Da ist Schiller eine geniale Formulierung geglückt. Nicht dass damit das Rätsel gelöst wäre; aber es ist erschöpfend umschrieben: Schön ist das Ding, das erscheint, als ob und wie es an sich selber wäre, ohne Rücksicht auf etwas außer ihm.
'An sich' ist keine positive Bestimmung, sondern eine negative – das, was übrig bleibt, wenn man Etwas ohne irgendein Verhältnis zu etwas anderem vorstellt. Namentlich ohne das Verhältnis eines betrachtenden Subjekts. Also ohne alle Attribute, die ein Subjekt ihm aus eigenem Vermögen zuschreiben könnte. In den Verhältnissen der Dinge zu anderem ist ihr Wie bezeichnet. Ohne diese bleibt allein ein Was.
Ein Ding, das kein Verhältnis zu einem Subjekt hat, 'kommt nicht vor'. Es kann lediglich in der Reflexion gedacht werden, indem ich mir alle Bestimmungen=Relationen, die ich von ihm weiß, von ihm wegdenke. Das Schöne kann also keine Naturgegebenheit des Menschengemüts sein. Es ist eine in die Anschauung nachträglich hineingetragene Reflexionsbe- stimmung. Und das ist das Mysterium: Die Reflexion tritt in die Anschauung ein. Das geschieht im Geist und seinen Konfigurationen und nicht durch die Affizierung der Sinne.
Die ersten archäologisch dokumentierten Zeugnisse ästhetischer Aufmerksamkeit des Menschen sind einfache farbige Verzierungen auf Töpfergut. Sie entsprechen keinem materialen oder – wie die Höhlenmalereien – magischen Zweck. Sie sind "um ihrer selbst willen" da. Es bedarf eines gewaltigen kulturgeschichtlichen Vorlaufs, ehe zwischen der praktischen Nützlichkeit eines Dings und einem 'Um seiner selbst willen' unterschieden werden kann. Soweit unterschieden jedenfalls, dass es zum Anlass für eigene Tätigkeit wurde. Vorgestellt werden musste die Unterscheidung deswegen noch nicht.
Der Übergang von den einzelnen Zieraten, die gefallen, zu einer Idee 'des Schönen' selbst geschieht nicht gleitend und ganz von selbst; es war ein Sprung. Die Spuren erkennt man noch an den umständlichen Windungen in Platos Dialogen. Geläufig wurde die Vorstellung, es gäbe Schönheit nicht nur an den Dingen, sondern über ihnen als ihr Maß und ihre Bestimmung, erst in der Renaissance. Heute ist sie ein Volksvorurteil, wie auch der Glaube an die Existenz der Dinge an sich.
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Frei in seiner Erscheinung ist das Ding, wenn an ihm menschliche Zweckbestimmung nicht mehr erkennbar ist. Und schon gar nicht die Arbeit, die jenen Zwecken diente. Nichts Forciertes, dem man die Anstrengung der zweckmäßigen Tätigkeit ansieht, ist schön. Es kann staunen machen, wie die Darbietungen der Akrobaten unterm Zirkuszelt oder die gezierten Posen des klassischen Balletts. Die schwere Arbeit merkt man ihnen an, und wenn sie noch so geschmeidig antrainiert sind; nicht zu reden vom Koloratursopran. Das erscheint nicht frei, sondern fleißig geübt.
Das unterscheidet auch – material, wenn ich so sagen darf – den Kitsch von der Kunst. Der Kitsch wäre schön, wenn man ihm nicht ansähe, wie angestrengt seine Schönheit gewollt wurde; das macht ihn vielmehr lächerlich. Allerdings sieht es ihm nicht jeder an, und daher liegt der Streit über Kitsch und Kunst in der Natur der Sache.
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Das ist nicht zu verwechseln mit der Unterscheidung zwischen Künstlichem und Natürlichem. Das Natürliche ist dann schön, wenn es so aussieht, als sei es von einer schöpferischen Absicht, das heißt: mit Kunst erschaffen worden. Und zugleich war das Künstliche nur dann schön, wenn es 'wie Natur' aussah – jedenfalls seit der Renaissance; und bis ins späte Rokoko, bis in Kants Zeiten. Ab da konnte man an einem Kunstwerk, wie etwa der Musik Bachs, die "zu große Kunst", nämlich Künstlichkeit bemängeln.
Natur ist hier (natürlich) in einem unwissenschaftlichen, emphatischen Sinn aufgefasst – als Schöpfung, als erstes und endgültiges, alles Einzelne übergreifendes und relativierendes Gesamtkunstwerk.
Hervorgegangen sehr wohl aus der Absicht eines Schöpfers; die man dem Werk aber nicht ansehen kann, weil sie notorisch unergründlich ist. Was darüber hinaus geht und als menschliche Zutat kenntlich ist, gewinnt einen Zug des Lästerlichen und Lächerlichen. Seit der Romantik mag sich der Geschmack indes am Unergründlichen nicht mehr beruhigen und seinen Frieden finden; es provoziert und wird zum Rätsel. Zu Kunst wird ein Werk, sobald es an dem Rätsel Teil zu haben scheint.
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Es ist schließlich nicht zu übersehen, dass dem Gedanken der Freiheit in der Erscheinung die letzten Endes animistische Vorstellung von den Entelechien zu Grunde liegt, die wie eine Seele den Dingen innewohnen und sie dazu treiben, genau so zu erscheinen, wie sie eben erscheinen 'sollen'. Das ist eine uralte, noch aus unserer steinzeitlichen Vergangenheit als Jäger und Sammler stammende Vorstellung.
Aber eben eine Vorstellung und keine Anschauung. Ein Bild, kein Abbild. Es ist ganz irreführend, allein wegen der Etymologie das Ästhetische als eine Angelegenheit der bloßen Sinnesreize einem 'unteren' Erkenntnisvermögen zuzuordnen. Es beruht vielmehr auf einer Leistung – einer Meister-Leistung – der menschlichen Einbildungskraft: der Ein-Bildung, dass den Erscheinungen ein Wesen, den Dingen eine Bedeutung zukomme. Das Ästhetische ist der Elementarakt, in dem die Vernunft 'sich selbst setzt'. Freiheit in der Erscheinung ist die zur Anschauung gelangte Idee von einer erfüllten Bestimmung. Schönheit ist das Urbild des Vollkommenen.
•Mai 19, 2010
Nota.Das obige Foto gehört mit nicht, ich habe es im Internet gefunden. Wenn Sie der Eigentümer sind und seine Verwendung an dieser Stelle nicht wünschen, bitte ich um Nachricht auf diesem Blog. JE
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