlebnis bietet Teilhabe an, mit dem Gestus angewandter Soziologie.

Damien Hirst «Hydra und Kali» aus «Treasures from the Wreck of the Unbelievable», 2017

Eine große Lust auf das Schöne

Da wirkt ein Saal mit Renaissancegemälden wie eine Befreiung, ja Erlösung. Das Martyrium eines Heiligen Sebastian ist schmerzfrei spektakulär. Für uns heute steht das exzellente Handwerk, die venezianische Farbe, der florentiner Disegno, das malerische Genie im Vordergrund, die religiösen Sujets treten dahinter zurück. Man kann sich satt sehen, es tut gut, das Prachtkostüm eines Veronese-Porträts mit den Augen abzutasten. Es gibt wieder – wenn sie denn je abhandengekommen war – eine große Lust auf das Schöne, das in der zeitgenössisch-installativen Kunst kaum Platz hat. Die Renaissance feiert den Menschen als Individuum, zelebriert die Intimität der Körper, betont Intelligenz und Autonomie. Die Kirchenmotive wandern in die Mythologie. Und es zählt strahlend sichtbar der Einzelne, nicht der Schwarm.

Botticelli, Selbst

Nur: Wie oft haben diese Maler das Schreckliche dargestellt, die Vergewaltigung der Lukrezia zum Beispiel. An ihrer Geschichte, ihrem Selbstmord aus Scham und Schande ist nichts Schönes. Und wurde sie nicht auch deshalb so oft gemalt, weil Künstler wie Betrachter sich an ihrem Anblick erregen können? Oder Tizians Doge Francesco Venier: todkrank der alte Mann, im Hintergrund stehen venezianische Besitztümer in Flammen, es herrscht Krieg.

Tizian, Bildnis des Dogen Francesco Venier, 1554–56

Man kann das alles sehen und wissen, man muss aber nicht darauf eingehen. Darin liegt der Vorteil, die Ambivalenz der Alten Meister. Sie dürfen unverständlich sein im Detail. Um einen Tintoretto zu bewundern, muss man die Zusammenhänge nicht kennen. Natürlich war auch die Malerei der Renaissance in Venedig, Florenz oder Rom ein Politikum, ein riesengroßes Geschäft. Und Tintoretto ein harter Geschäftsmann. In der zeitlichen Distanz aber wird das zu Künstleradel.

Der zweite Grund der häufigen und gerade wieder sehr großen Renaissance-Begeisterung liegt in der Natur der Materie. Mantegna und Bellini in Berlin, Tizian in Frankfurt, das sind Museen auf Zeit, vorübergehend umsortierte, ergänzte ständige Sammlungen, die frische Neugier wecken. Das Vorhandene wird neu gesehen und wiederentdeckt. Glanzpunkt- Ausstellungen wie „Mantegna und Bellini“ sind immer auch nur Ausschnitte eines kaum zu überblickenden Gesamtgeschehens. Und in diesem Fall auch eine Familienzusammenführung – die beiden Maler waren verschwägert.

Bellini (nach Mantegna), Darbietung Christi im Tempel

Die Renaissance war von technischen Umwälzungen geprägt

Man glaubt ja nur, diese Maler und ihre Bilder zu kennen. Doch selbst in der Renaissance (oder gerade dort) trifft das nicht zu. Lorenzo Lotto war lange unterschätzt, gehört immer noch nicht zu den ganz „Großen“, wieso auch immer. Im Städel ist Jacopo Bassano kennenzulernen, ein mit dunklen Farben experimentierender Maler der Spätrenaissance. In der Berliner Gemäldegalerie hängen jetzt drei riesige Mantegnas aus dem Zyklus von Cäsars Triumphzug, die man sonst nicht so leicht sieht.

Geschicktes Labeling hilft auch. „Utrecht, Caravaggio und Europa“: In der niederländischen Stadt geht an diesem Sonntag eine Ausstellung zu Ende, die diverse Reizbegriffe vereint. Es ist eher die Zeit der Nach-Renaissance, aber auch hier gilt: Das Vergangene hat eine magische Leuchtkraft, wenn sich eine der heutigen Kunst anscheinend überlegene Meisterschaft mit Mythos verbindet.

Jacopo Bassano, Pastorale Szene, um 1560

Und drittens schließlich war die Renaissance stark von technischen Umwälzungen geprägt, von universellen Entdeckungen. Kolumbus ist soeben aus Amerika zurück. Die Portugiesen tauchen in Brasilien auf und gründeten ein – kurzlebiges – Weltreich. Laut Wikipedia erscheint im Jahr 1500 die erste europäische Straßenkarte (nach Rom), zum ersten Mal wird eine Frau per Kaiserschnitt entbunden. Da Vinci hat in Mailand da gerade das „Abendmahl“ geschaffen und davor Flugapparate skizziert. 1453 erobern die Türken Konstantinopel, 1512 stellt Kopernikus das Weltbild klar: Die Sonne steht im Zentrum.

Die Werke des rinascimento künden nicht von Chaos

Wenn man bei diesen Daten ein angenehmes Schaudern empfindet, dann hat es mit einer vielleicht auch nur eingebildeten zeitlichen Verwandtschaft zu tun. Im Wunderreich der Renaissance findet sich ungeheuer viel, das an das Heute erinnert, an Aufbruch, Weltfindung, exemplarischen technischen Fortschritt.

Botticelli, Die Versuchung Christi, 1482

Der Unterschied ist: Die Werke des rinascimento künden nicht von Chaos, sie atmen Ordnung und Symmetrie. Die Werke der Renaissancemaler zeigen, im wörtlichen Sinn, Perspektive. Sie verheißen einen guten Ausgang – in unseren Augen. Sie wirken optimistisch und kraftvoll angesichts der revolutionären Neuerungen, die sie abbilden und von denen sie ein Teil sind. Auch damals raste die Geschichte, doch in den digitalen Bildertornados des 21. Jahrhunderts laden diese Zeugnisse einer früheren Sturmzeit zum erholsamen Verweilen ein.

Die Welt anno 2019 fürchtet sich vor wissenschaftlichem Fortschritt, vor KI und Genmanipulation und weiteren radikalen Entdeckungen. Die Renaissancekunst, Produkt einer extrem unruhigen, ungeduldigen Epoche, übt jetzt merkwürdigerweise eine beruhigende Wirkung aus, zumal im Schutzraum der öffentlichen Museen, die in der Renaissance so noch nicht erfunden waren. Ein brodelnder Vulkan, der uns wie ein Anleitung zur Meditation erscheint, fast die perfekte organisierte Welt: Darin liegt ein grandioses Missverständnis.

Giorgione - Tizian, Concerto campestre

Nota. - Renaissance geht immer? Vor hundert Jahren war sie in Europa unpopulär, da schätzte mn mehr das Unebene, Krasse und Expressive. Die hatten eine wahre Krise noch nicht ganz hinter sich - und keine gefühlte noch vor sich.

Doch gehen die Kunstfreunde aus historischem Interesse in die Ausstellung - ich meine die Zehntausende, auf die heutzutage gerechnet wird?

Ich glaube, das Interesse hat doch mehr ästhetische Gründe, und zwar recht elementare. Mir selber war in jungen Jahren alles, was aus der Renaissance stammte, zu rund und zu glatt; zu positiv, würde ich heute sagen: zu eindeutig in der Aussage. Im Lauf der Zeit habe ich wachsenden Gefallen an der Landschaftsmalerei gefunden: die war ohne Aussage. Über Turner und Corot zog es mich zur Abstraktion, schließlich habe ich mich auch gerne unter den Modernen umgetan.

Und was soll ich sagen - seit gut zehn Jahren sehe ich mit zunehmenden Interess Renaissance-Malerei an. Wie das große Publikum. Vielleicht nicht wie das ganz große Publikum, aber ein bisschen schon.

Seit einem Jahrhundert belästigt einen Jeden, der sich mit der Kunst seiner Zeit abgibt, die heimliche, aber stichelnde Frage: Ist das denn noch Kunst? Je gebildeter er ist, um so überlegener schiebt er sie beiseite und behält doch das Gefühl, immer irgendwas rechtfertigen zu sollen. Das ist gut so, sage ich mir, damit hat die Schöne Kunst endlich zu ihrer Bestimmung gefunden. Aber ich sage mir auch: Auf die Dauer ist das hohl. Es dreht sich im Kreis. Es kommt zu keinem Ergebnis. Denn wohlgemerkt: Wenn die Kunst endgültig den Punkt errreichte, an den sie gehört und der ihre Berechtigung ausmacht - und wenn folglich alle so malten: Dann wäre die Kunst zu Ende.

Allerdings: Wenn die Kunst schließlich nur noch sich selbst zum Thema hat, weil sie alle anderen erschöpft hat, dann - ist sie auch zu Ende. Ästhetisch ist sie jedenfalls unproduktiv geworden.

Es ist ganz in der Ordnung, wenn das Interesse sich wieder den Anfängen zuwendet. Den Anfängen nämlich, als Kunst zur Kunst geworden ist: nicht länger ein Medium der Propaganda fide, sondern eine Tätigkeit aus eigenem Recht. Positiv, dass die Schwarte kracht. Bar jeden Zweifels an der eigenen Bestimmung: Schönheit und Natürlichkeit! Damit fing es an. Dem darf man sich vorbehaltlos hingeben, das wirft nach allem Augenschein keine Fragen auf, da kann man Ruhe finden.

Natürlich ist das auch eine höhere Form von Kitsch. (In jungen Jahren kam mir die Renaissance überhaupt kitschig vor, kitschiger als das krassere Barock.) Aber eben eine höhere: Sie hat die Ermattung und Erschöpfung DER KUNST hinter sich und kann es nicht vergessen, auch wenn sie es wollte, dass sich das Ganze schließlich doch in Selbstgefallen auflösen wird.
JE

  Jeff Koons


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